Die Stimmen des Abends

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Die Stimmen des Abends
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Natalia Ginzburg

Die Stimmen des Abends

Aus dem Italienischen

von Alice Vollenweider


In dieser Erzählung sind die Orte und Personen erfunden. Die einen finden sich auf keiner Landkarte, die anderen leben nicht, noch haben sie je gelebt, auf keinem Fleck der Erde. Und es tut mir leid, dies zu sagen, denn ich habe sie geliebt, als wären sie wirklich.

Titel der Originalausgabe: »Le voci della sera«

Copyright © Giulio Einaudi Editore S.p.A., Torino 1961

Copyright © für die deutsche Übersetzung: 1996 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-30-9

Ich hatte meine Mutter zum Arzt begleitet, und wir kehrten auf dem Fußweg zurück, der an General Sartorios Wäldchen und dann an der hohen bemoosten Mauer der Villa Bottiglia vorbeiführt.

Es war Oktober, es begann schon kühler zu werden; im Dorf hinter uns wurden die ersten Lampen angezündet, und die blaue Leuchtkugel des Hotels Concordia warf ihr gläsernes Licht auf den verlassenen Dorfplatz.

Meine Mutter sagte: »Ich habe einen Knoten im Hals. Wenn ich schlucke, tut es mir weh.«

Sie sagte: »Guten Abend, Herr General.«

General Sartorio war an uns vorbeigegangen, den Hut auf dem silbernen Lockenschopf, das Monokel im Auge und den Hund an der Leine.

Meine Mutter sagte: »Was für ein schöner Haarwuchs in diesem Alter!«

Sie sagte: »Hast du gesehen, wie hässlich sein Hund geworden ist? – Jetzt habe ich einen Geschmack wie von Essig in der Kehle. Es ist dieser Knoten, der immer noch wehtut.«

»Wieso hat er mir hohen Blutdruck gemessen? Ich hatte immer niederen.«

Sie sagte: »Guten Abend, Gigi.«

General Sartorios Sohn war vorbeigegangen im weißen Dufflecoat. In einer Hand trug er eine Salatschüssel, die mit einer Serviette bedeckt war, sein anderer Arm war in einem Gipsverband nach außen gewinkelt.

»Er hat einen wirklich schlimmen Sturz getan. Wer weiß, ob er seinen Arm je wieder richtig bewegen kann«, sagte meine Mutter.

Sie sagte: »Wer weiß, was in dieser Salatschüssel war?«

»Irgendwo wird ein Fest sein«, sagte sie dann.

»Bei Terenzis wahrscheinlich. Und wer hingeht, muss etwas mitbringen. Viele machen es heute so.«

Sie sagte: »Aber dich laden sie nie ein.«

»Sie laden dich nicht ein«, sagte sie, »weil sie finden, du bist blasiert. Nicht einmal in den Tennisklub bist du mehr gegangen. Wenn einer nicht unter die Leute geht, sagen sie, er sei blasiert, und kümmern sich nicht mehr um ihn. Die Bottigliakinder dagegen, die werden überallhin eingeladen. Letzthin haben sie bei Terenzis bis drei Uhr früh getanzt. Es waren Leute von auswärts dabei, sogar ein Chinese.«

Bei uns zu Hause spricht man immer noch von den Bottigliakindern, obwohl die Jüngere nun neunundzwanzig Jahre alt ist.

Sie sagte: »Ich werde doch wohl nicht Arteriosklerose haben?«

Sie sagte: »Kann man sich denn auf diesen neuen Arzt verlassen? Der alte war alt, das wusste man; er interessierte sich für nichts mehr. Wenn man ihm von irgendwelchen Beschwerden sprach, sagte er sogleich, er habe sie auch. Er schreibt alles auf; hast du gesehen, wie er alles aufschreibt? Hast du gesehen, wie hässlich seine Frau ist?«

Sie sagte: »Aber kannst du nicht auch einmal ein Wort sagen?«

»Was für eine Frau?«, sagte ich.

»Die Frau des Arztes.«

»Die, die uns geöffnet hat«, sagte ich, »war nicht seine Frau. Das war die Krankenschwester. Die Tochter des Schneiders von Castello. Hast du sie nicht erkannt?«

»Die Tochter des Schneiders von Castello? Wie hässlich sie ist.«

»Aber warum trug sie denn keinen weißen Kittel?«, sagte sie. »Sie ist wohl Dienstmädchen und nicht Krankenschwester bei ihm …«

»Sie trug keinen weißen Kittel«, sagte ich, »weil sie ihn schon ausgezogen hatte; sie wollte eben weggehen. Der Arzt hat weder Dienstmädchen noch Frau. Er ist Junggeselle und isst im Concordia.«

»Er ist Junggeselle?«

Sofort verheiratete meine Mutter mich in Gedanken mit dem Arzt.

