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Nastasja Penzar

YONA

Roman


Für Doña Alicia.

Auf Ihren wohlverdienten Frieden.

»Dios me la cuide siempre. Un abrazo a la distancia.« 9/2/20, 3:53 AM

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IV

Kapitel X

I

»Die Geburt ist nicht der Anfang.«

Der vernarbte Körper der Frau, die mir und Cristóbal gegenüber sitzt, gibt den ruckartigen Bewegungen des Busses nach wie eine Qualle den Wellen. Ihr Kopf liegt auf der Brust zum Sekundenschlaf, bis eine Bremsung oder das Klingeln eines Handys sie aufweckt, sie kurz ein Auge öffnet, uns halb ansieht und wieder in sich einsinkt. Sie schläft jeden Tag hier in den seit Langem ausrangierten Schulbussen aus Nordamerika, in denen die Abstände zwischen den Sitzbänken für US-amerikanische Kinderbeine bemessen sind.

Zwischen mir und meinem Vater war Holz.

Ich stand vor ihm und dem Sarg, der die Farbe seiner Haut hatte. Die Orgel spielte eine Melodie von früher und bestätigte meine Vermutung, dass diese Art von Musik für traurige Momente gedacht ist. Ich hatte als Kind die Texte der Kirchenlieder nie verstanden in dem hallenden Chorgeschwülst der Stimmen. Als ich anfing, in den Gesangsbüchern zu lesen, musste ich meinen Vater nach fremd klingenden Worten fragen: »ergötze«? »frohlocke«? Er antwortete knapp: »Ich freue mich.« Ich glaubte ihm nicht. Ich dachte, er wolle mir etwas verheimlichen wegen meines Alters, ich wusste, dass zu dieser Art von Musik kein »Ich freue mich« passen konnte.

Der Bus ist voll und die Frau schnarcht. Eine Ameise sucht sich nervös ihren Weg über meinen schwitzenden Arm nach oben. Neben uns sind Abhänge, unter uns der tiefste Teil der Stadt. Häuser und Hütten reihen sich dicht aneinander und nehmen sich gegenseitig die Sicht. Der Bus hält auf dem Viadukt, die Ameise kommt auf meinem Ellenbogen zum Stehen und reibt ihre Fühler, als würde sie auf etwas warten. Die Haltestelle besteht bloß aus einer Reihe von Menschen. Sie stehen dicht gedrängt an dem Geländer der Brücke, das ihnen höchstens bis zu den Kniekehlen reicht. Ihre Kleidung und ihre Haare pressen sich im Wind gegen ihre Körper.

Mein Vater hatte Doñas Namen, ihre Telefonnummer und Adresse auf ein abgerissenes Stück Papier geschrieben. »Cuidado.« Vor Krankheit zitternd legte er den Zettel in meine Hand und schloss meine Finger darum. Ein Vermächtnis. Ich hatte verstanden. Ich lernte die Namen, die Nummer und die Adresse auswendig, und hob ihn trotzdem ein Jahr lang regelmäßig aus der Schublade, um sicher zu sein.

Es sind drei kleine Männer, dünn und dunkel. Den mit dem eingefallen Gesicht bemerke ich zuerst. Er setzt sich irgendwo in die Mitte des Busses, der Zweite setzt sich nicht, schiebt die Menschen im Durchgang beiseite auf seinem Weg nach hinten, vorbei an uns, zielstrebig.

Cris wird unruhig, als wittere er etwas. Der Dritte ist vorne eingestiegen, beim Fahrer und seinem ayudante, seinem Helfer. Ich strenge mich an, sie zu ignorieren, wie ich es bei allen in diesen Bussen mache, bei dem Mann, der uns Kaugummis verkaufen wollte, der bunten Frau mit Baby im Tuch und Spielwaren im Angebot und beim Bußprediger, der die Gunst der Nachmittagsmüdigkeit im rostigen Bus nutzte, um ganz vorn im Bus schwankend das Heil zu predigen. Hier und da bekam er ein »Amen« als Echo aus den hinteren Reihen. Ich schwieg.

Bei der Beerdigung meines Vaters klopften mir die Hände der Fremden ihr Beileid auf den Rücken. Ich nickte für jeden drei Mal, so wie mein Vater es mir beigebracht hatte. Sie redeten auf mich ein, ihre Gesichter verzerrten sich dabei, ich verstand sie nicht mehr. Der Ton in meinem Kopf hatte sie schon lange zum Schweigen gebracht. Ich vergrub mich darin, sank darin ein, keine Stimme der höflich Trauernden drang so tief, dass ich sie hätte hören müssen. »Genieß es doch, stell dir vor, es ist ein Walgesang, Yona«, mein Vater hatte gezwinkert, mehr für sich als für mich. Ich hatte es ihm gegönnt.

