Richtung Süden

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Richtung Süden
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Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung und Satz:

Ferdinand Ulrich, Berlin

Gesetzt aus FF Hertz von Jens Kutílek

und Action Text von Erik van Blokland

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-905951-61-5

eISBN 978-3-905951-62-2

Richtung
Süden


Roman Nils Trede

Inhalt

Richtung Süden

Man kommt niemals an. Deshalb geht man auch nirgends hin. Und das stimmt nicht. Man geht zumindest los. Wenn man auch nicht ankommt. Es ist zum Wahnsinnigwerden. Dieses Fragen ohne Antworten. Dieses Reisen ohne Ziel. Man müsste das alles einmal wieder zurechtrücken. Sprachlich ausrückend zurechtrücken. Wir müssten die Welt und uns selbst ganz neu erfinden, uns selbst und die Welt ganz neu ansprechen, bevor wir wieder in Aktion treten können.

Auf dem Hauptplatz an den kahlen Bäumen entlanglaufen, unter grauem Himmel, in trüber Februarluft. Straßenbahn links. Der schrille Signalton beim Türschluss. Einmal etwas Wichtiges festhalten: Rousseau hat es doch sehr treffend ausgedrückt:

Verrecke. Mir geht es gut.

Sagt derjenige, der wohlgenährt und zufrieden an einem am Boden dahinsiechenden Mitmenschen vorübergeht. Wenn du wüsstest, wie sehr du mich neulich schockiert hast. Mit deiner obszönen Bemerkung. Die sich ganz ähnlich angehört hat wie der Rousseau’sche Satz. Ströme im Sturm der Haustür entgegen, eiskalter Wind fegt über den Kathedralplatz. Kenne jemanden, der behauptet, nur ein Wahn könne die Menschen dazu bringen, für einen Glauben ein solches Gebäude zu errichten. Und ich behaupte noch etwas ganz anderes: Dass nämlich der Fleischer suizidgefährdet ist. Der, der fünfzig Meter weiter unten in unserem Viertel seinen Laden hat. Das sieht man ihm an. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber man sieht es ihm an. Und ich frage mich, ob man ihn einmal darauf ansprechen sollte?

Verdammt. Gleich wird es ein Problem geben. Wenn ich mit leeren Händen zuhause auftauche, wird es ein großes … wusste ich es doch. Alexandra kommt mir bereits entgegen.

- Hast du die Einkäufe gemacht?

- Nein, hab’ ich nicht. Die Einkäufe werden doch ohnehin immer gemacht. Eher früher als später und zu viele sowieso.

- Was ist los mit dir? Warum redest du so? Stimmt etwas nicht?

- Alexandra. Hör mir zu! Ich muss dir etwas sagen. Etwas Wichtiges. Das hast du ja auch bemerkt.

Dass ich seit einiger Zeit immer raus muss, mich immer bewegen, immer durch die Straßen ziehen muss. Das ist so, weil, Alexandra! Hör mir zu: Unheil naht. Großes Unheil. Europa wird bald wieder in Schutt und Asche liegen. Krieg wird ausbrechen, Chaos unser Leben beherrschen. Bald wird es so weit sein. Außer es gelingt uns, noch rechtzeitig umzusteuern und die Gesellschaft auf dem Fundament der Zwischenmenschlichkeit und Nächstenliebe neu zu errichten. Sonst wird das alles sehr böse enden. Sehr bald, sehr böse. Warum sagt niemand etwas? Wo kommt das her? Das schweigende Ansehen des Schlimmen? Krieg, Alexandra, Krieg! Ein Krieg naht!

Die Kinder streiten sich mal wieder. Bestimmt sind sie übermüdet. Der Kleine wirft sich auf den Boden, mitten in der Küche. Denkt, dass er damit etwas erreichen werde. Komm, steh auf, Simon!, sage ich zu ihm. Ich liebe dich. Da steht er auch schon wieder auf. Was ich sagen wollte: Es bestehen Zusammenhänge. Zusammenhänge zwischen meinem Reden und dem Zustand der Welt. In dem Fakt, dass es uns beiden nicht gerade gut geht. Darin bestehen Zusammenhänge. Aber materielles Ausrücken, das kannst du vergessen. Deswegen ja sprachliches Ausrücken. Es ist die einzige Möglichkeit. Die letzte Chance. Noch zwei Stunden im Internet surfen, ein Bier kippen, dann vor den Spiegel treten. Wieder in der Sackbauchphase. Wie jeden Februar. Verläuft phasenweise. Nach der Sackbauchphase kommt die Brettbauchphase. Bis zum Phasenwechsel wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Vielleicht schon einmal anfangen. Auf den Boden legen und immer schön rauf und runter. In der Hüfte, eins, zwei … vergiss es. Dann eben Sackbauch.

