Czytaj książkę: «Deutschlandlieder. Almanya Türküleri»

Czcionka:

Nedim Hazar

Deutsch

landlieder

Almanya

Türküleri

Zur Kultur der türkeistämmigen Community

seit dem Anwerbeabkommen 1961

Rotbuch Verlag

Die Fotos im Bildteil stammen alle von Gökhan Yılmaz. www.goekhanyilmazfilms.de

Dank für die Karikatur auf Seite 120 an Muhsin Omurca. www.mussin.de

eISBN 978-3-86789-846-1

1. Auflage

© 2021 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: picture alliance / CITYPRESS24 /

Tilman Jentzsch

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

Rotbuch Verlag

Axel-Springer-Str. 52

10969 Berlin

Für Ekrem, Tereza, İlyas, Elijah

Und für Ulli

Grußwort

Dr. Lale Akgün

Sechzig Jahre Einwanderung aus der Türkei. Eine Einwanderung, die als temporärer Aufenthalt aus wirtschaftlichen Gründen begann und eine unerwartete Dynamik entwickelte.

In Deutschlandlieder. Almanya Türküleri zeigt uns Nedim Hazar diese Entwicklung auf, von ihren Anfängen bis heute. Es kamen Menschen, die sich in dem neuen Land zurechtfinden mussten. Ihre Gefühle und Bindungen drückten sie durch ihre Musik aus. Deutschlandlieder spiegeln somit die Lebenssituation, aber auch die immerwährende Akkulturation der Türkeistämmigen in Deutschland wider.

Die Zeit schritt voran. Die Lieder der Gastarbeiter der 1960er-Jahre waren irgendwann nicht mehr aktuell, es kamen neue Generationen, die ihre eigenen Lieder hatten, und es tauchten immer neue Vorstellungen von Identität, Heimat und Zusammenleben auf.

Kein Wunder. Lebten 1961 gerade mal sechstausend­achthundert zumeist männliche Türken in Deutschland, waren es 1981 bereits anderthalb Millionen, 2001 knapp zwei Millionen. Heutzutage leben in Deutschland um die drei Millionen Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben.

In diesen sechzig Jahren entstanden immer neue Konstruktionen, was das Zusammenleben von Türken und Deutschen und die dabei entstehenden Konflikte betraf. Zum Schlagwort des gelungenen Zusammenlebens geriet der Begriff »Integration«, obwohl seine Definition bis heute nicht richtig glücken mag. Zu seinem Antonym wurde die »Assimilation«, weil damit die Aufgabe der eigenen Kultur assoziiert wurde. Obwohl die Migration nach Deutschland mehrheitlich wirtschaftliche Gründe hatte und hat, drehte sich der gesellschaftliche Diskurs weniger um wirtschaftliche Erfolge oder Misserfolge der Einwanderung aus der Türkei, sondern vorzugsweise um Kultur. Wobei auch dieses Wort – ähnlich wie Integration – im Zusammenhang mit Einwanderung kaum eine Definition erfahren hat. Was bedeutet Kultur für die Migrant*innen? Und: was bedeutet die Kultur der Einwanderer*innen für die Mehrheitsgesellschaft?

Der Prozess der Akkulturation und noch mehr der Enkulturation waren in den Augen der Mehrheitsgesellschaft nicht vorstellbar und somit auch nicht vorhanden. Man hielt an dem Konzept des Nebeneinanderlebens im Sinne von Multikulturalität oder Interkulturalität fest. Noch heute, sechzig Jahre nach der ersten Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland, werden für die meisten Menschen die Nachkommen der türkeistämmigen Gastarbeiter*innen in die Schublade »Türken und türkische Kultur« einsortiert.

Mitte der 1970er-Jahre entstand in fast jeder Stadt die Initiative »Die Woche des ausländischen Mitbürgers«, die sich durch Kulturveranstaltungen auszeichnete, immer mehr Kommunen veranstalteten immer mehr interkulturelle Straßenfeste. Sie sollten den Ausländer*innen die Chance geben, »ihre Kultur« darzustellen, vor allem ihre Küche und ihre Musik. Folklore halt. Diese Definition des »gelungenen Zusammenlebens« wurde von den Migrant*innen widerspruchslos übernommen, unterschiedlichste Kulturvereine schossen wie Pilze aus dem Boden.