Cris neben mir schnaubt einmal kurz und leitet damit die Wende ein. Die Qualle wird wach. Sie starrt. Der ganz vorn ist lauter, als sein Körper hätte vermuten lassen. »Asalto!«, er schreit, aber der Bus bleibt nicht stehen, nur die Passagiere werden plötzlich andächtig wie beim stimmlosen Mitbeten liturgisch vorgeschriebener Abläufe. So wie damals, wenn ich nur die eine alte, gebrochene Stimme aus den Lautsprechern hörte und ahnte, dass alle, die mit mir in dem Gewölbe knieten, simultan dieselben Worte an denselben Gott richteten, während ich sie dabei beobachtete.

»Alles Scheinheilige«, hatte mein Vater gesagt und mich trotzdem jeden Sonntag in unbequeme Schuhe und einen Rock gesteckt und mit Eiscreme zum einstündigen Stillhalten bestochen. »Du kommst nicht drum herum, Yona.« Er hatte geschmunzelt über meinen erneuten Versuch, mich über simulierte Bauchschmerzen vor der Messe zu drücken. »Am Ende, sogar dann, wenn sie dich ins Meer schmeißen, mija«, nur er nannte mich so, mija, meine Tochter. Es war das einzige Wort, das ich ausschließlich in der Tonlage seiner Stimme kannte. »Selbst dann kannst du nicht einfach davonschwimmen, dann kommt ein großer Fisch«, er klappte seine Arme auf, ich rannte weg in meinen Sonntagsschuhen, er lachte, jaulte kurz, machte Walgeräusche. »Am Ende«, er schnappte mich, hob mich hoch und trug mich ins Auto, »spuckt dich der Wal genau da aus, wo du hingehörst. Du kannst dein Ziel gar nicht verfehlen, Yona, das ist ja das Gute.« Wir lachten während der Fahrt über seine Walimitationen, so lange, dass uns noch während der Messe die Wangen wehtaten.

Der mit dem eingefallenen Gesicht in der Mitte des Busses stellt sich in den Gang, hebt den Arm mit der Waffe, wartet auf Aufmerksamkeit, auf seinen Einsatz. Er dreht sich nach vorn, zum Ersten, dem Dirigenten, der dem ayudante gerade fast höflich seine Tasche hinhält, damit er sie mit dem Geld des Fahrers füllen kann. Er nickt dem Eingefallenen zu, Cristóbal stößt mich leicht an, der Eingefallene senkt seinen Arm auf die Höhe unserer Köpfe. Sein Körper schwankt mit den Bewegungen des Busses, seine Pistole dringt ein in unsere andächtige Stille. Dann ist die Busgemeinde dran, sie reichen ihm Wertgegenstände, er nickt dazu, als würde er sich bedanken. Cris’ Hand an meinem Bein kontrolliert meine Bewegungen, kein Kopf der Gemeinde bewegt sich, nur die Augen suchen sich gegenseitig, keiner spricht. Seine Knarre geht die Köpfe ab und die Furcht ist überall, außer in den Gesichtern. Alle wenden sich von ihm ab, als ginge eine Gewalt von seinem Antlitz aus. Selbst Moses wäre gestorben, hätte er Gott ins Gesicht geschaut, hatte mein Vater gesagt, als ich ihn fragte, wie er denn aussehe, dieser Gott.

Cristóbal holte mich vom Flughafen ab. Ich hatte alles dabei. Auch den Zettel. Mein Körper war gekrümmt wegen der Taschen und langsamer, als meine Nervosität es wollte. Alle schwirrten in Richtung Ausgang oder lagen Familienmitgliedern in den Armen. Ich schob mich durch die Glastür aus der Wartehalle, Schwüle, Schweiß und Geräusche setzten sich auf mich, Taxifahrer schrien mir ins Gesicht, ich schüttelte den Kopf, zu langsam, als dass sie es hätten bemerken können. »No«, mein Rachen war verklebt, ich versuchte es noch einmal: »No.« Ich tönte nicht an gegen sie und ihre laute Stadt, legte keine Tasche ab, blieb stehen und suchte mit dröhnendem Kopf. Irgendwo zwischen den Schwirrenden wartete Cristóbal mit meinem Namen auf einem Kartonrest. Er hielt ihn hoch, lief auf mich zu, sein offenes Gesicht kam näher, zwei Küsschen, ich wehrte mich nicht, seine Wange war feucht, kurz klebten wir aneinander. Er nahm zwei Taschen und meinen Ellenbogen. »Da vorne ist das Auto.« Er war schnell, schob mich über die Straße, blieb stehen, selbst gekrümmt vom Gewicht meiner Sachen, drehte sich um, musterte mich. »Entschuldige«, er machte etwas wie ein Lächeln, »ich bin Cristóbal, sie nennen mich Cris. Bienvenida!« Dann fuhr er mich zu Doña.

