Das Schweigen im Koffer

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Das Schweigen im Koffer
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Nuran Joerißen

DAS SCHWEIGEN IM KOFFER

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Karl-Heinz Hamacher

www.foto-hamacher.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Ich scheitere,

ich scheitere vor der Intensität der Wirklichkeit.

Lässt mich hassen

die Realität,

wenn ich sie nicht ändern kann.

In die Knie zwingt sie mich

das Leben!

Fordert Demut,

ohne mich zu demütigen.

Fordert Würde,

ohne mich zu entwürdigen.

Fordert von mir Mensch zu sein.

(Nuran Joerißen)

Für Barbara Petri-Trienekens

Vorwort

Schweigen!

Was passiert mit uns wenn wir das Wort „Schweigen“ hören?

Welche Bilder begleiten oder verfolgen uns dabei und was löst es in uns aus?

Ich denke, dass jede einzelne Antwort auf diese Fragen ein Teil unserer eigenen Biografie nach sich zieht, mit der wir eine Verbindung herstellen.

Wie es ein arabisches Sprichwort auf den Punkt bringt, sollte sicherlich das, was wir sagen einen höheren Sinn haben.

„Wenn Du redest, dann muss Deine Rede besser sein, als Dein Schweigen gewesen wäre.“

Dennoch sollten wir immer dazu neigen, das Schweigen im Kontext von Ereignissen und Auswirkungen zu sehen.

Solche und ähnliche Fragen, haben wir uns jeden Monat als die „Morgenlandfahrer“ in einem Wohnzimmer in Duisburg gestellt, woraus ich schöpfen konnte und letzten Endes den Mut fand dieses Buch zu veröffentlichen.

Danke Euch dafür!

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

Das Schweigen im Koffer

Quellen

Zitat

Fußnoten

Die Sonnenstrahlen, die unaufhaltsam und zielsicher die Fensterscheibe durchdringen, erfüllen ihren Auftrag, Selma dazu zu bringen, ihre Augen zu öffnen.

Heute braucht sie sich nicht zu beeilen. Als sie diesen Gedanken weiterspinnt, spürt sie eine beruhigende Gelassenheit in ihrem ganzen Körper, die ihr die Sicherheit gibt, dass sie einem ganz neuen Abschnitt ihres Lebens entgegenblickt, den sie noch nicht genau bestimmen kann. Aber im Innern nimmt sie eine kribbelnde Erregung wahr, die sie vom Gefühl des Verliebtseins her kennt.

Damit sie dieses Gefühl in seiner vollen Lebendigkeit noch etwas länger erleben kann, verzögert sie unwillkürlich das Aufstehen, bis die Stimme ihrer Mutter dem Ganzen ein Ende setzt und Selma, etwas enttäuscht darüber, die Bettdecke mit den Füßen von sich tritt und lang ausgestreckt auf ihrem Bett liegen bleibt.

Ihr erster Gedanke gilt dem merkwürdigen Brief, den ihr Vater Kadir einen Tag zuvor erhalten hat.

Selma hat den Eindruck, als hätte ihr Vater erahnt, dass dieser Brief bereits existiert hatte, bevor er ihn mit beiden Händen festhalten konnte. Sein Dasein erlaubte ihm, den Namen des Absenders immer wieder zu suchen, während er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Als nun ihre Mutter zum zweiten Mal ruft, steht Selma auf. Auf ein drittes Mal will sie es nicht ankommen lassen. Sie war vor einigen Jahren aus diesem Haus ausgezogen und ist jetzt nur Gast in ihrem alten Zimmer, das sie bis zu ihrem Abitur bewohnt hat. Auch, wenn ihr vieles sehr vertraut ist, wird es von einer Minute zur nächsten fremd, sodass sie den Raum nach und nach wieder zurückerobern muss. Es entsteht eine befremdliche Nähe zu allen Gegenständen, die sich im Raum befinden. Nicht, dass sich das Mobiliar verändert hätte, nein, die Dinge an sich hatten sich verändert. Alles andere ist wie immer. So wie der große, kindlich verzierte Kleiderschrank aus Fichtenholz mit der passenden Frisierkommode und dem Spiegel, die seit Jahren an der gleichen Stelle stehen.

Nur das Bett, in seiner Schlichtheit, fällt aus der Reihe.