Am nächsten Morgen wieder raus in die Stadt. Möwen flattern über dem aufgequollenen Wasser des Flusses. Auf den Bus warten, in einem schäbigen Glaskasten, Telefonzellen gegenüber, verblichene Scheiben, Wasserlachen unter den nackten Bäumen, aufgeweichte Zigarettenstummel auf dem hartgedrückten Boden. Bus kommt an. Runter in die Unterführung, raus aus der Unterführung. Ibis, C&A. Jemand schrubbt das große, auf die Fassade gepappte Plastiklogo. Die Hotelfassade … wie? Ist aus H-förmigen Betonsegmenten zusammengestückt. Vor dem Hotel eine Skulptur: Fußgänger schreitet auf einer schrägstehenden Metallstange dem Himmel entgegen. Sowohl in dieser als auch in dieser und jener anderen Stadt. Ist wie Nordsee und KFC. Gibt es auch überall. Oder Tschibo. Mein Gott, wie ermüdend das ist. Das Wiederholen der Wiederholungen. Das wiederholte Anblicken des bereits zum wiederholten Male Gesehenen. Materielles Ausrücken wird in dieser Situation nicht möglich sein. Schalte einmal die Maschine ab! Ja, du. Schalte sie ab und mache an! Mache an und wähle ein Wort. Eines, das sich auf die Welt und auf die Menschen bezieht. Versuche, es zu setzen. Du wirst sehn, es wird nicht gehen. Es wird seinen Sinn nicht entfalten können. Denn du wirst es, sowie es aufgetaucht ist, unter dem Schutt deiner Vorgeschichte sogleich wieder verschwinden lassen. Wie die Bienen sollte man es machen. Sich gemeinsam, mit Achtung füreinander, organisieren. Jeder für jeden und mit zwischenindividueller Wärme. Mit wärmenden, reaktionsfreudigen Materialien. Anstelle kalter Platten. Bus hält an, fährt weiter. Naga Manell – Beratung und Coaching. Steht auf einem Schild über einer Klingel. Litfaßsäule, pummelige Walze mit braungrüner Stahlkappe oben drauf. Dass niemand auf die Idee kommt, diese zu entfernen. Sie gegen eine neue auszutauschen. Bus fährt um den großen, ovalen Platz herum. Leitplanke links, Rost, Beton, Friedhof rechts, filzige, blickdichte Hecke, Ampel, Apotheke, erleuchtetes Schaufenster, Werbeplakat: Schlank und fit. Verdammt. Wenn man sich das klarmacht. Dass der Fleischer suizidgefährdet ist. Und dass man ihm das sofort ansieht, wenn man ihm in die Augen blickt! Die scheinen seit einigen Wochen so traurig und so entschlossen zugleich. Und der Absturz der Qualität seiner Ware, da wird einem ganz anders zumute. Aufgedunsene, blasse Fettwürfelchen in der zähen Roulade anstelle marinierter, schnittfester Speckstreifen und sonstiger aromatischer Sachen wie vorher. Das kann nur einem Suizidgefährdeten widerfahren. Ein solcher Absturz. Und möglicherweise hat er es noch nicht einmal bemerkt. Aber ich. Und ich sollte - - wie bitte? Wie sollte ich das tun? Wie sollte ich zu ihm gehen und zu ihm sagen, anstatt Fleisch zu verlangen: »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Sie sehen so verletzlich aus seit einiger Zeit und so seltsam entschlossen?« Nein. Das kann niemand von mir verlangen. Da denkt der doch sofort, dass man etwas will, Rabatt oder so. Das bleibt dann nur auf mir sitzen. Deshalb wird man wohl zuwarten, bis es geschehen ist und dann wird man im Nachhinein sagen, dass er schon ziemlich besorgniserregend ausgesehen habe in letzter Zeit und so seltsam entschlossen. Und manchmal, wird man sagen, wenn er allein in seinem Laden gestanden sei und sich unbeobachtet gefühlt habe, da hat er mit so merkwürdig hängenden Schultern so sonderbar apathisch vor sich hingestarrt, in den Raum vor sich hinein, auf die Konservendosen gegenüber im Regal und da, also da, wird man sagen, »da hat er einfach so verändert gewirkt, irgendwie neben sich stehend, als erwarte oder plane er etwas, das man nicht erfassen kann. Und den Absturz der Qualität seiner Ware, den hätte man auch irgendwie interpretieren, als Anzeichen, als Signal erkennen müssen …«