Der Bus fährt an den Haltestellen vorbei, und die Menschen, die dort warten, sehen uns nur kurz nach, keiner wundert sich darüber. Hier im Bus geht von jedem eine Bewegung aus, das Überreichen der Handtasche oder das Herausholen von Gegenständen aus den Hosentaschen, es ist fließend, der Eingefallene schwitzt an den Schläfen und über den Lippen, zeigt mit seiner winzigen schwarzen Pistole auf Einzelne aus dem Chor der Wegblickenden. Es ist ein Wartezimmer. Es stinkt. Es ist zäh. Ich sehe die Menschen, die vor mir dran sind, einer nach dem anderen kommt an die Reihe, ich rücke auf in der Warteschlange, ich zähle die Menschen, ich will endlich drankommen. Ich habe das Warten immer gehasst. Die Waffe schweift, kommt näher, doch selbst jetzt sieht sie noch erstaunlich klein aus. Der Ton in meinem Kopf wird lauter, er ist tief und ruhig.

Ich saß neben Cristóbal im Auto und sagte nichts. Ich wollte nur ankommen. Er war stolz auf alles, was er zeigen konnte, seine Stadt: Farben, eine große Leuchtreklame in Fünfmeterhöhe, die ich kannte, die die Welt kennt und die wie überall auch hier Zerstreuung von dem ist, was unter ihr geschieht. Männer standen um Autos herum, als wären sie die Quelle von irgendetwas. Sie trugen kurze Hosen, Bäuche und Schlappen. Die Häuser dahinter formten ein chaotisches Bild in ihrer ungleichen Zweistöckigkeit. Ich stellte mir meinen Vater in dieser Umgebung vor. Alles hier war staubig, das überraschte mich. Cris fuhr durch Zonen, erklärte mir die Zahlen und bewertete: »Gefährlich. Nicht so gefährlich. Normal.« Alles sah gleich aus. Vor den Autowerkstätten stapelten sich Reifen, Metall und Müll, rote und gelbe Busse überholten sich gegenseitig und wir sie, Cristóbal fluchte auf einen, hupte, dann lachte er. »Die sind gefährlich«, er überholte und warf ihm mit Blick in den Rückspiegel ein Schimpfwort hinterher. »Wenn du kannst, fahr immer mit einem Bus, wo vorn ein Securitymann drinsteht, manchmal gibt’s auch Securityfrauen, mit Flinte.« Er erwartete jetzt etwas von mir, seine Blicke auf mich wurden länger, ich nickte, damit war er zufrieden. Er überholte zwei Pick-ups und bog von der Straße ab, streckte plötzlich seinen Arm in Richtung meiner Schenkel, das hatte ich nicht kommen sehen, ich zuckte, aber er zeigte nur auf das Handschuhfach über meinen Knien. »Also da ist auch immer eine drin«, er zog seine Hand zurück aufs Lenkrad, dann das Auto in die Kurve. »Willst du mal sehen?«, er grinste, ich sagte: »No.« Mehr nicht.

Unser Bus hat keinen Sicherheitsmann. Und keine Frau. Wir hatten es eilig und nahmen den ersten, der kam. Cris hatte auf die Plakette gezeigt, auf der in bunten Lettern Q Dios Te Bendiga prangte. »Ist schon okay«, Cris war als Erster eingestiegen, »der wird uns beschützen.« Sein Finger zeigte nach oben, als er sich einen Platz für uns aussuchte.