Nach langem Ringen steht Selma auf und geht in ihrem gestreiften Pyjama, der ihren zierlichen und nicht allzu großen Körper kleidet, ins Bad. Sie sieht in den Spiegel. Die Ränder unter ihren großen braunen Augen verraten ihr das Ausmaß der gestrigen Feier, die wohl nie zu Ende gehen wollte.

Wie immer sie es auch angestellt haben mag, am Frühstückstisch auf der Terrasse ist auch schon die letzte Müdigkeit aus ihrem Gesicht gewichen und hat einer Lebendigkeit Platz gemacht. In eigenartiger Ruhe beobachtet Selma ihre Mutter, wie sie dasitzt und ihren Kaffee trinkt.

In den Blicken ihrer Mutter versucht sie etwas ihr Vertrautes zu finden, das ihr das Gefühl von Verbundenheit zwischen ihnen geben soll. Auch dieses Mal gelingt ihr das nicht.

Selma sieht von der Terrasse aus in den großen Garten, bemerkt die Vielzahl der Vögel, die auf den Bäumen sitzen und singend die Stille der beiden unterbrechen.

„Wie war die Feier gestern?“, fragt die Mutter.

Selma hat viel zu lange auf diese Frage gewartet, als dass sie sich jetzt noch zurücknehmen will, und fängt an, mit vollem Elan, alles, was ihr wichtig ist, zu berichten. Die Augen ihrer Mutter glänzen, während sie wie ein Wasserfall erzählt, sodass Selma den Eindruck gewinnt, dass sie sich danach sehnt, am Leben ihrer Tochter teilzuhaben.

Schließlich sagt sie: „Du solltest dich mehr um dein Studium kümmern, statt dauernd nur ans Feiern zu denken.“

Die Stimme Selmas wird von Sekunde zu Sekunde dünner, während sie automatisch versucht, die restliche Lebendigkeit um jeden Preis zu erhalten, um sie nicht kampflos sterben zu lassen.

Innerlich entscheidet sich Selma, die Dinge, die für sie eine Bedeutung haben und ihr wichtig sind, der Mutter nicht mehr preiszugeben. Nickend stimmt sie daher ihrer Mutter zu und widmet sich ganz ihrem Frühstück.

Nach einigen Sekunden fällt ihr Blick auf ihre Mutter, wie diese ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, in Gedanken versunken, festhält, als würde sie ihre Hände an der Restwärme, die die Kaffeetasse noch bietet, wärmen.

Zu gerne wäre Selma ihrem inneren Impuls gefolgt und hätte ihre eigene Hand nach den Händen ihrer Mutter ausgestreckt. Sie löscht diesen Gedankengang, bevor sie ihn zu Ende denken kann.

Später fällt Selma der Brief ein, den der Vater einen Tag zuvor erhalten hat, und fragt danach. Die Mutter stutzt ein wenig und antwortet ganz zögerlich, dass der Brief ganz unwichtig sei und dass der Vater ihn zerrissen hätte.

Diese Aussage beantwortet Selmas Frage zwar nicht, dennoch signalisiert sie durch ein eher zögerliches Nicken, dass sie keine weiteren Fragen mehr stellen will.

Als die Mutter auf ihre Armbanduhr sieht, steht sie auf und macht sich auf den Weg zur Schule, an der sie seit Jahrzehnten als Lehrerin arbeitet. Weder für Selma noch für Can, ihrem jüngeren Bruder, ist es leicht, das Kind einer Lehrerin zu sein, die weiß, wie die Dinge richtig laufen müssen.

Selma stellt sich oft die Frage, was sie beide, außer der Tatsache, dass Selma aus ihrem Körper entstanden ist, wirklich verbindet.

Ihre Mutter wirkt oft, als hätte sie mit dem Akt des ›Gebärens‹ ihre Pflicht getan. Es ist die Pflicht, die man im Laufe eines Lebens erfüllen muss, um später darüber berichten zu können. Sie weiß immer, wie alles im Leben sein muss.

„Was willst du mehr? Ich habe dir das wichtigste Gut, das Leben, geschenkt“, würde sie Selma antworten, wenn Selma nach der Bedeutung ihrer Beziehung fragen würde.

Nach Selmas Geburt hatte sie eindeutig einen Schlusspunkt unter diese Beziehung gesetzt, ehe eine wirkliche entstehen konnte. Es war nicht nur die Nabelschnur, die durchtrennt wurde, sondern auch alles andere.