»Wer weiß, ob es ihm hier besser gefällt als in Cignano, wo er vorher war? Wahrscheinlich gefiel es ihm besser in Cignano. Dort gibt es mehr Leute und mehr Leben. Wir werden ihn einmal zum Mittagessen einladen müssen. Mit Gigi Sartorio.«

»In Cignano«, sagte ich, »hat er seine Braut. Sie heiraten im Frühling.«

»Wer?«

»Der Arzt.«

»So jung und schon verlobt?«

Wir waren auf dem ganz mit Blättern bedeckten Weg unseres Gartens; man sah das erleuchtete Fenster der Küche und unser Dienstmädchen Antonia, das Eier zu Schaum schlug.

Meine Mutter sagte: »Nun ist mir dieser Knoten in der Kehle ganz eingetrocknet und geht weder hinauf noch hinunter.«

Seufzend setzte sie sich im Flur und schlug die Galoschen aneinander, um den Schmutz abzuschütteln, und mein Vater erschien auf der Schwelle des Arbeitszimmers mit der Pfeife und seiner Hausjacke aus Pyrenäenwolle.

»Ich habe hohen Blutdruck«, sagte meine Mutter mit ein wenig Stolz.

»Hoch?«, sagte Tante Ottavia oben an der Treppe und steckte ihre beiden schwarzen Zöpfchen fest, die so filzig waren wie diejenigen einer Puppe.

»Hohen, nicht niedrigen.«

Tante Ottavia hatte eine rote und eine blasse Wange, wie immer, wenn sie im Lehnstuhl nahe beim Ofen mit einem Buch der Bibliothek ›Selecta‹ eingeschlafen ist.

»Von der Villa Bottiglia«, sagte Antonia an der Küchentüre, »haben sie herübergeschickt, weil sie Mehl brauchten für Ofenküchlein. Ich habe eine Schüssel voll gegeben.«

»Schon wieder! Immer fehlt ihnen das Mehl. Wieso machen sie auch Ofenküchlein? Für den Abend ist das zu schwer verdaulich.«

»So schwer verdaulich sind sie nicht«, sagte Tante Ottavia. »Sie sind schwer verdaulich.«

Meine Mutter zog Hut, Mantel und das Katzenpelzfutter, das sie immer unter dem Mantel trägt, aus und legte den Schal weg; sie pflegt ihn mit einer Sicherheitsnadel auf der Brust zu befestigen.

»Vielleicht«, sagte sie, »machen sie die Ofenküchlein für das Fest, das bei Terenzis sein muss. Wir haben auch Gigi Sartorio gesehen mit einer Salatschüssel. Wer kam das Mehl holen? Carola? Erzählte sie dir nichts von einem Fest?«

»Nein, mir hat sie nichts erzählt«, sagte Antonia.

Ich ging in mein Zimmer hinauf. Mein Zimmer ist im obersten Stock, wo man einen weiten Blick über das Land hat. In der Ferne sieht man die Lichter von Castello und oben auf dem Hügel die wenigen Lichter von Castel Piccolo. Jenseits der Hügel ist die Stadt.

Mein Zimmer hat ein Alkovenbett mit Musselinvorhängen, einen niedrigen Lehnsessel aus mausgrauem Samt, eine Spiegelkommode und einen Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Weiter gibt es da einen braunen Majolikaofen, einen Korb mit Holzscheiten und ein drehbares Büchergestell, auf dem ein Gipswolf steht. Der Sohn unseres Pächters, der im Irrenhaus ist, hat ihn gemacht. An der Wand hängt eine Reproduktion der Madonna della Seggiola, eine Ansicht von San Marco und eine große Strumpftasche aus Spitzen und mit hellblauen Schleifchen, ein Geschenk von Frau Bottiglia.

Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt.

Ich habe eine Schwester, die ein bisschen älter und in Johannesburg verheiratet ist; und meine Mutter liest immer die Zeitung, um nachzusehen, ob etwas von Südafrika drinsteht. Sie macht sich Gedanken über alles, was dort unten vorgeht. Nachts wacht sie auf und sagt zu meinem Vater:

»Aber dort, wo Teresita ist, da werden doch wohl die Mau-Mau nicht hinkommen?«

Ich habe einen Bruder, der etwas jünger ist, und in Venezuela arbeitet. Im Garderobenschrank sind noch seine Fecht- und Tauchermasken und seine Boxhandschuhe, denn er war von klein auf sportlich; wenn einer den Schrank öffnet, fallen ihm die Boxhandschuhe auf den Kopf.