Ja, das wollte ich dir doch noch sagen. Was mich neulich so schockiert hat und sich ganz ähnlich angehört hat wie der Rousseau’sche Satz. Als du gemeint hast, dass ein Vorstandvorsitzender von dir aus gerne zwanzig Millionen im Jahr verdienen darf. Da ihm das schließlich zustehe. Weil er so viele Menschen in Arbeit bringe und die Verantwortung für diese Menschen auf seinen Schultern laste. Ich will nicht schon wieder damit anfangen, aber man wird zuerst sprachlich ausrücken müssen, bevor materiell wieder irgendetwas möglich sein wird. Ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte. So erschrocken war ich von der Wucht des Wortes. Wie kann es sein, dass du plötzlich solche Dinge von dir gibst? Früher hättest du das doch nicht gemacht. So vor fünf bis zehn Jahren noch. Aber jetzt tust du es. Jetzt sagst du solche Dinge. Was hat sich seitdem verändert? In dieser kurzen Zeit? Was hat deine Gedanken hart gemacht? Da frisst sich doch etwas in unsere Seelen hinein, was dort nichts verloren hat. Ja. Man sieht sich eben nur noch alle zwei Jahre. Man verändert sich und entfernt sich voneinander. Für etwas warmherziger im Denken hätte ich dich dennoch gehalten. Dass ich dich wenigstens wiedererkennen würde, das hatte ich trotz allem erwartet.

 

Aussteigen, Brauerei links. Der Rauch schafft es kaum aus dem Schornstein heraus, wird atmosphärisch niedergedrückt, driftet in zähflüssigen Schlieren nach links unten ab. Tiefstehender, grauer Himmel. Wie ein bleierner Helm auf dem Kopf. Der Himmel. Und deine Worte auch. Als ob die Menschen sich nicht aus eigener Kraft in Arbeit brächten und als ob sie die Verantwortung für ihr Leben nicht auf den eigenen Schultern trügen. Wieder dieser hartgepresste Boden überall. Am Straßenrand, zwischen den Bäumen, überall. Alles feucht. Nasskalt feucht. Alles von einem allgegenwärtigen Moosfilm bedeckt. Die Mauern, die Hauswände, die Baumstämme. Sogar der hartgepresste Boden. Oder sind es Algen? Ist’s ein feiner Provinzstadtalgenbeschlag auf allen Dingen? Außer auf der Kathedrale. An der wird ständig rumgefummelt, die Fassade wird seit Jahrzehnten ununterbrochen renoviert, aber es nützt nichts, man muss alles austauschen, alle Steine nach und nach ersetzen. Ob wohl auch nur ein einziger originaler Stein im Gemäuer des Bauwerks steckt? Im steingewordenen Wahn der Menschen? Hundert Meter die Brauerei entlang, dann die Stufen herauf und rein ins Altenheim. Huh, wie schwül es hier ist. Oma, mach doch die Fenster auf, um Gottes Willen! Luft, Oma, Luft! Und nun erzählst du wieder diese alte Geschichte. Versuche doch einmal an etwas anderes zu denken. Komm, wir gehen runter in die Caféstube. Oder drehen wir draußen eine Runde? Vielleicht blühen bereits die ersten Krokusse? Die liebst du doch so sehr. Nein? Willst du nicht? Also schön. Dann gehen wir aber wenigstens in die Caféstube. Dieses Bild. Das lässt dich nie mehr los: Mitternacht am Bahnhof. Der lange, abfahrbereite Zug. Voll mit Menschen, die alle wegmüssen. Und all die Hunde, die nicht mitdurften. Die mussten draußen bleiben und haben verzweifelt auf dem Bahnsteig gebellt und geweint. Sind dann dem abfahrenden Zug nachgelaufen bis sie irgendwann nicht mehr mithalten konnten und aufgeben mussten. Sind dann zerstört auf dem Gleis hin und her gelaufen und manche Hunde haben sich dann, wie du behauptest, aus Kummer und Verzweiflung in den eigenen Unterleib gebissen. Und dann? Wer hat sie mitgenommen? Wer eingesammelt? Was ist mit den verzweifelten Hunden geschehen? Und mit den Menschen, die alle wegmussten? Ja, verdammt, mit den Menschen doch vor allem, was ist mit ihnen geschehen? Wo wurden sie hingebracht? Was war ihr Schicksal, was das Ziel ihrer Reise? Bist alleine in der Nacht nach Hause zurückgegangen, mit dem Bild des abfahrenden Zugs im Kopf und die verzweifelten Hunde im Ohr und im Herz. Bist in deiner Wohnung angekommen, hast dich auf ein Sofa geworfen und hast die ganze Nacht hindurch geweint. Weißt du, Oma, das brauchst du dir nicht so sehr zu Herzen zu nehmen. Das verläuft zyklisch. Das kommt und geht. Wie Tag und Nacht, wie die Jahreszeiten. Das Böse in der Welt. All die finsteren Phasen der Geschichte. Die kommen und gehen ganz von allein. Daran trägst du keine Schuld. Das steht, wie es kommt und geht, von Anfang an eingeschrieben im Logbuch der Geschichte.