›Bahar‹ ist ihr Name.

Was für eine Leichtigkeit dieser Name doch in sich trägt!

›Bahar‹, der Frühling!

Für Selma ist der Name Bahar der Inbegriff des Lebens und der Lebendigkeit.

Ein Begriff für unendliche Offenheit und Freude am Leben. Vielleicht würde sie alle diese Dinge in ihrer Mutter noch entdecken. Vielleicht war bisher die Zeit dafür noch nicht da gewesen.

Selma sitzt noch einige Minuten auf der Terrasse und denkt über ihre Beziehung zu ihrer Mutter nach, die nie einfach war. Anschließend geht sie in das große Arbeitszimmer, das sie mit ihrem Vater, der als Architekt dauernd unterwegs ist, und ihrem jüngeren Bruder Can, teilt. Es ist ein großer, mit einem Glasfenster ausgestatteter, heller Raum.

 

Sie geht geradewegs auf den Arbeitsplatz ihres Vaters zu und setzt sich auf seinen großen, schwarzen Ledersessel. Sie spürt die Kälte des Leders und sieht auf dem Schreibtisch neben seiner alten, silbernen Taschenuhr das Familienfoto, das vor einigen Jahren aufgenommen wurde. Sie nimmt das Bild an sich und sieht es sich genau an. Wie viel jünger die Mutter gewesen sein mag? Sie hat nichts von ihrer Attraktivität verloren, denkt Selma.

Sie versucht sich diesen Moment, in dem das Bild gemacht worden ist, noch einmal vor ihrem inneren Auge vorzustellen.

Was war vor dem Bild und was war danach? Es gibt immer eine kurze Erinnerung vor der Bildaufnahme und eine kurze Erinnerung an das Danach, die dann eine Erinnerungskette bilden.

Später, wenn ihr die Bilder dann wie zufällig begegnen, fallen ihr die Erinnerungen wieder ein, die in jenem Moment ihr Leben ausmachten.

Nur, zu diesem Foto hat Selma keine Erinnerung mehr an das Davor und an das Danach. Sie sieht sich selbst auf dem Foto und fragt sich: „Wann habe ich mich zum ersten Mal selbst entdeckt, mich selbst wirklich entdeckt, mich auch von außen entdeckt? Wann war das, dass mir bewusst wurde, dass ich es bin, die den Befehl gibt, zu atmen, den Befehl gibt, die Hand auszustrecken, um nach etwas zu greifen? Wann war das, als ich begriff, dass „Ich“ es selbst bin, die den Füßen den Befehl gibt zu gehen? Wann war das, als ich mir selbst in die Augen blickte, im Spiegelbild mich selbst entdeckte?

Wann war das, als ich merkte, dass mein Mund Worte von sich gab, die mein Innerstes lange zuvor wusste? Nur: Wer wollte sie hören die Worte, die wichtigen Worte?

Als Selma das Familienfoto wieder an seinen Platz stellen will, fällt ihr Blick auf den Papierkorb des Vaters, in dem der geheimnisvolle Brief, zwar zerfetzt, aber dennoch zum Greifen nahe liegt. Selma ist erstarrt und sieht sich den Inhalt des Papierkorbes sekundenlang an. Sekunden, die ihr beinahe wie eine Ewigkeit vorkommen. Bis ihr bewusst wird, dass sie gerade etwas tun will, das in diesem Haus verboten ist.

Sie könnte ihren Füßen jetzt den Befehl geben aufzustehen, um zu ihrem eigenen Sitzplatz zu gehen. Sie könnte ihren Augen den Befehl geben jetzt wegzuschauen.

Sie könnte so tun, als gäbe es diesen Brief nicht und so tun, als würde der Brief nicht existieren. Ihre eigene Körperhaltung lässt sie spüren, wie ihre Neugier über sie hinauswächst, ein Eigenleben bildet, bis sie sich über Selma erhebt.

Wegsehen? Kann man überhaupt von etwas wegblicken, ohne vorher zu wissen, wovon man wegblicken soll? Und was ist danach, wenn man weiß, was man nicht sehen soll? Kann man dann so tun, als hätte man nie das erblickt, was die Augen längst gesehen haben?

Egal, wofür sich Selma entscheidet, im tiefsten Inneren spürt sie, dass die Situation etwas Neues erschaffen will, sodass neben der Neugier eine Angst entsteht vor dem, was das Neue mitbringt.