Für die meisten stand fest: Die Türken, Ausländer, Musliminnen und Muslime, Migrant*innen oder Menschen mit Migrationshintergrund (die Bezeichnung lässt sich beliebig variieren) haben eben ihre eigene Kultur. Integration bedeutet dann Rückzug in die eigenen kulturellen Räume, um diese Kultur ausleben zu dürfen. Bis heute hat sich an dieser Sichtweise wenig verändert. Schaut man sich die Webseite des DOMiD, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., an, so finden sich dort aktuell Ankündigungen unterschiedlichster Art zur Kultur im weitesten Sinne. Und da, wo es nicht um Kultur geht, geht es meistens um Religion, präziser formuliert, um den Islam. Als die Kultur der Eingewanderten wird ein ganzes Bündel zusammengefasst: Wir sprechen hier nicht nur von Sprache, Musik, Malerei oder Literatur, sondern auch von Habitus und Kleidung, Werten und Normen. Alle Kommunikations- und Interaktionsprobleme wurden und werden vor allem auf Kulturdifferenzen zurückgeführt. Voraussetzung für eine gelungene Integration scheint es bis heute zu sein, kulturelle Differenzen zu verstehen und die Wertedivergenzen bestehen zu lassen. Denn – so die überwiegende Überzeugung – es geht um verschiedene Kulturen, die nicht oder kaum zusammenzubringen sind.

Diese Annahme rührt daher, dass unsere Vorstellung von der Kultur und ihrem Einfluss von einem Kulturbegriff ausgeht, der mit einem Einwanderungsland nicht kompatibel ist, nämlich dem Herder’schen Kulturbegriff. Er prägt bis heute das europäische Denken und lautet: »Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.«

Kultur ist somit die unverwechselbare Substanz eines Volkes, die dieses von anderen deutlich unterscheidet und dessen »Charakter« zum Vorschein bringt. Sie wird als ein Ensemble von Merkmalen verstanden, bestehend aus Sprache, Denken, Wahrnehmen, Habitus, Institutionen und materiellen Hervorbringungen wie Kunst, Musik und Architektur, das zusammen eine Einheit und organische Ganzheit ausmacht. Damit wird auch das Denken und Handeln eines Menschen untrennbar mit seiner Kultur verbunden und bestimmte intrakulturelle Verhaltensformen werden immer im Licht eines dazugehörigen Sozial- und Wertesystems sowie Kulturverständnisses gesehen.

Dies nährt die Vorstellung, dass Migrant*innen auch nach sechzig Jahren immer noch in ihrer Blase leben und mit der Mehrheitskultur kaum oder wenig in Berührung kommen. Eine Vorstellung, die zugleich eine Beleidigung für die Migrant*innen und für die Mehrheitskultur ist: Die einen leben in ihrer abgeschotteten Welt und die anderen haben eine so schwache Kultur, dass diese nicht in der Lage ist, Einfluss auf Eingewanderte zu nehmen.

Während universalistische Positionen davon ausgehen, dass es nur eine allgemein gültige Ethik bzw. eine soziologische Theorie gibt, die für alle Menschen und Situationen gilt, schränken der Herder’sche Kulturbegriff und daraus folgend der Kulturrelativismus die Anwendbarkeit bestimmter ethischer Begriffe und soziologischer Kategorien auf die Kultur ein, die sie hervorgebracht hat. Dementsprechend können kulturelle Phänomene nur in ihrem eigenen Kontext betrachtet, verstanden und beurteilt werden.

Kulturrelativismus zeugt für mich von der Hilflosigkeit einer Gesellschaft, mit dem Phänomen der Einwanderung umzugehen, einer Gesellschaft, die noch im »kulturellen Wir« verharrt und versucht, mit dem »kulturellen Anderen« in Kommunikation zu treten. Kann Interkulturalität da überhaupt die Lösung sein, solange traditionelle Kulturvorstellungen gelten? Dazu ein Zitat des Philosophen Wolfgang Welsch:

»Die Misere des Konzepts der Interkulturalität rührt daher, dass es die Prämisse des traditionellen Kulturbegriffs unverändert mit sich fortschleppt. Es geht noch immer von einer insel- bzw. kugelartigen Verfassung der Kulturen (damit ist das Bild von Hegel gemeint; Anm. d. Verf.) aus. Eben deswegen vermag es zu keiner Problemlösung zu gelangen, denn die interkulturellen Probleme entspringen der Insel- bzw. Kugelthese der Kulturen. Das klassische Kulturkonzept schafft durch seinen Primärzug den separatistischen Charakter der Kulturen. Das Sekundärproblem sind strukturelle Kommunikationsunfähigkeit und schwierige Koexistenz dieser Kulturen. Daher sind die Empfehlungen zur Interkulturalität zwar gut gemeint, aber ergebnislos. Das Konzept versäumt es, die Wurzel des Problems anzugehen. Es ist nicht radikal genug, sondern bloß kosmetisch.