Meine Mutter beklagt sich immer, dass ihre Kinder so weit weg sind; und häufig weint sie sich deswegen aus bei ihrer Freundin, Ninetta Bottiglia.

Freilich sind das Tränen, die sie ganz gerne vergießt; denn es sind Tränen, die ihr schmeicheln, Tränen, in die sich der Stolz mischt, dass sie ihren Pollen an so weit entfernte und gefährliche Orte verstreut hat. Der größte Kummer meiner Mutter ist aber, dass ich noch nicht verheiratet bin. Dieser Kummer demütigt sie und lässt sie nur in der Tatsache Trost finden, dass auch die Bottigliakinder mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet sind.

Lange Zeit hegte meine Mutter den Traum, dass ich General Sartorios Sohn heiraten würde, ein Traum, der sich in Luft auflöste, als man ihr sagte, Gigi Sartorio sei morphiumsüchtig und interessiere sich nicht für Frauen. Manchmal denkt sie jedoch wieder daran, erwacht nachts und sagt zu meinem Vater:

»Wir müssen den Sohn des Generals zum Mittagessen einladen.«

Dann sagt sie: »Glaubst du, er ist pervers?«

Mein Vater sagt: »Wie soll ich das wissen?«

»Man sagt das von vielen und vielleicht sagte man es auch von unserem Giampiero.«

»Wahrscheinlich«, sagt mein Vater.

»Wahrscheinlich? Wieso wahrscheinlich? Weißt du, dass jemand das gesagt hat?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Wer konnte nur so etwas sagen von meinem Giampiero?«

Wir wohnen seit vielen Jahren im Dorf. Mein Vater ist der Notar der Fabrik. Der Advokat Bottiglia ist der Verwalter der Fabrik. Das ganze Dorf lebt von der Fabrik. Die Fabrik stellt Stoffe her.

 

Ihr Geruch erfüllt die Straßen des Dorfes, und bei Schirokko dringt er fast bis zu unserem Haus, das in der offenen Landschaft steht. Es ist ein Geruch, der manchmal an angefaulte Trauben, manchmal an geronnene Milch erinnert. Es gibt kein Mittel dagegen, sagt mein Vater, da er von den Säuren kommt, die sie in der Fabrik verwenden.

Die Besitzer der Fabrik sind die De Francisci.

Den alten De Francisci nannte man den alten Balotta. Er war klein und dick und hatte einen großen runden Bauch, der aus den Hosen quoll, und einen hängenden Schnurrbart, der vergilbt war von den Zigarren, an denen er kaute und saugte. Er fing an mit einer winzigen Baracke, erzählt mein Vater. Er fuhr auf dem Rad herum mit einem alten Soldatentornister, in dem er sein Essen hatte. Er aß in der Sonne, an eine Mauer des Hofs gelehnt, die Jacke voller Brosamen, und trank den Wein aus der Flasche. Diese Mauer steht immer noch; man nennt sie die Mauer des alten Balotta, weil er abends nach der Arbeit mit zurückgeschobener Mütze dort stand, seine Zigarre rauchte und sich mit den Arbeitern unterhielt.

Mein Vater sagt: »Als der alte Balotta noch da war, passierten gewisse Dinge nicht.«

Der alte Balotta war Sozialist. Er blieb Sozialist, auch als er, während des Faschismus, die Gewohnheit, seine Meinung laut zu sagen, ablegte. Damals war er oft melancholisch und trüber Laune, und morgens, wenn er aufstand, schnupperte er herum und sagte zu seiner Frau Cecilia:

»Was für ein Gestank!«

Und sagte:

»Ich ertrage ihn nicht mehr.«

Seine Frau Cecilia sagte:

»Du erträgst den Geruch deiner Fabrik nicht mehr?«

Er sagte:

»Ich ertrage ihn nicht mehr.«

Und sagte:

»Ich ertrage das Leben nicht mehr.«

»Das Wichtigste ist die Gesundheit«, sagte Cecilia.

»Du«, sagte der alte Balotta zu seiner Frau, »sagst immer neue und originelle Dinge.«

Später wurde er gallenkrank und sagte zu seiner Frau: »Jetzt, wo ich nicht einmal mehr meine Gesundheit habe, ertrage ich das Leben nicht mehr.«

»Man lebt, solange Gott es will«, sagte Cecilia.