Selma streckt ihre rechte Hand zum Papierkorb aus, nimmt sich einige der Papierfetzen, legt sie auf dem Arbeitstisch aus und versucht, die noch lesbaren Satzfragmente zu entziffern. Zu klein ist dieser Teil des Briefes, um etwas Sinnvolles daraus zu entnehmen.

das Leben über mich triumphiert … Rätsel … zu lösen … Begegnung … Die Augen haben Erinnerungen, sehr lange zurückliegende Erinnerungen …

Langsam lehnt sie sich in den großen Sessel zurück und überlegt, was diese Worte sagen wollen.

Die Neugier! Sie ist wie ein Flächenbrand, der ohne Vorwarnung oder Vorankündigung ausbricht.

Die Neugier, sie trägt etwas Diabolisches in sich, das einem keine Ruhe mehr lässt, wenn man sich einmal auf den Weg des Verbotenen begeben hat.

Selma beugt sich über den Papierkorb, sucht nach weiteren Fragmenten, die ihre Neugier befriedigen sollen. Mit viel Fingerspitzengefühl trägt sie die einzelnen Teile, auf denen Buchstaben und Satzfetzen zu sehen sind, zusammen. Buchstaben und Wörter sind zerrissen, so zerrissen wie ihre Bedeutung.

Sie versucht dabei ihren Atem, den Wächter ihres Gewissens, der unregelmäßig und schneller wird, bewusst zu kontrollieren. Als sie die einzelnen Teile zusammenfügt, hält sie für eine kurze Zeit ihren Atem an, ihre Hände zittern, dabei kann sie nur einen sehr kleinen Abschnitt des Briefes zusammensetzen.

›Es sind meine Augen, die mich zur Erinnerung auffordern. Sehr lange zurückliegende Erinnerungen, die mir keine Ruhe lassen. Jedes Mal wühlt es mich auf, als stünde ich auf einer Bühne und spielte immerzu das gleiche Stück. Jedes Mal das gleiche Stück, das mich immer an der gleichen Stelle scheitern lässt, mich auf mein tiefstes Inneres zurückwirft, um mir zu zeigen, dass das Leben über mich triumphiert und mir keine Chance lässt, etwas Neues zu erschaffen, mich so lange in Gefangenschaft nimmt, bis das Rätsel, das mein Leben verschlingt, gelöst ist.‹

Regungslos sitzt Selma noch einige Sekunden gebeugt über diesen Sätzen und versucht sie zu verstehen. Aber was soll sie verstehen? Sie sucht im Papierkorb weiter, in der Hoffnung, mehr über den Absender zu erfahren.

Erfolglos! Wer ist dieser Mensch, der das Leben für sich so beschreibt? Welche Erinnerungen lassen ihm keine Ruhe. Soll das das Geheimnis des Lebens sein, zu erkennen, welche Rätsel uns im Leben begleiten und unserem Dasein zu Grunde liegen, um diese im Laufe des Lebens zu lösen? Was passiert mit uns, wenn wir diese nicht lösen oder gar sehen wollen? Was ist, wenn wir die Dinge hinter den Ereignissen nicht sehen können? Was dann?

Für Selma ist es unmöglich, die Mutter danach zu fragen, geschweige denn, mit dem Vater zu reden. Sie müsste zugeben, im Papierkorb herumgewühlt und die Papierschnipsel zusammengesetzt zu haben.

Was sollte sie dem Vater sagen: Eine höhere Gewalt namens Neugier hat mich verführt, in deinem Papierkorb zu wühlen oder: Ich wusste nicht, was ich da tat? Nein, das waren nur schlechte Ausreden!

Selma mischt die Papierschnipsel mit den anderen im Korb, geht anschließend zu ihrem eigenen Arbeitstisch und räumt ihren Platz eher mechanisch auf, ohne wirklich darauf zu achten, was sie macht, und denkt an die Zeilen, die sie zuvor gelesen hat. Welche Verbindung haben diese Sätze zu ihrem Vater? Selma braucht lange Zeit, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie mit niemandem über diesen Brief sprechen kann.

Später denkt sie an die langen Semesterferien, die nun vor ihr liegen.

Es müssen wohl einige Stunden vergangen sein, als Can die Haustür aufschließt und seine Anwesenheit nicht zu überhören ist.