Alles ist langsam, wir sind an der Reihe. Zuerst Cris, die Waffe zeigt auf ihn, schwebt vor mir in Augenhöhe, er ist geübt, kramt in seinen Taschen, holt ein paar Scheine und sein Handy heraus. Der Eingefallene nimmt es und steckt es sich in die Hosentasche. Jetzt ist die Qualle dran. Sie macht das Gesicht eines bockigen Kindes. Der Arm des Eingefallenen ist ausgestreckt, an ihm baumeln schon drei Taschen, die Knarre zielt auf den Schädel der Qualle, sie schwingt ihren Rucksack in seine Richtung, erwischt seinen Körper an der Seite, setzt der schwebenden Waffe etwas entgegen und grinst kurz, als sie mich ansieht. Ihre kleine Rebellion. Dann fällt ihr Kopf wieder auf die Brust. Der Eingefallene schnauft, mit der freien Hand nimmt er den Rucksack, öffnet ihn, sieht kurz hinein, dann treibt der Arm mit der Waffe in meine Richtung, mein Ton wird lauter, setzt sich hinter meine Schläfen und pocht gegen meine Schädelknochen. Ich löse meinen Blick nur langsam von der Qualle, die Waffe zeigt auf meinen Schädel, es ist eine Angst, die mir die Beine absägt. Der Eingefallene sagt nichts, hält nur den geöffneten Rucksack vor mich hin. Sein Beutel für die Kollekte. Er blickt weg, bleibt diskret, als wäre das Ausmaß meiner Spende mir selbst überlassen, ein guter Ministrant.

Ich kannte nur die Pistolen der Jungs zu Karneval, wenn sie als Cowboys gingen. Mein Vater hatte sie gehasst, wir hatten gestritten darüber, ich wollte als Cowboy gehen, ich wollte Plastikenten schießen auf dem Jahrmarkt, ich wollte Ego-Shooter, er sagte Nein.

Meine Hände machen nichts. Alle anderen kennen die Choreografie schon. Erst, wenn keiner mehr über die Abfolge nachdenkt, wird daraus Kunst. Ich mache die Show kaputt. Ich muss mir Mühe geben. Ich muss abgucken, so wie im Ballettunterricht bei den Mädchen in der ersten Reihe, vorn beim anderen und seinen Opfern, wie sie es machen. Dann fängt mein Arm an sich zu bewegen, meine fast eingeschlafene Hand greift in die Hosentasche nach allen Scheinen, die sie erreichen kann, ich halte sie ihm hin, er nimmt sie aus meiner Hand, seine Berührung durchfährt mich kurz, er wirft die Scheine in den offenen Rucksack, bleibt vor mir stehen, gibt mir Zeit nachzudenken, geduldig, die Waffe ist uns sehr nahe. Dann ziehe ich mein Handy unter dem Hemd hervor, ich bin langsam, alles ist zäh, ohne Zeit. Er sieht kurz runter, Hand und Knarre winken ab, mein Handy ist zu alt oder zu billig. Er zieht weiter. Cris legt mir seine Hand auf, ich fühle sie nicht, würde sie abschütteln, wenn ich könnte. Endlich bleibt der Bus stehen für die Eingefallenen. Sie hinterlassen nur Hitze. Und Stille. Cris fasst an mein Bein, sein Griff ist fest. »Du wirst dich dran gewöhnen.«

In der Straße wurde Cris langsamer. »Das hier ist die doce, Zone 12.« Es stand auf dem Zettel, ich hatte es seit Jahren gewusst. »Doña ist eine Göttin, dein Vater hat sie sehr geliebt, du wirst es mögen bei ihr.« Die Fenster der Straße waren verschlossen, ihre Häuser standen wie tot und hatten alle verschlossene Gitter vor den Eingängen. Zwei Männer unterhielten sich leise in einer Einfahrt, Feinripp und braune Waden vor Motorrädern, die Betonhäuser rechts und links hatten fast alle die gleiche Höhe, flache Dächer, klare Linien, dahinter die Berge. »Da vorne ist es, Doña wartet schon.« Cris bremste langsam, einer stand in seinem Fenster, er hob die Hand und grüßte. »Sobald die hier wissen, dass du bei Doña wohnst, bist du sicher wie im Himmel.« Er parkte und beugte sich über mich, um aus meinem Fenster zurückzuwinken. Vor dem Haus spannte sich eine große Markise, rot und blau, es sah wie die Eisdielen in den alten Filmen aus, nur die Gitter darunter passten nicht. Sie warfen Schatten in Streifen auf Doñas Gesicht. Sie lächelte.