»Ach was, Gott! Das fehlte gerade noch, dass es einen Gott gäbe!«

Er lehnte sich immer noch an seine Mauer im Hof; und diese Mauer und diese Ecke des Hofes ist alles, was noch von der alten Baracke übrig ist; der Rest ist heute ein Gebäude von Eisenbeton, so groß wie das ganze Dorf. Aber er aß nicht mehr seine Brote; der Arzt hatte ihm eine Diät von gekochtem Gemüse verordnet, die er zwangsläufig daheim am Tisch verzehren musste, und er hatte ihm auch den Wein, die Zigarre und das Rad fahren verboten: er wurde im Auto in die Fabrik gebracht.

Der alte Balotta nahm einen Jungen von entfernten Verwandten, der schon früh Waise geworden war, in sein Haus und ließ ihn mit seinen Kindern studieren. Er hieß Fausto, aber alle nannten ihn Purillo, weil er immer einen Purillo, eine Art Baskenmütze, trug, die er bis über die Ohren zog. Während des Faschismus wurde Purillo Faschist, und der alte Balotta sagte:

»Natürlich: Purillo ist wie eine Kotfliege, wo er sich hinsetzt, hat es Scheißdreck.«

Der alte Balotta ging über den Hof der Fabrik, die Hände auf dem Rücken, die Mütze fast in den Nacken geschoben, einen fleckigen und abgenutzten Schal wie eine Schnur um den Hals geschlungen. Vor Purillo, der nun in der Fabrik arbeitete, hielt er an und sagte zu ihm: »Du bist unsympathisch, Purillo. Ich kann dich nicht leiden.«

Purillo lächelte, indem er seinen kleinen Mund mit den gesunden weißen Zähnen öffnete, breitete die Arme aus und sagte:

»Ich kann ja nicht allen sympathisch sein.«

»Das stimmt«, sagte der alte Balotta und entfernte sich, die Hände auf dem Rücken, mit seinem krummen Schritt, indem er in den Schuhen wie in Pantoffeln schlurfte.

Später, als es ihm schlechter ging, ernannte er Purillo zum Direktor der Fabrik.

Seine Frau Cecilia konnte sich über dieses ihren Söhnen zugefügte Unrecht nicht beruhigen und fragte:

»Warum Purillo und nicht Mario oder Vincenzino?« Aber der alte Balotta sagte:

»Das soll dich nicht kümmern. Kümmere du dich um deine Saucen. Purillo ist intelligent, deine Söhne nicht. Purillo ist intelligent, auch wenn ich ihn nicht leiden kann.«

Und er sagte:

»Und im Krieg wird ja früher oder später alles vor die Hunde gehen.«

Purillo hatte immer bei ihnen in der Casetta gewohnt, so nannte man das Haus des alten Balotta, das er sich noch in der Zeit des Ersten Weltkrieges für wenig Geld gekauft hatte und das, als er es kaufte, ein kleines Bauernhaus war mit Gemüse- und Obstgarten und Reben; dann hatte er es vergrößert und verschönert mit Veranden und Loggien, ohne ihm aber sein ländliches Aussehen zu nehmen. Purillo wohnte seit jeher in der Casetta, aber eines schönen Tages schickte ihn der alte Balotta weg. Von da an wohnte Purillo in Pietre, einem Haus am andern Abhang des Hügels, das der alte Balotta für seine Geschwister, Onkel Tommaso und Tante Maria, gekauft hatte und wohin er seine Söhne für eine gewisse Zeit ins Exil sandte, wenn er zu heftig mit ihnen gestritten hatte. Als er aber Purillo dorthin schickte, war es offensichtlich eine endgültige Sache, und am Abend nachdem er weggegangen war, weinte Cecilia bei Tisch; nicht dass sie Purillo besonders gern gehabt hätte, aber es tat ihr leid, ihn nicht mehr im Haus zu haben, weil er seit seiner Kindheit immer dagewesen war. Der alte Balotta sagte: »Du wirst doch nicht deine Tränen vergeuden für Purillo? Ohne seine hässliche Schnauze schmeckt mir das Abendbrot besser.«

Weder Onkel Tommaso noch Tante Maria wurden gefragt, ob es ihnen passe, dass Purillo nun bei ihnen wohnte; denn der alte Balotta fragte weder den einen noch die andere je um ihre Meinung oder Zustimmung. Er sagte:

»Mein Bruder Tommaso ist, mit Verlaub zu sagen, ein Esel.«

»Meine Schwester Maria ist, mit Verlaub zu sagen, eine Gans.«

Selbstverständlich wurde auch Purillo nicht gefragt, ob er gern bei Onkel Tommaso und Tante Maria wohne.