Die Dame am Nachbartisch ist hundert und drei Jahre alt. Wie schnell das geht. Wie nah das alles noch bei uns ist. Noch nicht einmal ein Menschenleben lang ist das her. Noch lange nicht. Oma ist siebenundneunzig. Wie dreißig im Kopf, sagt sie, heute genauso im Kopf wie damals. Genauso jung, genauso frisch. Nein. Die Menschen haben sich seitdem nicht verändert. So schnell verändern die Menschen sich nicht. Deswegen sind auch die jungen Leute heute im Kopf genau so wie Oma es damals war. Genauso anfällig, genauso verwundbar. Da darf man sich nichts vormachen. Komm, Oma, ich bring dich noch hoch. Dann mach’s mal gut. Ich komme bald wieder. Gehe jeden Tag mehrmals einige Schritte, das ist so wichtig für dich. Und mache regelmäßig das Fenster auf.

Wieder der Betonmauer entlang, wieder Brauerei, diesmal rechts. Der Rauch schafft es immer noch kaum aus dem Kamin heraus, driftet in nach unten ziehenden Schlieren seitlich davon. Stimmt übrigens nicht. Dass es phasenweise und von allein kommt. Das Schlechte in der Welt. Das habe ich nur für Oma so gesagt. Damit sie sich beruhigen kann. Es stimmt aber nicht. Das kommt überhaupt nicht von allein. Genauso wenig wie Sackbauch und Brettbauch. Das hat etwas mit Bauchmuskeltraining zu tun. Mit Engagement. Und so ist es mit dem Schlechten in der Welt auch. Es hat etwas mit den Menschen zu tun. Damit, was sie denken, und mit dem, was ihr Denken sie tun lässt.

Das Schlechte in der Welt hat es schon immer gegeben. Mit mir hat es nichts zu tun:

Faschistisches Basisargument. Muss man einmal dringend festhalten. Ebenso dieses:

Wenn ich es nicht tue, dann tut es ein anderer:

Faschistisches Basisargument. Arbeitsargument des Faschismus. All das Argumentieren mit Mechanismen. Mit Automatismen. Das Herausoperieren unserer Verantwortung aus dem, was geschieht. Ist im Ansatz Faschismus.

Bus kommt wieder am Hauptplatz an. Immer noch Hochwasser im Fluss. Noch schnell in den Supermarkt, damit es zu Hause keinen Ärger gibt. Windeln und Zahnpasta für die Kinder und einmal die Standardliste von oben bis unten komplett durch. Wie lange wir es uns wohl noch leisten können, dreimal pro Woche hundert Kröten im Supermarkt liegen zu lassen? Apropos Kröten: Die Kassiererin ist ebenfalls suizidgefährdet. Meiner Meinung nach. Sonst hätte sie nicht diese Wischmopfrisur. Und diesen mörderischen Blick im Blick, pardon, Ausdruck im Blick, den hätte sie dann auch nicht. Das kommt doch davon, wenn man nicht mehr weiterweiß. Wenn man die Orientierung verloren hat. Nicht nur die ästhetische Orientierung, sondern die Orientierung allgemein. Komme zuhause an. Alexandra …

- Hast du die Einkäufe gemacht?