Ähnliches gilt für das Konzept der Multikulturalität. Es greift die Probleme des Zusammenlebens verschiedener Kulturen innerhalb einer Gesellschaft auf, widmet sich also strukturell der gleichen Frage wie das Konzept der Interkulturalität. Dabei bleibt aber auch dieses Konzept im Status des traditionellen Kulturverständnisses. Es geht von der Existenz klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen aus, nur jetzt innerhalb ein und derselben staatlichen Gemeinschaft.

Das Multikulturalitätskonzept sucht dann nach Chancen der Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und Konfliktvermeidung oder Konflikttherapie. Das ist ebenso löblich wie die Bemühungen um Interkulturalität, aber ebenso ineffizient, denn vom alten Kulturverständnis aus lässt sich allenfalls ein Stillhalten auf Zeit erreichen, nicht aber eine wirkliche Verständigung zwischen den kulturell heterogenen Gruppen oder eine Überschreitung der separierenden Schranken konzipieren.«

Erst Georg Auernheimers Definition von Kultur als »Aushandlungs-, Diskurs- und Darstellungsprozess« liefert einen möglichen Ausweg.

»Wenn wir Kultur als Orientierungssystem verstehen, so ergibt sich daraus die Konsequenz, dass Kultur sich mit der Änderung von Lebensverhältnissen verändern muss, um weiter zur Orientierung tauglich zu sein. Um Veränderungsprozesse aber verstehen zu können, müssen wir totalisierende Kulturbegriffe aufgeben.«

Das heißt: der postmoderne Kulturbegriff versteht sich nicht mehr als Festlegung, denn dies ist einer Einwanderungsgesellschaft unangemessen.

Kultur und kulturelle Differenzen können für die aufnehmende Gesellschaft ohne Zweifel bereichernd sein, sie haben jedoch auch immer etwas Ausschließendes. Eine Einwanderungsgesellschaft braucht eine Inklusionspolitik. Ohne Wenn und Aber. Im Großen wie im Kleinen.

Damit zurück zu Nedim Hazar. Einem Künstler, der gleichermaßen in der türkischen und deutschen Kultur zu Hause ist und sich in beiden wie ein Fisch im Wasser fühlt. Menschen wie er werden schnell als Brückenbauer bezeichnet.

Das Wort »Brückenbauer« bezieht sich wieder auf den Herder’schen Kulturbegriff und legt damit fest, dass es unterschiedliche, voneinander unabhängige Kulturen gibt, die mit irgendeiner Brücke verbunden werden müssen. Und Menschen wie Nedim sollen dann Brücken bauen, die andere passieren können. Wohin sollen die aber führen? Von einer Kultur zur anderen? Und dann? Was macht man auf der anderen Seite? Schaut man sich als Gast die andere Kultur an? Wie in einem Museum oder beim Sightseeing in einer fremden Stadt? Und nach der Besichtigung? Kehrt man wieder zurück nach Hause? In die eigene Kultur?

Ich lernte Nedim bereits 1984 bei einer Veranstaltung kennen. Das Duo Yarinistan, bestehend aus Nedim Hazar und Geo Schaller, trat als Kulturpart auf. Den Begriff »Morgenland« als türkische Wortneuschöpfung »Yarinistan« zu übersetzen war eine ebenso schräge wie gute Idee, um die Zuhörerschaft neugierig zu machen. Ich erwartete eine von den üblichen Kulturvorführungen, denn damals oblag es den Ausländer*innen, vor allem den Türk­*innen – einst war das Wort Türke ein Synonym für Ausländer –, sich und ihre Kultur zu präsentieren. Oder sich über ihre Kultur zu präsentieren. Ich erwartete ein Nebeneinander von »deutscher« und »türkischer« Kultur, ganz im Herder’schen Sinne. Vielleicht noch ein gemeinsames Liedchen als Krönung des Auftritts.

Bei Nedim Hazar und Geo Schaller war es aber ganz anders. Sie traten gleichberechtigt auf der Bühne auf und rissen Witze über Kulturunterschiede und Kulturverständnis. Nedim wirbelte mit seinem Akkordeon über Geo Schaller hinweg, genauso wie Geo Schaller souverän seinen Part spielte. Und dann die Musik! Das war keine typisch türkische Musik, aber auch keine typisch deutsche. Sie hatten gemeinsam etwas Neues erschaffen, so wie es Georg Auernheimer von einer Kultur einer Einwanderungsgesellschaft erwartet. Die Musik war zum Aushandlungsfeld für eine gemeinsame Zukunft geworden.