Purillo war übrigens auch sehr wenig mit den beiden Alten zusammen. Er nahm mit ihnen die Mahlzeiten ein, und nach dem Essen zog er ein Etui aus Schlangenleder mit seinen goldenen Initialen hervor:

»Eine Zigarette, Onkel Tommaso?«

»Eine Zigarette, Tante Maria?«

Er gab sich nicht die Mühe, irgendetwas anderes zu sagen.

Er setzte seine Mütze auf und ging in die Fabrik.

Onkel Tommaso und Tante Maria hatten Angst und Respekt vor ihm. Sie wagten nichts zu sagen, als er im Esszimmer eine große Fotografie aufhängte, auf der er im schwarzen Hemd und mit ausgestrecktem Arm zwischen Parteibonzen stand, die die Fabrik besucht hatten.

Onkel Tommaso und Tante Maria hatten keine entschiedene politische Meinung. Sie flüsterten aber zueinander: »Wenn Balotta einmal zu uns kommt, was machen wir dann?«

Das war allerdings eine unwahrscheinliche Möglichkeit, weil der alte Balotta nie nach Pietre ging.

Dann kam der Krieg. Die Söhne Balottas gingen in den Krieg, aber Purillo wurde ausgemustert, weil sein Brustkorb zu schmal war und er zudem als Kind eine Lungenentzündung durchgemacht hatte, sodass man auf einer Seite noch ein Pfeifen hörte.

Nach dem 8. September kam Purillo in einer Nacht in die Casetta und weckte Balotta und seine Frau Cecilia. Er sagte ihm, er solle sich sofort ankleiden und mit ihm kommen, weil die Faschisten ihn holen wollten. Balotta protestierte und sagte, er würde keinen Schritt machen; denn im Dorf seien ihm alle wohlgesinnt und niemand würde es wagen, ihm etwas anzutun. Aber Purillo ergriff mit marmorhartem Gesicht einen Koffer. Dann stellte er sich hin, die Hände am Gürtel, und sagte:

»Wir wollen keine Zeit verlieren. Packen Sie ein paar Sachen ein, damit wir gehen können.«

Da gab der alte Balotta nach und begann sich anzukleiden, und seine Hände, die mit Sommersprossen und krausen weißen Haaren bedeckt waren, mühten sich vergeblich mit den Knöpfen der Hosenträger ab.

»Wohin geht es?«, fragte er.

»Nach Cignano.«

»Nach Cignano, nach Cignano? Und zu wem?«

»Überlassen Sie das mir.«

Die erschrockene Cecilia ging durch die Zimmer und raffte zusammen, was ihr gerade in die Hände kam, Blumenvasen, silberne Löffelchen und alte Leibchen. Purillo ließ sie ins Auto steigen. Er fuhr, ohne ein Wort zu sagen, mit seiner langen Vogelnase, die sich auf den schwarzen stacheligen Schnurrbart krümmte, dem kleinen verschlossenen Mund und der Mütze, die er über die Ohren gezogen hatte.

»Purillo«, sagte der alte Balotta, »vielleicht rettest du mir das Leben. Aber du bist mir trotzdem unsympathisch und ich kann dich nicht leiden.«

Und Purillo sagte dieses Mal:

»Ihnen muss ich ja auch nicht sympathisch sein.«

»Das stimmt«, sagte der alte Balotta.

Purillo siezte den alten Balotta, weil Balotta ihn nie aufgefordert hatte, ihn mit du anzureden.

In Cignano hatte Purillo für sie eine kleine Wohnung gemietet. Sie verbrachten die Tage in der Küche, wo der Ofen war. Purillo besuchte sie fast jeden Abend.

Die Faschisten waren tatsächlich in die Casetta eingedrungen und hatten Fensterscheiben eingeschlagen und mit Bajonettstößen die Polstersessel aufgeschlitzt.

Cecilia starb in Cignano. Sie entschlief ruhig, während sie ihrer Wirtin, mit der sie Freundschaft geschlossen hatte, die Hand drückte. Der alte Balotta war auf die Suche nach einem Arzt gegangen. Als er mit dem Arzt zurückkam, war seine Frau tot.