- Ja, habe ich. Die komplette Liste. Und soll ich dir einmal etwas sagen? Es ist mir ehrlich gesagt einerlei, ob die Einkäufe gemacht werden oder nicht. Ich mache die Einkäufe nur, damit ich …

- Wie kannst du das sagen? Wir haben …

- Weiß ich ja. Sind sie schon im Bett? Ja? Dann setze dich bitte hier hin. Ich will dir noch einmal etwas sagen: Es gibt etwas, das treibt mich um. Und es wird vielleicht einmal dazu führen, dass ich etwas anstelle. Ich bringe Simon doch jeden Morgen in sein Klassenzimmer. Und da fällt mir etwas auf: Die sind alle gleich. Die Kinder dort: Sie sind alle gleich. Sie sind von der Natur alle gleich gut gemacht. Und das denken die auch von sich selbst, gegenseitig: Wir sind alle gleich. Alle gleich gut. Alle gleich klug. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Weil ich weiß, welche Eltern zu welchem Kind gehören. Und deshalb weiß ich auch, wer von denen einmal in den Chefetagen ein- und ausgehen und wer von ihnen öffentliche Toiletten reinigen wird. Das weiß ich. Wenigstens ungefähr. Im Großen und Ganzen. Und es treibt mich um. Es wird vielleicht machen, dass ich … ach hör doch auf, Alexandra, ich bitte dich! Höre auf, deshalb gleich von Sozialismus zu sprechen! Ich habe doch nur gesagt, dass sie alle gleich sind. Dass wir sie aber untereinander unterschiedlich machen. Dass sie keine Chance haben, dem zu entgehen. Kannst du das nicht einfach einmal so stehenlassen? Als Abfolge von Wörtern so stehenlassen, ohne sie sogleich unter dem Schutt deiner Lebensgeschichte wieder verschwinden zulassen? Hör zu: Da braut sich was zusammen. Das spürt man doch. Spürt man ganz genau. Das platzt irgendwann. Irgendwann lassen die Dämme nach, spürst du das nicht? Es wird Krieg geben, Alexandra. Die Anzeichen sind schon da. Bald wird es so weit sein. Außer es gelingt uns, die Gesellschaft auf einem neuen Fundament neu zu errichten. Wir müssten die Welt auf dem Boden der Zwischenmenschlichkeit und der Nächstenliebe neu erfinden. Bereitet dir Russland nicht auch Angst? Da gärt es doch. Und wie! Warum steht Russland denn so abseits? Warum gehört dieses Land eigentlich nicht zur Europäischen Union? Oder ist wenigstens durch einen Assoziationsvertrag eng an diese angebunden? Alles ist nur noch eine Frage von Erträglichkeit und letzter Grenze. Wenn die Grenze überschritten sein wird, wird es losgehen. Sechzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit. In Spanien. Das Hakenkreuz taucht wieder auf. Mitten auf der Straße, mitten auf dem öffentlichen Platz. In Griechenland. Heute. Wo morgen? Wir sind schon verdammt nah dran an der Unerträglichkeitsgrenze. Wenn sie überschritten sein wird, wird es losgehen. Außer es gelingt uns, noch rechtzeitig die Kurve zu kratzen. Und dazu müsste man sagen können dürfen, dass sie alle gleich sind. Simon und seine Klassenkameraden. Alle gleich. Ohne dass man deshalb sogleich totalitärer Intentionen bezichtigt wird und damit jeder Gedanke im Keim, noch bevor er seine Idee entfalten kann, wieder kaputtgemacht wird. Hörst du mir noch zu? Ich hab´ die Lösung: Sie müssten alle etwas bekommen. Sie müssten alle ein Erbe bekommen. Nicht nur Clara und Simon und mit ihnen soundso viel Prozent, sondern alle. Sie müssten alle etwas erben. Und jetzt einmal nicht automatisch antworten, dass es Erbschaftssteuer gibt und die Sozialkassen davon aufgefüllt werden. Denn das meine ich nicht. Ich meine nicht Geld, das bereits ausgegeben ist, noch bevor man es bekommen hat, sondern ich meine Geld, das da ist, das frei zur Verfügung steht, wenn man es bekommt. In der Hand, auf dem Konto. Ohne dass es sofort in ein gähnendes schwarzes Loch fällt. Ich meine ein Kapital, mit dem man etwas anfangen kann. Das man ausgeben kann. Mit dem man einen Traum, ein Projekt verwirklichen kann. Anstatt in Perspektivlosigkeit festgenagelt zu sein. Das müsste doch möglich sein. Wo sie alle gleich sind. So hunderttausend in die Hand von jedem. Auf einmal. Cash. Aus Liebe. Aus dem Herzen heraus. Weil wir uns alle als Brüder und Schwestern verstehen. Auch in die Hand des ärmsten Schluckers. Einfach deshalb, weil er existiert. Weil er ein Mensch ist. Kollektiverbe könnte das Projekt heißen. Alles kommt in eine Kasse. Wir würden von Generation zu Generation den Reichtum des Landes gerecht weiterreichen. Damit jeder eine Chance bekommt. Und dann macht jeder damit, was er will. So gut er kann. Im Wirbel der Freiheit.

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