Ich höre immer wieder, wie Menschen darüber klagen, aber gleichzeitig auch damit kokettieren, sie würden sich in Deutschland als Türken und in der Türkei als Deutsche fühlen und auch so wahrgenommen werden. Wie oft habe ich den Satz gehört: »In der Türkei hält man mich für einen Deutschen.«

Wenn schon solche Beschreibungen, dann ist Nedim jemand, der sich in der Türkei als Türke und in Deutschland als Deutscher fühlt. Weil er nicht fremdelt. Weil er sich weder überlegen noch unterlegen fühlt.

Er ist jemand, der in allen Kulturen zu Hause ist und der diese Kulturen zusammenführt, der Neues erschafft und somit die Fortentwicklung der Einwanderungsgesellschaft anregt.

Umso mehr freue ich mich, dass er es ist, der auf die Anfänge der Einwanderung zurückblickt und den weiten Weg darstellt, den wir alle zusammen gegangen sind. Auch wenn viele meinen, dass sich seit 1961 nicht viel geändert hat und wir immer noch in unseren kulturellen Räumen leben. Dieses Buch zeigt, dass es anders ist!

Intro mit den türkischen Barden Kölns

Die Idee zu diesem Buch entstand im Frühjahr 2019, als wir – die türkischen Barden Kölns aus drei Generationen – zusammen auf der Bühne standen: Metin Türköz, Deutschlands erster türkischer Liedermacher, Eko Fresh, einer der erfolgreichsten Rapper des Landes, und ich, Sänger der ersten deutsch-türkischen Rockband.

Metin Türköz sang über die Arbeit. In seinem Song »Guten Morgen Mayistero« führt er, halb auf Türkisch, halb auf Deutsch, augenzwinkernd den Fabrikvorarbeiter aufs Glatteis.

Ich sang von der Liebe. Das Lied »Max und Gülistan« meiner Band Yarinistan erzählt eine Romeo-und-Julia-­Geschichte an Kölner Schauplätzen der 1980er-Jahre.

Eko rappte über das vermeintliche Ankommen in der Fremde. Sein Stück »Quotentürke« beschreibt mit Humor die gesellschaftliche Rolle der türkeistämmigen Migrant*innen in Deutschland.

Der Auftritt war die Zugabe nach einer anderen Show und fand auf der Volksbühne am Rudolfplatz statt, der ehemaligen Bühne des legendären Kölner Volksschauspielers Willy Millowitsch. Das Publikum aus verschiedenen Generationen kannte die Lieder und sang munter mit. In knapp fünfzehn Minuten haben wir die wesentlichen Themen migrantischen Lebens in Songs abgearbeitet: Arbeit, Liebe und das Ankommen. Darum ging es ebenfalls in der zuvor aufgeführten Musikrevue Lieder und Geschichten im Transit von der Band Die Mampen, zu der ich auch gehöre: »Musik ist die schönste Sprache der Welt, die jeder sofort versteht. Deshalb sind Musiker auch in allen Teilen der Welt zu Hause und können ihre Geschichten erzählen: von Transit, Flucht, Exil genauso wie von den schönen Dingen des Lebens – dem Ankommen, der Heimat, der Liebe.«

Was die Geschichte der Türkeistämmigen in Deutschland angeht, stimmte dieses Motto der Show leider nicht ganz mit der Wirklichkeit überein. Als die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Türkei am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen abschlossen, waren die menschlichsten Dinge des Lebens wie Unterhaltung, Musik oder Kultur gar nicht vorgesehen. Als die ersten Gastarbeiter*innen ankamen, gab es kein türkischsprachiges Radio, Telefonieren mit Verwandten in der Heimat war teuer und der Briefverkehr dauerte Wochen. Satellitenantennen, Internet oder YouTube waren damals nicht vorstellbar.

Die Menschen fingen an, ihre eigenen Lieder zu singen: Deutschlandlieder, Almanya Türküleri. So nennen wir die Songs der Migrant*innen, die in Deutschland entstanden sind. Die ersten Lieder wurden beim Feierabendbierchen mit Zimmerkameraden in Arbeiterheimen gesungen und handelten vom Fernweh, von der Geliebten in der Heimat, von Arbeitsbedingungen und vom Leben in der Fremde. Mit der nächsten Generation entstanden Romeo-und-Julia-Songs und nach den Brand­anschlägen in Mölln und Solingen in den 1990er-Jahren verbitterte Hip-Hop-Stücke.