Er konnte es nicht fassen und fuhr fort, sie zu rufen und zu schütteln; er glaubte, sie sei nur ohnmächtig geworden. Beim Begräbnis waren nur er und Purillo und die Hauswirtin. Onkel Tommaso und Tante Maria lagen krank mit Fieber in Pietre.

»Angstfieber«, sagte der alte Balotta.

Später erschien auch Purillo nicht mehr. Balotta war so allein, dass er fast Lust hatte, ihn zu sehen. Immer wieder fragte er die Hauswirtin:

»Wo hat sich nur Purillo verkrochen?«

Später erfuhr man, dass Purillo in die Schweiz geflohen war, da er sowohl von den Faschisten als auch von den Partisanen mit dem Tod bedroht wurde. Ein alter Landvermesser, ein gewisser Borzaghi, hatte nun die ganze Fabrik auf dem Hals. Aber dem alten Balotta war die Fabrik nicht mehr wichtig.

Sein Gedächtnis begann etwas nachzulassen. Häufig schlief er mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl in der Küche ein. Plötzlich fuhr er aus dem Schlaf auf und fragte die Hauswirtin:

»Wo sind meine Söhne?«

Er fragte sie das mit drohender Miene, als ob die Wirtin sie in der Vorratskammer eingeschlossen hätte.

»Die erwachsenen Söhne sind im Krieg«, sagte die Wirtin, »erinnern Sie sich nicht mehr daran, dass sie im Krieg sind? Und Tommasino, der Kleine, ist im Internat. Und von den Mädchen ist Gemmina in der Schweiz und Raffaella in den Bergen, bei den Partisanen.«

»Was für ein Leben«, sagte der alte Balotta.

Und er schlief wieder ein und fuhr hie und da wieder auf, mit erloschenen Augen blickte er um sich, wie jemand, der nicht weiß, wo er sich befindet.

Nach der Befreiung kam Tante Maria ihn mit Automobil und Chauffeur holen. Er erkannte den Chauffeur, der der Sohn eines seiner Arbeiter war, und umarmte ihn. Tante Maria reichte er zwei schlaffe Finger und schaute sie schief an.

Er sagte: »Du bist nicht einmal zum Begräbnis von Cecilia gekommen.«

»Ich hatte vierzig Grad Fieber«, sagte Tante Maria.

Man brachte ihn in die Casetta. Tante Maria hatte die Scherben weggewischt und die Zimmer zusammen mit der Bäuerin etwas aufgeräumt: Aber es gab weder Matratzen noch Leintücher, noch Besteck oder Geschirr. Der Garten, wo Cecilia einst in ihrer blauen Schürze, die Schere am Gürtel und die Gießkanne in der Hand, durch die Rosen ging, war verwüstet.

Der alte Balotta ging mit Tante Maria nach Pietre. Dort war Onkel Tommaso, immer noch derselbe, rosig, in einem frisch gewaschenen Hemd und einer weißen Flanellhose.

Der alte Balotta setzte sich und begann wie ein Kind in sein Taschentuch zu schluchzen.

Er sagte:

»Es ist besser, dass Cecilia gestorben ist und diese ganze Verwüstung nicht sieht.«

Tante Maria streichelte seinen Kopf und wiederholte: »Tapfer, tapfer, aber sei doch tapfer, aber du bist ja tapfer.« Onkel Tommaso sagte:

»Ich war der Erste, der die Partisanen ankommen sah. Ich war mit meinem Fernglas am Fenster, zusammen mit General Sartorio, und ich sah sie auf der Straße ankommen. Ich bin ihnen mit zwei Flaschen Wein entgegengegangen, weil ich dachte, sie haben Durst.«

 

Und er sagte:

»Die Deutschen haben die Maschinen aus der Fabrik geholt. Aber das ist nicht schlimm, weil uns die Amerikaner neue Maschinen geben werden.«

Der alte Balotta sagte:

»Schweig doch, du bist immer noch ein Esel.«

»Borzaghi war wirklich tapfer«, sagte Tante Maria. »Die Deutschen hatten auch ihn verhaftet, aber er sprang vom fahrenden Zug und brach sich eine Schulter.«

Sie sagte:

»Weißt du, dass sie den Nebbia umgebracht haben?«

»Den Nebbia?«

»Ja. Die Faschisten haben ihn verhaftet und umgebracht, hier oben, auf diesen Felsen. Es war Nacht, und wir hörten Schreie. Und am Morgen fand die Bäuerin den Schal, die kaputte Brille und den haarigen Filzhut, den er immer trug.«

Der alte Balotta betrachtete die untergehende Sonne über dem felsigen Abhang hinter dem Haus, das deshalb ›Le Pietre‹ genannt wurde, und den Föhrenwald am Hügel, jenseits des Hügels die Berge mit ihren schneebedeckten Spitzen, die Gletscher mit den langen, blauen Schatten und einen weißen runden Gipfel wie ein Zuckerhut, der ›Lo Scivolo‹ heißt, und wohin seine Söhne sonntags mit ihren Freunden Ausflüge machten.