II

Mein Vater und ich fuhren an Sommerwochenenden in alle Freibäder. Manchmal saßen wir so lange im Auto, dass wir dreimal dieselben Nachrichten im Radio hörten. Wir bewerteten die Bäder nach verschiedenen Kategorien auf einer Zehner-Skala, zählten die Punkte zusammen und teilten sie durch zwei. Meinem Vater war die Grünanlage am wichtigsten, mir das Eisangebot. Meistens saßen wir dann mit Eis in der Hand am Beckenrand, kommentierten die springenden Jungs und ein, zwei Mädchen, bewerteten sie nach Eleganz und Mut oder wetteten, wer auf dem Bauch aufkommen würde. Einmal drehte ich mich plötzlich zu ihm. »Ich gehe jetzt auch springen.«

Er machte sein Stolzgesicht: »Vom Zehner, mija

»Ja, vom Zehner.«

Ich sprang auf, schob mir den Rest meiner Waffel in den Mund, sodass ich meine Hände frei hatte, und zupfte meinen Badeanzug zurecht. Ich hatte mir schon alles bei den Springerinnen von Olympia abgeschaut, streckte meine Brust raus, zog meinen Bauch ein und wuchs ein paar Zentimeter. Mein Vater schob seine Waffel mit der Eiskugel vor mein Gesicht, als Mikrofon: »Wie fühlen Sie sich an diesem sonnigen, glorreichen Tag, Madame Yona?« Ich lachte, sprach in das Eismikro, spuckte dabei noch ein paar Krümel meiner Waffel drauf, »Gut, wieso?« Sein Mikrofon wanderte zu ihm zurück. »Ihre Fans warten auf Sie, Madame Yona, und werden den Erfolg gebührend feiern nach Ihrer Wiederkehr.«

Dann sah er mich an, sein Gesicht wurde ernst und faltig. »Wenn du oben bist, mija, einfach laufen, glaub deinen Beinen nicht, wenn sie stehen bleiben wollen, immer im selben Tempo laufen, am besten fängst du hier unten schon damit an.« Er beugte sich zum Boden, sah zu mir hoch, klopfte mit seiner freien Hand langsam und gleichmäßig auf die nassen Platten neben dem Handtuch. »Zack, zack, zack, Yo-na, immer im sel-ben Tem-po.« Er machte mich nervös, ich nickte, blieb noch ein wenig stehen, »zack, zack, zack«, ich gewöhnte mich ans Tempo, sein »zack« hallte in mir nach, ich lief nach dem Trommelschlag in meinem Kopf los, ein kleiner Soldat in hellblauem Anzug am Beckenrand. Ich sah meine Füße, »zack, zack«, es war ein Marsch, ich erreichte die Leiter, es gab keine Schlange, »zack, zack«, es war beim Aufsteigen nicht einfach, das Tempo zu halten, Hände, »zack«, und Füße gleichzeitig, Stufe für Stufe, auf dem Fünfmeterbrett ging ich um die Treppe herum, »zack, zack«, ich flüsterte es mit, die Fläche war aus Beton, sie war kalt, das Zehnmeterbrett warf seinen Schatten darauf. Auf der Stufe zum Zehner wurde ich lauter, »zack, zack«, ich befahl es meinem Körper, er zitterte, meine Knie spürten das Ende, den Sprung, ich kämpfte mit dem Tempo, mein Herz pochte mindestens doppelt so schnell, der Boden unter mir wurde mit jedem Schritt weicher, »zack«, ich wurde panisch, das Blau des Beckens war weit, es vermischte sich mit dem Blau meines Badeanzugs, mein kleiner Bauch über meinen Zehen, die zitternd auf mein »zack« reagierten, ich streifte einen Körper, der neben mir am Geländer lehnte, konnte nicht aufblicken, »zack, zack«, kam am Rand an, wünschte mir ein hundert Meter langes Brett, mein Körper wusste, wie lang es war, alles pochte, es tat schon weh, mein rechter Fuß, »zack«, kam mit den Zehen über den Rand, meine Hände pressten sich an meine Beine, meine Stimme blieb stecken in meinem zitternden Körper, fand keinen Weg aus meinem Mund, der sich aufriss beim letzten, stummen »zack«. Mein linker Fuß trat in die Luft. Dann kam die Wucht. Sie zog meinen Körper mit sich, die Luft schnitt an meinem Körper entlang, die Bäume und der Rasen waren schnell, ich senkte den Kopf, er war so schwer, ich sah an meinem blauen Bäuchlein vorbei nach unten, meine Hände pressten, ich wurde schneller, meine Stimme löste sich, »za-«, das A wurde lang, mutierte zu einem nervösen Lachen, laut, befreite mich kurz, ich lachte hysterisch für einen Moment. Dann kam ich auf. Ein Pfeil in die Wasserdecke, sie stoppte mich. Es war plötzlich still. Kurz ohne Orientierung, sah ich meine Glieder irgendwo, oben und unten, suchte, fand die Oberfläche, nahm mir Zeit, es war schön, dumpf. Ich trieb schwerelos. Wurde ruhig. Ein Druck presste sich von allen Seiten auf meinen Körper. Ich wollte hierbleiben. Es war blau und stumm. Langsam trieb ich nach oben. Erst als die Not meiner Lunge in meinem Kopf ankam, machte ich zwei Züge, schloss die Augen, mein Kopf tauchte auf, ich atmete. Sah Umrisse. Ich hörte die Stimmen. Drehte mich auf den Rücken, ließ nur meine Ohren im Wasser, um die Stimmen zu dämpfen, hielt meine Augen geschlossen, bis ich am Beckenrand anstieß. Ich öffnete die Augen, hob den Kopf aus dem Wasser und das Erste, was ich hörte, war der Applaus meines Vaters.