Dieses Buch umfasst zehn solcher Lieder. Es ist ein Konzeptalbum wie Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, allerdings ohne Musik. So setze ich mich hier nicht mit der Musik der Türkeistämmigen in Deutschland auseinander, sondern mit den Themen und Geschichten hinter diesen Songs: Arbeit, Liebe, Frauen, Männer, Sprache, Essen, Alter, Sterben, Exil … und Rassismus.

In Rachel Joyces bezauberndem Roman Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie spürt der Plattenladenbesitzer Mister Frank, welche Musik Menschen brauchen, um glücklich zu werden: »… aber welche Musik brauchte diese andere Frau? Blues? Motown? Mozart? Patti Smith?« Drehen wir den Spieß um. Ich wäre überglücklich, wenn meine Songauswahl mindestens einen winzig kleinen Einblick in die Gefühlswelt und die Sichtweisen der immerhin drei Millionen türkeistämmigen Menschen von damals und von heute geben könnte.

Ach ja, das hier ist kein Soloalbum. Ich sprach mit den Kolleg*innen, die diese Lieder sangen oder schrieben, und mit vielen anderen Menschen. Auf dem Titelblatt des Buches fehlt der Eintrag »Special Guests« oder »Featuring«: Lale Akgün, Mustafa Altıoklar, Robert Andjelkovic, Mevlüt Âsar, Ferda Ataman, Ali Ekber Aydoğan, Ali Baran, Ekrem Bora, İdil Baydar, Cenap Boztepe, Ercan Boztepe, Ata Canani, Fatih Çevikkollu, Mehmet Çoban, Can Dündar, Erci Ergün, Aytaç Eryılmaz, Serpil Eryılmaz, Ömer Erzeren, Ali Güngörmüş, İpek İpekçioğlu, Melisa Karakuş, Shermin Langhoff, Muhsin Omurca, Cem Özdemir, Rosario Pennino, Eberhard Seidel, Tuba Tunçak, Metin Türköz, Fehiman Uğurdemir, Deniz Utlu und Kutlu Yurtseven. Ich bin ihnen allen sehr dankbar, dass sie sich Zeit für dieses Buch nahmen. Mein Dank gilt auch Kristina Wydra, die meine Texte lesbarer machte, bevor ich sie an meine Lektorin Eleni Pavlidou schickte. Ευχαριστώ Ελένη!

Mit vielen dieser Gäste und Gesprächspartner*innen bin ich seit jeher befreundet, habe mit ihnen schon mal zusammengearbeitet oder sie in der Vergangenheit interviewt. Einige habe ich neu kennengelernt. Denn ich war zwischendurch gut fünfzehn Jahre in der Türkei. Um präziser zu sein, habe ich knapp zehn Jahre lang dort bei einem Fernsehsender gearbeitet. Danach wurde ich zusammen mit vielen Kolleg*innen aus politischen Gründen vom Sender entlassen. Meine Ehefrau Dr. Ulrike Dufner, die dort die Heinrich-Böll-Stiftung leitete, war auch nicht konform genug. Sie wurde Ende 2017 als Staatsfeindin ausgewiesen. Wir kamen wie Exilleute, wie Geflüchtete in die eigene Heimat zurück.

Unsere Eindrücke von Deutschland nach so langer Zeit im Ausland waren gemischt. Einerseits konnten wir in einem demokratischen Rechtsstaat wieder aufatmen. Andererseits fanden wir die Parallelwelten, in denen Migrant*innen und Einheimische nun lebten, bedenklich. Es war alles fast friedlich, aber existierte nebeneinander. Auch unter den Türkeistämmigen waren Parallelwelten entstanden. Gefühlt waren die Türken, die Kurden, die Aleviten, die Laizisten und so weiter hier noch eins, als ich 2003 nach Istanbul ging. In diesem Buch kommen sie als eine Einheit vor, als »Türkeistämmige«, also Türkiye kökenli.

Genervt hat uns der Diskurs über die Integration. Bis auf Max Czolleks Streitschrift Desintegriert euch! und die dazugehörigen wenigen Veranstaltungen im Umfeld des Maxim Gorki Theaters in Berlin schien die Zeit in Deutschland diesbezüglich stehen geblieben zu sein.