Am nächsten Tag kam der Bürgermeister, um ihn zu bitten, er möge zur Feier der Befreiung eine Rede halten. Sie brachten ihn auf den Balkon des Rathauses, unter dem der Platz voll von Menschen war. Die Leute standen bis auf die Straße hinaus und waren sogar auf Bäume und Telegrafenstangen geklettert.

Er sah Gesichter, die er kannte, seine Arbeiter, aber er schämte sich doch, zu sprechen. Er stützte seine Hände auf das Geländer und sagte:

»Es lebe der Sozialismus!«

Dann erinnerte er sich an Nebbia. Er hob seine Mütze und sagte:

»Es lebe Nebbia.«

Ein mächtiger Applaus brach los, so laut wie Donnergroll, und er war davon zuerst ein wenig erschrocken, dann aber sofort sehr erfreut.

Er wollte noch weitersprechen; aber er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er keuchte und fingerte am Rockkragen herum. Man führte ihn vom Balkon weg, weil der Bürgermeister sprechen musste.

Während sie heimkehrten, sagte Onkel Tommaso zu ihm:

»Nebbia war doch kein Sozialist. Ein Kommunist war er.«

»Das ist nicht wichtig«, sagte der alte Balotta. »Schweig du lieber; du bist immer noch ein Esel.«

Zu Hause schickte ihn Tante Maria ins Bett, weil er rot und erhitzt war und schwer atmete.

In der Nacht starb er.

Im Dorf sagte man:

»Was für ein Unglück, dass der alte Balotta gestorben ist! Jetzt, wo man nicht weiß, was aus seinen Söhnen geworden ist, und die Fabrik Purillo auf den Schultern bleibt.« Und man sagte:

»So viele Kinder hat er, und keines war bei ihm, als er starb.«

Am Tag nach seinem Tod kam seine jüngere Tochter Raffaella, die mit den Partisanen in den Bergen gewesen war. Sie trug Hosen, ein rotes Halstuch und eine Pistole in der Tasche. Sie konnte es kaum erwarten, sich ihrem Vater mit dieser Pistole zu zeigen. Sie kam nach Le Pietre und fand am Gartentor Tante Maria, die einen schwarzen Schleier auf dem Kopf trug, zu weinen begann und sagte:

»Was für ein Unglück, was für ein Unglück!«

Dann umarmte sie Raffaella und sagte immer wieder: »Tapfer, tapfer, aber wie du tapfer bist!«

Und sagte:

»Aber diese Pistole wird doch nicht schießen?«

Während des Krieges waren wir zuerst in Castello und dann in Castel Piccolo evakuiert; man hatte Angst, das Dorf werde der Fabrik wegen bombardiert. In Castello hielt meine Mutter Hühner, Truthühner und Kaninchen, und sie hatte auch einen Bienenstock eingerichtet. In seinem Bau musste aber irgendein Fehler sein, denn als es zu schneien begann, starben alle Bienen.

In Castel Piccolo wollte meine Mutter keine Tiere mehr halten. Sie sagte, die Tiere, die sie versorgt habe, seien ihr ans Herz gewachsen, sodass sie dann nicht mehr imstande sei, sie zu kochen.

Heute haben wir wieder Tiere auf unserem Bauernhof, der ›Vigna‹ heißt und, ungefähr einen Kilometer von uns entfernt, in der Nähe des Waldes von Castello liegt. Meine Mutter geht zwei- oder dreimal in der Woche dorthin, aber sie schließt keine Freundschaft mit den Tieren. Die Bäuerin versorgt sie und Antonia schlachtet sie, rupft sie oder zieht ihnen das Fell ab, sodass meine Mutter sie ohne Rührung in der Pfanne drehen kann, weil sie nicht daran denkt, dass sie einmal Federn oder ein Fell hatten.

Nach der Befreiung wurde meine Schwester gebeten, als Dolmetscherin zu arbeiten, weil sie gut Englisch sprach. Ein amerikanischer Oberst verliebte sich in sie; sie heirateten und gingen nach Johannesburg, wo er eine Fabrik hat.