Schnell rast er die Treppen hoch und fällt Selma in die Arme. Sie haben sich lange nicht gesehen. „Bleibst du die Semesterferien über hier bei uns?“, ist seine erste Frage.

„Nein“, antwortet Selma.

„Warum nicht? Arbeitest du auch diesmal mit deiner Freundin im asiatischen Imbiss?“

„Ja, natürlich. Du weißt auch warum. Ich will nicht von unserer Mutter abhängig sein und nach Geld fragen. Bitte Can, ich stehe kurz vor meinem Abschluss, bitte, versteh mich doch. Die Freiheit ist so nahe gerückt, dass ich bald nur noch die Hand danach auszustrecken brauche. Außerdem macht es mir so viel Spaß mit Maya zu arbeiten, mit der ich auch die gleichen Seminare an der gleichen Universität besuche.“

Can neigt seinen Blick auf den Boden, während er seine Schultasche ablegt. Mit nach vorn gebückter Haltung, resignierten Schritten, geht er an seinen Schreibtisch und setzt sich.

Dann sagt er: „Nur dieses eine Mal noch. Du weißt doch, wie schwierig es ist. Nur noch das eine Mal.“

Natürlich weiß Selma, wie schwierig es ist. Das, was den beiden fehlt, liegt einfach in der Luft und ist unsichtbar. Sie verfügen über alles, um im Leben bestehen zu können. Trotzdem wissen sie sofort, was der andere meint, wenn er über das unsichtbar Fehlende spricht.

Für eine Sekunde macht Selma die Augen zu und nickt zögerlich, aber entschieden. Sie weiß, worauf sie sich einlässt.

Sie geht zurück in ihr altes Zimmer, das ihr längst fremd geworden ist, sie geht zurück in alte Beziehungen. Sie sieht in das Gesicht ihres Bruders und blickt in das erleichterte Gesicht eines Sechzehnjährigen.

„Nur die nötigsten Sachen werde ich aus meiner Wohnung mitbringen“, wirft Selma energisch ein. „Eines sollten wir noch klar stellen: Wenn es mir zu viel wird, werde ich wieder in meine eigene Wohnung ziehen.“

Can nickt seiner Schwester sehr zufrieden mit einem nicht zu übersehenden Lächeln zu.

„Wenn du da bist, ist alles leichter zu ertragen“, hatte er vor einiger Zeit seiner Schwester gestanden. „Wenn du da bist, kann ich so sein wie ich bin.

Ich mache mir weniger Gedanken darüber, dass ich nicht verstanden werde. Manchmal weiß ich, dass ich anders bin als die anderen Jungen aus meiner Klasse, dann höre ich nur noch meinen Atem, weil ich nicht mehr denken kann.“

Selma hatte vorher nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, was ihn nicht denken lässt. Und jetzt? Auch jetzt hält sie etwas davon ab, ihn direkt zu fragen.

Also fragt sie erst einmal nach der Schule und seinen Freunden. Sie will wissen, was ihn anders sein lässt als die anderen Jungs aus seiner Klasse.

„Wie läuft es denn in der Schule, Can? Ich meine so im Unterricht?“

„Jaa, nun, ganz gut. In der Schule habe ich keine Probleme, das ist ja einfach dort.“

Can hat noch nie von einer Freundin erzählt, noch nie darüber berichtet, wie er das Herz einer „Frau“ erobern möchte. Und jetzt bemerkt Selma, dass sie genau danach fragen will. Sie hat vorher zu oft vermieden Fragen zu stellen nur aus dem Gefühl heraus, etwas zu erfahren, das nicht in die Lebens – Symmetrie der Eltern oder der Gesellschaft passt.

Die Lebens-Symmetrie, die beweisen soll, dass man auf der Seite der Normalität und der Schönheit des Lebens steht.

„Und was machen die Mädels? Wann stellst du mir mal deine Freundin vor, Can?“

„Ach! Selma! Ich habe keine Freundin. Ich will auch keine Freundin.“

Mit einer zornigen Bewegung steht Can von seinem Platz auf und geht in Richtung Tür, bleibt einen kurzen Moment stehen, dreht sich um und sagt zu Selma: „Das ist meine Privatsphäre, mein privates Leben, verstehst du?“

Selma ist überrascht und erschrocken zugleich. So hat sie Can noch nie erlebt.