Doña lächelt, sperrt das Gitter von innen auf, wir steigen aus dem Auto, ihre Schritte sind so langsam wie ihre Gesten, die sie größer wirken lassen, als sie ist. Sie läuft auf mich zu und umarmt mich. »Bienvenida.« Sie riecht nach Seife und Zwiebeln. Ich bedanke mich mit einem Nicken und versuche, ihrem Blick standzuhalten. Ich habe ihren Namen unendlich oft gelesen auf meinem Zettel, jetzt wundere ich mich, dass ich mir keinerlei Vorstellungen von ihr gemacht habe. Mein Körper ist schwer, sie nimmt meine Hand auf eine Art wie zuletzt meine Kindergärtnerin, drückt sie ein paarmal fest, dreht sich um, zieht mich mit sich, meine Taschen bleiben auf der Straße liegen, ich drehe mich nach Cris um, er hebt sie auf und bleibt dicht hinter uns. Doña zieht mich durch das Gitter, es riecht und dampft aus dem schmalen Gang. Sie weist mir den Weg. »Hier hoch, mija«, die Vertrautheit dieses Wortes erschüttert mich. »Oben ist gerade niemand, du hast da dein eigenes kleines, ja«, wir passen kaum durch das schmale Treppenhaus, Doña ist geübter im Quetschen, hebt ihre Hand über sich und streckt zwei Finger in die Luft, »Paradies.« Plötzlich bleibt sie stehen vor dem Treppenabsatz, ich stoße fast in sie hinein, sie dreht sich um, sieht zur mir herunter, zwinkert, greift mein Gesicht von beiden Seiten, schließt die Augen und sieht dabei aus wie mein Vater, wenn er für mich betete. »Mija«, ihre Augen sind tränenunterlaufen, »es ist ein Wunder, dass du hier bist«, etwas daran weckt den Ton in meinem Kopf. Ich halte ihrer Berührung nicht stand und trete an ihr vorbei auf die Terrasse. Der Himmel hier ist dicht, überall begrenzen Masten und Berge den Blick. Doña zeigt auf die Tür. »Hier, dein Zimmer.« Sie schiebt mich von hinten hinein, es ist dunkel, die Vorhänge zugezogen, ein großes Bett, auf dem eine Wolldecke mit Tigeraufdruck liegt. »Magst du es?«, fragt sie, ich nicke stumm. Sie geht zum Fenster, schiebt die rosafarbenen Vorhänge zur Seite und winkt mich heran. Meine Schritte sind immer noch langsam, diese Art der Schwüle kenne ich nicht. Doña nimmt mich am Arm, stellt mich neben sich und zeigt seufzend nach draußen. Ein weißlicher Film liegt zwischen uns und der Straße. Bis zum gezackten Horizont ziehen sich rechteckige Betonsiedlungen. Doña öffnet das Fenster, ich zucke zusammen. »Unsere Straße, mija.« Etwas Theatralisches liegt in diesem Satz. Zwei Jungs mit weißen Hemden und dünnen Beinen kicken einen Ball vor sich her, ein Metalllager quetscht sich dazwischen. »Welcher von denen ist der Pacaya?« Meine Frage wundert mich selbst. Cris lacht von hinten, ich bemerke, dass er auch noch da ist. »Der mit den Wolken um die Spitze.« Der Rauch, der den Vulkan krönt, eine kleine graue Haube, bewegt sich nicht. »Kann man da hoch?«, meine Stimme klingt dumpf. Cris nickt: »Morgen?« Doña schlägt ihm einmal fest auf die Schulter. »Es reicht jetzt. Mija, hier«, Doña zeigt auf die rotweiße Markise direkt unter uns, »guck, da mache ich cena für alle, Abendessen, da kommst du dann runter, wenn du ein bisschen geschlafen hast, oder hast du jetzt Hunger vielleicht? Mein Gott, was erzähle ich da, du hast jetzt Hunger, ich bin so blöd«, sie schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. »Nein, danke.«