Last but not least möchte ich den Kameramann Gökhan Yılmaz vorstellen. Er schoss die Fotos im Bildteil des Buches. Sie entstanden während der Dreharbeiten für den Videoclip zum Titelsong der Konzertreihe »Deutschlandlieder / Almanya Türküleri«. Der Song heißt »Duy ­Sesimi / Hör mir zu«. Die Konzertreihe mit über zwanzig Musiker*innen aus mehreren Generationen findet im Herbst 2021 in Berlin, Köln, Bonn, Essen, Stuttgart und Istanbul statt. Viele der hier vorgestellten Musiker*innen spielen mit.

»Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird mit dieser Konzertreihe neu erzählt – anhand der Lieder und aus der Sicht seiner Migrant*innen: Zehn Stars von damals und heute und eine elfköpfige Band singen Lieder von Sehnsucht und vom Ankommen, von Fernweh und von Liebe, vom Leben und vom Kämpfen – und vom Feiern!« So heißt es in der Pressemitteilung zu der Reihe. Die Idee dazu entstand auch im Jahr 2019, als wir – die türkischen Barden Kölns aus drei Generationen – zusammen auf der Bühne standen.

Quotentürke

Wir nennen es Arbeit

Klopf! Klopf! »Wer ist da?« Der Quotentürke, ihr Bitches

Manche schaffen’s durch die große Türe ins Business

Zum Beispiel machʼ ich schon seit ich vierzehn bin Rap-Lieder

Doch die Leute denken: Was will dieser Türke jetzt schon wieder?

Denn egal, wie viel Talent auch in mir ruht

Ich werd’ hauptsächlich gebucht, wenn man ein’

Ausländer sucht

Mann, ich check’s nicht, egal, wie sehr am Start auch Ek ist

Die Gesellschaft will nicht mich, sondern Nazan Eckes

Fatih Akın hattʼ schon jeden Scheiß-Kanacken vor der Cam

Doch irgendwie scheint er den Freez-Man leider nicht zu kennʼ

Was Kinofilm? Ich bleibʼ bei Wok-WM oder Autoball-EM für die Scheibenwischer-Fans

Ich weiß, dass es manche neuerdings verwirrte

Denn der König von Deutschland ist ein Türke

Wärʼ längst Millionär wie Rapper aus den Staaten

Doch das Geld für Mukke schmeißt der Türk in

Automaten

Eko Freshs Hit »Quotentürke« präsentiert eine Art Whoʼs who der türkeistämmigen Promis aus Deutschland im Jahr 2013. Im Gegensatz zu dem, was der Songtitel suggeriert, kamen Fatih Akın, Nazan Eckes, Sibel Kekilli, Cem Özdemir, Bülent Ceylan, Kaya Yanar, Serdar Somuncu und Mesut Özil allerdings nicht als Quotentürken ins Abendprogramm. Oder vielleicht doch? Jedenfalls schufteten diese Menschen hart, um auf ihre Plätze in der Mitte der deutschen Gesellschaft zu gelangen.

»Ey yo, Eko, seit wann haben denn die Türken WLAN?«

Seitdem Bülent Ceylan meinen Bülük seh’n kann

Denn Ekrem lässt den Sack häng’n vor der Webcam

Woraufhin Bülent meinte: »Respect, man!«

Bis dann Kaya Yanar auf einmal da war

Im scheiß Pyjama, weil er auf Skype nicht klarkam

Wir laufen über ’n roten Teppich, die Quotentürken

Die mit Schuhen aber nicht mal in die Wohnung dürfen

Bei manchen guckt man zu, Leute, der kann’s

Der Somuncu spricht zum Beispiel besser Deutsch als Herr Lanz

Doch da gibt’s auch welche, denʼ das Sprechen schwerfiel

Zum Beispiel »Der Gerät« oder Mesut Özil

Du findest uns sogar im Pay-TV

Die Sibel Kekilli ist dort doch stets beliebt

Ich wärʼ schon Millionär, doch Türken kaufen keine CDs

Sie brauchen Gel, um am Wochenende saufen zu geh’n

– Was geht?