„Das ist ja in Ordnung, deshalb brauchst du nicht wütend zu werden, Can! Ich habe nur gefragt, das ist alles! Setz dich doch bitte wieder hin. Lass uns über andere Dinge sprechen. Lass uns darüber unterhalten, wie du die Sommerferien verbringen willst.“

Selma ist sichtlich erleichtert, dass Can sich wieder auf seinen Platz zubewegt und sich setzt.

In kürzester Zeit finden sich die beiden in ihren vorherigen Rollen wieder ein und unterhalten sich so, als hätte es diesen Zwischenfall nicht gegeben.

Nach einiger Zeit lächelt Can Selma so strahlend an, dass dabei seine großen Augen verschwinden und das ganze Gesicht nur noch aus einem Lächeln besteht. Genau so ist er. Can konnte man immer schon um seine Leichtigkeit, seine dauerhaft gute Laune und lebensfrohe Ausstrahlung beneiden. Das macht er einfach so, ohne darüber nachzudenken. So einem umwerfenden Lächeln kann auch Selma nichts mehr entgegenhalten, außer ihn in sein Zimmer gehen zu lassen.

Nun, eines ist jetzt klar: Selma sollte Can nicht ein weiteres Mal auf eine Freundin ansprechen. Vielleicht ist er einfach nur etwas zurückhaltender, denkt Selma und sieht dabei aus dem großen Glasfenster, das sich über die gesamte linke Seite des Raumes erstreckt.

Am schönsten ist es für sie im Winter hier oben zu sitzen und aus dem Fenster zuzuschauen, wie sich das gepuderte Weiß langsam auf die Straßen und die Dächer setzt und damit den Auftakt für eine Zeit der gedämpften Stille gibt.

Man sieht jeden, der die Straße hinauf- oder hinuntergeht, die Kinder, die sich an dem Schnee erfreuen und lauthals lachend miteinander spielen, die Weihnachtsbeleuchtungen, die nacheinander einzeln angehen und die Dunkelheit erhellen. An solchen Abenden saß sie hier immer an ihrem Platz und lernte für die Schule.

Eine Zeit lang blickt sie aus dem großen Glasfenster auf die Straße, bis sie dann schließlich – mit schwerem Herzen – ihre Unterlagen wieder in das Regal stellt, aus dem sie sie zuvor herausgenommen hat.

 

Sie verabschiedet sich von Can, der noch in seinem Zimmer beschäftigt ist und fährt zu Maya.

Maya kommt aus Vietnam und heißt ursprünglich anders, nur in Deutschland heißt sie eben Maya.

Vor dem Eingang ertönt die sanfte asiatische Musik aus dem Imbiss, die Selma erahnen lässt, dass ein Gast da ist. Ansonsten würde eher laute orientalische Musik zu hören sein, da Maya vor kurzem das Bauchtanzen für sich entdeckt hat.

Bei jeder Gelegenheit übt sie die Lektionen, die sie im Kurs vorher gelernt hat, im Imbiss, solange keine Gäste anwesend sind. Manchmal, wenn nichts los ist, tanzen sie gemeinsam und behalten während des Tanzens immer die Tür im Auge.

Wird jemand als Kunde erkannt, so wechselt die Musik sofort den Kontinent. Ruckzuck, wie von Zauberhand, erklingt die ruhige asiatische Musik, die den Kunden einstimmt und auf seinem Gesicht ein Lächeln hervorzaubert.

Unterhalb des Schriftzugs am Schaufenster ist das Fischbrot aufgestapelt, das sofort einen Imbiss als solchen erkennen lässt. Der Laden ist nur so groß, dass sechs Tische und die große Theke mit der Auslage hineinpassen.

Eilig geht Selma hinein, nimmt den Kunden jedoch kaum wahr, der vor der Theke steht. Sie nickt ganz kurz und geht bis hinten durch, wo sie sich umkleiden kann. Sie tragen die gleichen T-Shirts, die mit dem Namen des Imbisses bedruckt sind. Im rot-gelben T-Shirt kommt sie zurück und stellt sich ebenfalls hinter die Auslage neben Maya.

Maya nimmt die Bestellung des Kunden an, Selma weist ihm einen Platz zu, auf den er sich anschließend setzt. Die beiden Frauen begrüßen sich.

„Gebratene Nudeln mit Huhn“, sagt Maya. Selma weiß, dass sie sich um das Getränk kümmern soll. Für einen Betrachter wirken solche Konversationen eher wie eine Art Geheimsprache, die eine Außenstehende nicht zu verstehen vermag.