»Ich mache dir was, ich bring’s dir gleich.«

»Aber«, ich sehe Doñas Gesicht und gebe mich geschlagen, »okay.« Cris setzt sich aufs Bett, prüft es wippend. »Gut, also, dann sehen wir uns, ich melde mich, wenn er sich meldet, wegen dem Haus und so«, er sieht zu Doña herüber, sein Gesicht ist plötzlich keck wie das eines kleinen Jungen, er steht abrupt auf und gibt Doña einen Kuss auf die Wange, bevor er verschwindet. Sie scheint Cristóbals Abschied nicht zu bemerken und starrt unentwegt auf mich, dann auf meine Hände, ihre Augen sind feucht und zittern ein wenig. Sie seufzt, »ah, das Essen«, tätschelt mir abwesend die Wange, schüttelt ihren Rock zurecht und verschwindet. Ich lege mich unter die Tigerdecke, mein Kopf macht nichts mehr, kein Ton ist hier, keine Bilder. Ich schlafe so schnell ein wie seit dem Tod meines Vaters nicht mehr.

»Der Vulkan, der Vulkan, mija!« Mein Vater schnalzte mit der Zunge und fuhr mir stolz durch die Haare. »Was die euch beibringen.« Er roch nach zu viel Eau de Cologne, hatte sich schick gemacht, grüßte die anderen Eltern ein wenig zu höflich, siezte sie, bis ihn einer duzte, dann duzte er sie, bis ihn wieder einer siezte. Wir waren in der Schule, an einem Abend, weil unser neuer Musiklehrer es so wollte. Ein langer Mann mit langen Haaren, der sich ständig nach meiner Herkunft erkundigte. »Super super, je weiter, desto besser!«, nach meinem Namen, »wie der Prophet?«, und daraufhin immer Walgeräusche machte, um die Lacher der Klasse zu kassieren. Er hatte mit uns für die Aufführung seinen Lieblingssong einstudiert. Am Ende standen wir also in einer Reihe auf der Bühne der Aula, wedelten bunte Fächer aus Krepppapier hin und her, mein Vater klatsche wild in der ersten Reihe, und wir sangen. »Du bist so heiß wie ein Vulkan.« Nach »Tanze Samba mit mir« sollten wir alle einen kleinen Hüftschwung machen, in den Proben hatte das gut geklappt, auf der Bühne verwechselten die meisten links und rechts, oder verpassten knapp ihren Einsatz, sodass wir ständig gegeneinanderstießen. Mein Vater konnte sich das Lachen nicht verkneifen und wippte vor Begeisterung in seinem Stuhl mit. Als wir fertig waren, machten wir uns wie üblich als Erste auf den Weg nach draußen, stiegen in die U-Bahn. »Weißt du, mija, das mit dem Vulkan«, er hielt sich die Nase zu, unterdrückte einen Lachanfall, »er ist heiß, ja, so ein Vulkan, das schon, aber das ist nicht das Schlimmste an ihm, das ist schön eigentlich, wenn einer aktiv ist.« Er wurde ernster. »Wenn einer aktiv ist, dann läuft er, und das ist auch nicht schlimm, das ist sehr schön, wie Adern in der Nacht sieht das aus, und er raucht«, er atmete ein, »und er spendet Leben, allen, die um ihn herum wohnen, er lebt, mija, aber er hat einen eigenen Willen. Wenn er will, dann lässt er alles raus, dann bricht er aus seinen Fesseln aus, die Menschen rufen dann Katastrophe, das Ende, das Ende, die Apokalypse«, er schüttelte den Kopf, »aber eigentlich, Yona, macht er alles sauber um sich herum, verbrennt alles, damit«, er beugte sich zu mir, flüsterte jetzt, seine Stimme hatte ihre Ruhe wiedergefunden, »damit alles von Null anfangen kann, das ist ein Anfang, wie eine Geburt.« Er summte das Samba-Lied, lachte. »Du bist so heiß wie ein Vulkan, qué locura, so ein Unsinn.«