Ich ging in der Stadt auf die Universität. Ich wohnte zusammen mit dem jüngsten Bottigliakind im protestantischen Studentinnenheim. Giuliana Bottiglia beendete das Lehrerseminar, ich promovierte in Literatur; dann kehrten wir beide in unser Dorf zurück.

Ich gehe unter dem einen oder anderen Vorwand ein- bis zweimal in der Woche in die Stadt: Ich hole für Tante Ottavia neue Bücher in der Bibliothek ›Selecta‹; ich kaufe für meine Mutter Stickgarn und Haferflockenbiskuits oder für meinen Vater eine spezielle Marke englischen Pfeifentabaks.

Ich nehme gewöhnlich den Autobus, der um halb eins vom Dorfplatz wegfährt, und in der Stadt steige ich am Corso Piacenza aus, ein paar Schritte von der Via dello Statuto, wo sich die Bibliothek ›Selecta‹ befindet.

Der letzte Autobus fährt um zehn Uhr abends.

Ich saß auf dem kleinen Lehnstuhl und presste die Hände an die Ofenwand; wenn es zu heiß wurde, nahm ich sie weg und legte sie auf mein Gesicht; dann presste ich sie von Neuem an den Ofen. So verging eine halbe Stunde. Giuliana Bottiglia trat ein.

Sie trug schwarze Strümpfe, wie es damals Mode war, schwarze Wildlederhandschuhe, einen sehr kurzen weißen Regenmantel und ein schwarzseidenes Kopftuch. »Störe ich?«, sagte sie.

Sie setzte sich, legte Handschuhe und Kopftuch weg und begann, sich mit dem Kamm Wellen zu legen. Dann schüttelte sie ihr schwarzes, toupiertes Haar samt den Schläfenlöckchen.

»Heute«, sagte sie, »bin ich im Kino in Cignano gewesen.«

»Was lief?«

»›Feurige Finsternis‹«

»Und warum war die Finsternis feurig?«

»Weil er ein erblindeter Ingenieur war«, sagte sie. »Und sie war ein Straßenmädchen, aber er weiß es nicht und glaubt, sie sei unberührt. Dann heiraten sie und beziehen eine sehr schöne Wohnung. Er beginnt aber, Verdacht zu schöpfen.«

»Wieso Verdacht?«

»Weil sie ihm gesagt hatte, dass sie früher arm war. Er aber entdeckt, dass sie gar nicht so arm war, weil sie Juwelenschmuck besitzt. Er entdeckt das, weil das Zimmermädchen, das sie mit diesem Schmuck gesehen hatte, es ihm erzählte.«

»Vorher?«

»Ja, vorher. Und er hört eines Abends, auf der Terrasse, dass sie mit einem Mann spricht. Es ist ein Bankier, der sehr verliebt ist in sie und der ihre Vergangenheit kennt und sie erpresst. Er sagt ihr, sie müsse sich ihm hingeben; sonst geht er zum Blinden und sagt ihm alles. Yul Brynner ist der Bankier.«

»Der mit der Glatze?«

»Ja. Darauf lässt sich der Ingenieur eine Operation machen, nach der er sterben oder wieder sehen wird. Sie machen ihm die Operation und er sieht, zuerst unklar, dann deutlich, und sie ist neben ihm, wunderschön, mit einem Hermelinpelz. Und er umarmt den Pelz und weint.«

»Er weint?«

»Ja. Dann fahren sie in die Ferien in eine Villa, aber Yul Brynner kommt auch. Und in der Nacht sucht Yul Brynner sie und findet sie in einem schönen Salon mit Büchern, einer Art Bibliothek. Und er will sie küssen. Da erscheint der Ingenieur und findet sie beieinander.«

»Und dann?«

»Dann flieht Yul Brynner, der Ingenieur ihm nach, und sie stehen auf einem Fenstersims. Und auch sie ist auf den Sims gestiegen, um den Ingenieur zu retten, und fällt herab.«

»Und ist tot?«

»Ja.«

»Und der Ingenieur?«

»Der Ingenieur schießt auf den Bankier, der stirbt; aber bevor er im Spital stirbt, sagt er dem Ingenieur, dass sie so rein war wie eine Heilige. Und der Ingenieur wird wieder blind.«

»Er wird wieder blind?«

»Ja.«

»Wieso wird er wieder blind?«

»Weil seine Augen noch sehr empfindlich sind und die Aufregung seine Netzhaut ruiniert hat.«

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