Es brauchte wahnsinnig viel Zeit – Jahrzehnte, bis man in Deutschland unter dem Nachwuchs der Migrant*innen Superstars suchte und fand. Für die erste Generation war das weder vorstellbar noch vorgesehen. Das Arbeitsabkommen zwischen beiden Staaten aus dem Jahr 1961 – zwei schmale Seiten – sah einen zeitlich begrenzten Einsatz gelernter und ungelernter Arbeitskräfte aus der Türkei in der deutschen Industrie vor. Der Rest der Geschichte ist allseits bekannt: Die Migration hat das Antlitz des Landes verändert. Sie ist zu einem prägenden Teil der Nachkriegshistorie Deutschlands geworden. Längst bedarf Max Frischs Satz von 1965 – »Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen« – einer Aktualisierung. Heute müsste er ergänzt werden: »Ihre Kinder wurden zu den international erfolgreichsten Filmemachern des Landes«, oder: »Sie zählen zu den innovativsten Wissenschaftlern der Welt.« Außerdem müsste der Nachsatz mit folgender Fußnote versehen werden: »Obwohl der Besuch des Gymnasiums für diese Kinder meist ausdrücklich nicht empfohlen wurde.« Journalistin Ferda Ataman bringt es auf den Punkt, wenn sie von der Vereinsarbeit der Neuen deutschen Medienmacher*innen erzählt: »Die meisten von uns haben keine Gymnasialempfehlung bekommen. Und wenn wir das Abitur dann doch gemacht haben, dann über den zweiten oder dritten Bildungsweg und irgendwie zufällig, oder weil vielleicht eine Lehrerin da war, die die Schüler*innen besonders gefördert hat. So ähnlich war es im Journalismus. Wir haben uns vor zwölf Jahren gegründet, um uns zu vernetzen, um Hilfe anzubieten. Wir wollten zeigen, dass es uns gibt. Heute hat sich die Lage komplett verändert.«

»Was ist mit Gülcan, dude? Sie ist Türkin, so wie du.«

Als Jugendlicher wolltʼ ich auch mein sucuk in ihr

Brötchen tun

Heute bin ich dreißig und hab eine german Frau

Und wenn sie schläft, darf ich mal Türkisches im

Fernsehʼn schauʼn

Vielleicht wundert es dich und du hältst es für einʼ Witz

Doch warte ab, bis der erste von uns Bundeskanzler ist

Denn wenn du einmal nur den Spam öffnest hier

Guckst du Fanpost von mir, von Cem Özdemir

Ich heiße auch die Neuen willkommen im

Quoten­türken-Club

Sila Sahin oder Sükrü vom Trödeltrupp

Hier ist für jeden Platz, crazy, ey

Mehr Platz als in der Mumu von Lady Ray

Man besetzt uns schon bei Action-Shows

Wie »Alarm für Cobra 11« mit 1, 60 groß

Ich wärʼ schon Millionär, doch die Türken laden sich den Scheiß

Und wenn sie mich mal treffen, heißt es: »Lad mich doch mal ein!«

Quotentürke, Quotentürke, oh, Quotentürke!

Ganz egal, wie sehr ich mich auch änderʼ

Ich bleibʼ immer dieser scheiß Ausländer

Quotentürke, Quotentürke, oh, Quotentürke!

Scheißegal, wie viel Kohle ich auch mache

Am Anfang gab es keine Quotentürken. Am Anfang galt es, fleißig zu sein. Feste Arbeit bei Krupp, Thyssen, Ford und Daimler-Benz galt früher als Statussymbol unter den Türkeistämmigen. Ein Höhepunkt in den Erinnerungen der ersten Arbeiter*innen war immer der Moment, in dem der Vorarbeiter oder Chef ihren Fleiß lobte.

»Eigentlich müsste die Zuschreibung heißen: ›Um Gottes willen, die Türken sind derartig fleißig, dass sie uns Deutsche ziemlich in den Schatten stellen.‹« Die Kabarettistin İdil Baydar wird zynisch und wütend zugleich, wenn ich sie nach ihrer Mutter frage. »Das fanden die deutschen Arbeiter gar nicht so gut. Denn weil es so wahnsinnig fleißige Türken gab, wurden die Maßstäbe am Fließband höher gesetzt, die Arbeitsbedingungen noch verschärft.«

Uns beiden sind die ursprünglichen Motive der älteren Generation glasklar. Sie wollten schnellstens Geld verdienen, sparen und nach Hause zurückkehren. Aber İdil muss noch eins daraufsetzen. Das mag ich an ihr. »Was sie für einen Willen hatten! Was für schlimme Bedingungen sie durchmachen mussten! Ob Außenklo, ob schlechte Wohnbedingungen! Aman, aman, aman! Ihr Essen nicht zu haben – und du weißt, wie die Türken ihr Essen lieben. Wie sie gekämpft haben! Wie sie es durchgezogen haben! Wie sie ihre Kinder auf die Spur gebracht haben. Nichts davon kommt in der Beschreibung der Türken in Deutschland vor. Nichts von diesen Credits, die wir uns verdient haben, kommt darin vor. Ich sage ›wir‹ als kollektive Bezeichnung der Gastarbeiter*innen und ihrer Kinder. Das ist etwas, was mich unfassbar wütend gemacht hat. Wenn du mit einer Mutter groß geworden bist, die immer müde war, die eigentlich nie wirklich Zeit hatte, weil sie immer arbeiten, arbeiten, arbeiten musste, immer besser, besser, besser sein, dann ist dabei auch vom eigenen Leben viel kaputtgegangen.«