Der nächste Gast steht inzwischen an der Theke und sieht sich die Köstlichkeiten in der Auslage an. Mit einem Auge blickt er auf die Menüübersicht, die über den Wok-Pfannen hängt. Mit dem anderen Auge koordiniert er die Menünummer und den Preis mit seinem Hungerbedürfnis zu einer Bestellung und sagt: „Einmal die Nummer 129a, bitte.“ Er geht zu einem freien Tisch und setzt sich.

„Gewonnen“, sagt Selma.

„Das habe ich doch gesagt. Das ist eine Ente.“

„Gut, gut, du brauchst jetzt nicht so anzugeben“, trotzt Maya ihr und macht auf einer Liste einen Strich.

„Achtung! Da kommt eine Kundin. Wer fängt an? Maya, jetzt kannst du zeigen, wie gut du bist.“

„Also, sie wirkt sehr sportlich und hat einen sehr aufrechten Gang, sie ist schlank und blickt uns direkt an. Lass mich raten, Hähnchen mit Gemüse, die 210 oder 251.“ Die Spannung steigt, die Kundin betritt langsam den Laden und sieht sich um.

Je näher die Kundin der Theke kommt, umso unsicherer wird Maya.

Schnell entscheidet sie sich und sagt: „Nein, nein, das ist ein Vegetarier-Typ, also die 65b.“

Nichts geht mehr. Die Würfel sind gefallen, die 65b geht ins Rennen. Wer wird wohl an diesem Tag als Gewinnerin den Imbiss verlassen? Maya holt tief Luft und versucht mit der Kundin Blickkontakt aufzubauen, als würde sie über telepathische Fähigkeiten verfügen und damit veranlassen, dass die Kundin das richtige Menü bestellt. Da die Lippen auf „Grinse, was du kannst“ einprogrammiert sind, kann Maya kaum mehr einen Satz herausbringen.

Jetzt heißt es Haltung bewahren, denn die Körpersprache ist wichtig, wenn man nicht als Verlierer dastehen will.

Die Kundin fixiert mit einem Blick die Auslage, mit dem anderen die Menütafel. Gleich, jeden Moment müsste die Kombinationsphase abgeschlossen und eine Bestellung formuliert sein.

Jeden Moment wird es sich entscheiden, unter welchem Namen auf der Liste ein neuer Strich seinen Platz finden würde.

„Hm, hm“, sagt die Kundin und Maya verharrt immer noch in ihrem Lächeln. „Ich nehme dann die 65b und einmal Wasser, bitte.“

Wie von etwas Unbekanntem gestochen, schreit Maya: „Danke, danke!!!!“ Als hinge förmlich ihr Leben von dieser Bestellung ab. Schnell weicht die Kundin einen Schritt zurück und sieht Maya mit großen Augen an, als ob sie fragen wollte: „Geht es Ihnen gut?“

Schließlich wird ihr von Selma ein Platz zugewiesen und die Kundin geht zu ihrem Tisch. Maya brüstet sich mit diesem Erfolg und macht einen Strich auf der Liste, die am Ende des Abends die Gewinnerin preisgibt.

Nachdem die beiden alle Kunden bedient haben und auch sonst nicht mehr viel zu tun ist, machen sie sich Kaffee und unterhalten sich.

Selma erzählt Maya, dass sie sich entschieden hat, während der Semesterferien, Can zuliebe, bei ihren Eltern zu wohnen.

„Oh, oh, bist du dir wirklich sicher?“, fragt Maya mit gerunzelter Stirn. „Na, so schlimm wird es nicht werden“, antwortet Selma und nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse.

„Zum einen gehen die Semesterferien immer sehr schnell vorbei, zum anderen habe ich ja dich und die anderen Mädels, falls ich mal Unterstützung brauche, meine ich.“

Auch wenn der Imbiss klein ist, neben einem plätschernden Brunnen darf natürlich eine überdimensionale Buddha-Statue nicht fehlen, die sich Selma immer wieder gerne ansieht, wenn sie nachdenkt.

„Ich habe ja euch“, hat sie zu Maya gesagt: „Euch!“ Das sind ihre Freundschaften, die im Laufe der Jahre entstanden sind. Etwas Besonderes verbindet sie alle miteinander.