Etwas reißt mich aus dem Schlaf. Alles ist dunkel, bis auf das orangefarbene Licht, das sich Spalten sucht zwischen den Vorhängen. Mit dem Licht kommen auch Stimmen von unten ins Zimmer, ich erkenne Doñas Lachen sofort. Andere fallen sich gegenseitig ins Wort. Alles an mir ist schwer. Noch immer habe ich die Klamotten von der Reise an, mein BH ist verrutscht und sticht mir Muster in die Haut. Ich stelle mich an das Fenster, schiebe mich zwischen die Vorhänge und starre auf die Markise unter mir. Sie ist eingerahmt von Rauch und den Lichtern darunter, es riecht nach Fleisch. Ein Alter kommt von der anderen Straßenseite, rennt fast, ruft schon von Weitem, ob es noch etwas gäbe. Doñas Stimme erwidert »Vengase!«, dann verschwindet er unter dem Rot-Weiß. Ich fühle mich beobachtet von all den Stimmen, manche Wörter sprechen sie fast wie mein Vater aus, der Ton hinter meinen Schläfen mischt sich langsam darunter. Nicht einmal in den Telenovelas sind die Worte so nah an denen meines Vaters gewesen.

Wegen meines Vaters zog der Ton in meinen Kopf ein. Nach seinem Arztbesuch wartete ich mit dem Abendessen auf ihn. Er schloss auf, räusperte sich im Flur, wartete dann einen Moment, seufzte und kramte wie so oft seine sorgenlose Stimme hervor. »Oh oh, das riecht fantastisch, da lohnt sich diese Krankheit doch fast, für mich zumindest.« Er kam in die Küche und wich meinem Blick geschickt aus, musterte nur das Essen, rieb sich die Hände und ließ die Zunge über seine Lippen fahren, hob den Teller an und roch am Essen, während er die Augen weit aufriss. Seine Gesten waren zu übertrieben, als dass ich sie ihm hätte abkaufen können. Sie bewirkten das Gegenteil von dem, was er wollte. Die Diagnose stach aus jeder dieser kleinen Bewegungen hervor. Er holte aus, griff mir mit seinen kalten Händen ins Gesicht, suchte nach meinem Blick, jetzt war ich es, die auswich. Er lächelte gegen die Sorge in seinen Augen an. Genau da legte sich der Ton zum ersten Mal auf mich. Mein Brustkorb wurde hart, ich wollte nicht mehr atmen, er stach. Mein Vater ließ ab von mir, setzte sich an den Tisch, pfiff eine kurze Melodie, faltete die Hände, dankte Gott für das Essen, wartete kurz, »und für das Leben. Amen«. Ich konnte ihm nichts nachsprechen, alles an mir war starr, ich starrte auf seine Hände, darauf, wie er die Gabel zum Mund führte, kurz pustete, die Augen schloss und kaute. Mit großer Mühe ignorierte er, dass ich nur das sah, was er versteckte. Etwas durchfuhr mich heftig bei jeder seiner bekannten Bewegungen, beim Öffnen seines Mundes, beim Kauen, dem schweren Atmen durch die Nase. Am Ende war er ruhig. Mein Essen war kalt geworden, ein feiner Film lag auf der Soße, nichts dampfte mehr. Sein Teller war leer, er strich mit seiner Gabel Muster in die Rückstände der Soße, immer im selben Tempo, von oben nach unten und zurück wie ein Pendel. Das Kratzen auf seinem Teller wurde in meinem Kopf lauter, durchfuhr mich heftig, er machte immer weiter, ich wollte nach seiner Hand greifen, sie stoppen, drücken, an ihr zerren, aber mein Körper machte nichts. Das spitze Geräusch seiner Gabel stieg in meinen Kopf, blieb dort, kreiste, drückte von innen gegen meine Schädelwände, veränderte sich, ich wollte die Augen schließen, es ging nicht.

Doña klopft. Ich erkenne sie an den zögernden Pausen. Sie flüstert meinen Namen in den Türspalt hinein, ich sage nichts, sie versteht es als Einladung, öffnet die Tür, ich drehe mich zu ihr, so in der Tür sieht sie groß aus, lächelt, räuspert sich, setzt ein paar Mal an, »willst du?« Sie geht auf mein Bett zu, stützt sich mit beiden Händen auf die Matratze, ein kleiner Schlitz macht sich in ihrem Dekolleté lang. »Komm runter, wenn du willst, wir haben frische chicharrones.« Mein Kopf tut weh, meine Kehle ist trocken, ich will etwas sagen, es kommt nichts. Sie klatscht in die Hände, dann mir auf die Schulter: »Komm, wann du willst, ich esse dir nicht alles weg.«

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