İdils Eltern waren typische Arbeitsmigranten. Sie trennten sich, als die Tochter zwei Jahre alt war. Laut İdil war die Ehe ihrer Eltern eine Gemeinschaft zu dem Zweck, die Türkei zu verlassen. Sie blieb bei ihrer Mutter, die zuerst im einstigen Telefunken-Werk im niedersächsischen Celle arbeitete. Zwischendurch betrieb die Mutter eine Änderungsschneiderei, später ließ sie sich zur Maskenbildnerin ausbilden und zog mit Tourneetheatern durchs Land. İdil wurde mit zehn Jahren ins Waldorfinternat geschickt, wo sie es etwa fünf Jahre aushielt. Über viele Umwege gelangte İdil Baydar zu ihrer heutigen Tätigkeit als Kabarettistin, Schauspielerin und YouTube-Star in Berlin. Die Mutter kam auf den Namen von İdils Alter Ego Jilet Ayşe, der kabarettistischen Prollfigur mit der scharfen Zunge, die alles sagen darf.

»Unsere Eltern waren sehr höflich«, fährt sie fort. »Sie haben noch nach diesen alten Werten funktioniert: Söyleme, konuşma, açma ağzını, ›Sag es nicht, sprich nicht, halt den Mund‹. So sind Deutsche nicht. Deutsche brauchen ein Gegenüber, das ihnen ganz klare Kante gibt. Sonst respektieren sie den anderen nicht. Das war aber nicht Teil unserer Kultur. Was sie damals gebraucht hätten, wären Leute wie ich gewesen, die sagen: ›So, jetzt mal stopp hier, du Kartoffel! Jetzt mal vorbei mit deiner ganzen Spielerei!‹ Das hätten sie gebraucht. Immerhin kommen sie in meine Show. Sie bezahlen mich, damit ich ihnen das sage. Es geht mir nicht darum, Deutsche abzulehnen. Ich wünsche mir keine Welt ohne Deutsche. Sie sind lustige Leute. Aber ich lasse mich nicht demütigen.«

Der Vater des Politikers Cem Özdemir nahm seinen Sohn oft beiseite und klärte ihn darüber auf, wie er sich zu verhalten habe: »›Wenn du redest, wenn du auftrittst, vertrittst du nicht nur dich. Du vertrittst viele andere mit. Und jeder Fehler, den du machst, den machen wir alle mit. Umgekehrt, wenn du einen Erfolg hast, ist es nicht dein Erfolg, sondern unser aller Erfolg.‹ Daran habe ich mich leider nicht gehalten. Ich habe viele Fehler gemacht«, reflektiert Özdemir. »Aktuell hat mir die Fraktion den Job des Verkehrsausschussvorsitzenden gegeben. Wenn ich dort mittwochs pünktlich um neun Uhr mit Anzug und Krawatte erscheine, selbst wenn ich mittlerweile fast der letzte Krawattenträger bin, sehe ich immer meinen Papa da oben, wie er auf mich schaut und aufpasst. ›Vergiss niemals, du heißt nicht Hans oder Detlev oder Eberhard. Du heißt Cem, und wenn du Cem heißt, dann schauen die Leute anders auf dich.‹«

Selten erlebte ich Cem Özdemir privat von sich plaudernd. Am Anfang seiner politischen Karriere spielte ich mit meiner Band auf seinen Wahlkampfveranstaltungen in Baden-Württemberg – um ehrlich zu sein, ohne je daran zu glauben, dass er, ein Türkeistämmiger, ins Parlament gewählt werden würde. Jahre später begegneten wir uns oft in Istanbul, als ich dort bei einem Fernsehsender arbeitete. Einmal hat er uns sogar kurz bei der Entwicklung einer Fernsehserie beraten, der ersten (und letzten) Unterhaltungsserie im türkischen Fernsehen, in der es um den Erhalt der Natur und Umwelt ging. Er wirkte immer professionell auf mich – fleißig, pünktlich, stets auf den Punkt. Vielleicht weil seine Mutter gestorben war, kurz bevor ich ihn traf, war er diesmal nachdenklich, fast verlegen.