Sie sehen sich nicht oft und wohnen weit voneinander entfernt. Dennoch sind sich diese Frauen sehr nahe. Sie brauchen sich gegenseitig nichts zu erklären, wenn sie sich treffen. Das Gefühl, dass zwischen dem letzten und dem gegenwärtigen Treffen kaum Zeit vergangen ist, triumphiert jedes Mal.

Selma denkt an Fatima und bewundert sie wegen ihrer Mutter, die so viel Mut besessen hat. Sie hatte in ihrer Heimat ihr ganzes Gold verkauft, um Fatima und ihrer Schwester im fernen Deutschland ein Studium finanzieren zu können. Sie hatte sich gegen alle Konventionen ihrer Gesellschaft zur Wehr gesetzt und nicht nur gegen den Willen ihres Mannes.

Wie sich Selma noch erinnern kann, hatte der Vater Fatimas aus Protest eine sehr lange Zeit nicht mehr mit der Mutter gesprochen und sich in Schweigen gehüllt. Selma fragt sich, was wohl schwieriger ist, zu schweigen oder das Schweigen eines Menschen, den man liebt, auszuhalten. Vielleicht liegt die Schwere in beidem.

Allen schwierigen Umständen zum Trotz hat Fatima Physik studiert und arbeitet in einer großen Firma. Vor Kurzem erzählte sie, dass ihr Vater in der Nachbarschaft ganz stolz von seinen erfolgreichen Töchter in Deutschland berichten würde, so als sei es seine Entscheidung gewesen, die Töchter in die Ferne zu schicken.

Selma überlegt noch eine Weile und erkennt, dass sie selbst nicht den Mut hätte, in ein für sie unbekanntes und fremdes Land zu ziehen. Ganz weit weg, wie es auch Anna – Catharina gemacht hatte.

Eines Tages hatte sie ihre Koffer gepackt und war nach Singapur gezogen, um dort Arbeit zu finden, was ihr auch gelungen war. Beim letzten Gespräch mit Selma sagte sie ihr, wie glücklich sie wäre.

Selma überlegt, ob es nicht sinnvoller wäre, dass alle Menschen sich auf den Weg machen, um nach ihrem Glück zu suchen. Sie wünscht sich, dass ihre Eltern, als sie noch jünger waren, sich auch auf den Weg gemacht hätten, ihr eigenes Glück zu suchen und zu finden.

Sie wünscht sich einen Ort, an den jeder Mensch hingehen und das eigene Glück finden kann. Sie stellt sich ein Dorf mit vielen kleinen Häusern vor, an denen man nur zu klingeln bräuchte, um das Glück abzuholen.

In diese Gedanken versunken, lächelt sie, als Maya sie mit der Frage, ob es ihr gut gehe, aus ihren Gedanken herausholt. Selma erzählt Maya von dem Dorf des Glücks und davon, wie schön es wäre zu wissen, wo sich das Glück aufhält.

Maya fängt an zu lachen und sagt: „Selma, weißt du wirklich nicht, wo das Glück wohnt!? Du hast Recht damit, dass das Glück in einem Haus wohnt.

Du weißt, dass dein eigener Geist das Haus deines eigenen Glücks ist. Weit brauchst du wahrhaftig nicht zu suchen. Alles ist in dir selbst.“

Nur die Menschen, die aus dem fernen Asien kommen, können die Dinge so sehen, denkt sich Selma.

„Was ist mit Anna-Catharina und was ist mit Fatima?“, fragt Selma und fügt hinzu: „Du magst zum Teil Recht haben, dass das Glück in uns ist, aber ich glaube, dass auch die Lebensumstände eines Menschen eine wesentliche Rolle dabei spielen und …“

Maya unterbricht sie spontan: „Sieh mal, sieh mal, Selma.

Der Mann, der Mann … dort auf der anderen Straßenseite.

Der … der mit dem Anzug und mit der roten Krawatte. Schon einige Male habe ich ihn gesehen. Er steht fast immer an der gleichen Stelle. Immer vor dem Laden, der die leckeren Pralinen verkauft. Weißt du die, die wir so gerne essen und uns dann später darüber ärgern.

Wie oft er da steht, willst du wissen?

Hmm, das weiß ich nicht, aber so oft, dass er mir aufgefallen ist.

Du, manchmal steht er da und hält eine große Schachtel in der Hand. Lach nicht!!

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