Czytaj książkę: «SchattenHaut & SchattenWolf»

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

SchattenHaut

SchattenWolf

Nané Lénard

SchattenHaut
und
SchattenWolf


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2011 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

Auflage 2015

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-8271-9888-4

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Die Romane spielen hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über die Autorin:

Nané Lénard wurde 1965 in Bückeburg geboren und ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung im medizinischen Bereich studierte sie später Rechtsund Sozialwissenschaften sowie Neue deutsche Literaturwissenschaften.

Von 1998 an war sie als Freie Journalistin für die regionale Presse tätig. Ab 2009 arbeitete sie für unterschiedliche Firmen im Bereich Marketing und Redaktion. Seit 2014 ist Lénard als freiberufliche Schriftstellerin tätig.

Von ihr wurden neben den Romanen bereits mehrere Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht.

Mehr über Nané Lénard und ihre Aktivitäten erfahren Sie unter www.nanelenard.de

Nané Lénard

SchattenHaut
Hetzers und Kruses 1. Fall


Inhalt

Titelseite

16. Juli 1963, 21:30 Uhr

16. Juli 1963, 22:25 Uhr

Herbst 2010, Der Kommissar

Der Pfarrer

Wasserwanderung

Der erste Tag

Die Obduktion

Abendgedanken

Im Netz

Die Bescherung

Bennos Verschwinden

Im Verließ

Hetzers Traum

Susis Geheimnis

Die Ratte

Bennos Erkenntnis

Die Obduktion der Ratte

Bennos Ende

Gefüllte Paprika

Bennos Neigungen

Albtraumnacht

In der Eulenburg

Nadjas Entdeckung

Der Mantel

Das Witwenhaus

Sonntagabend

Unter dem Griff

Stille Wasser

Bennos Vermächtnis

Übers Wasser wandern

Die Täuschung

Im Keller

Sabines Verhängnis

Pfarrer Martins Vermutung

Moni

Sabines Erwachen

Das Essen

Die alte Tongrube

Im Beichtstuhl

Schneesturm

Im Iglu

Wasserwürmer

Alles ist eins

Der Kuss

Kopflos

In der Anstalt

Kaminabend in Todenmann

Das Haus am Meer

Nadjas Verhör

Die Untersuchung

Neue Erkenntnisse

Nadjas Weiterbildung

Die Vermutung

Die Axt

Gefangen

Weihnachtsplanung

Endstation

Das Verwirrspiel

Der Liebestraum

Vollendung

Der Schock

Im Element

Eine neue Suche

Das Rätsel der rechten Hände

Eine mögliche Verbindung

Wolfs Dilemma

Ottos erstes Erwachen

Der Vater

Im Krankenhaus

DNA

Ottos Zusammenbruch

Gedanken und Gespräche

In der Zelle

Seppis Nachforschungen

Ottos Weihnachten

Heiligabend 2010

Auf dem Eiffelturm

Das Essen

16. Juli 1963, 22:59 Uhr

In der heiligen Nacht

Haut, die im Dunklen verborgen,

vergiftet das Heute ins Morgen

und tötet die Seele aus Leid.

Denn was am Anfang geborgen,

geliebt und bewahrt war vor Sorgen,

muss weichen den Zeichen der Zeit.

Was schmerzlich als Fluch nur dem Träger vertraut,

lebt schweigend und lichtlos als Schattenhaut.

Anfang und Ende
16. Juli 1963, 21:30 Uhr

Sie konnte ihr eigenes Blut riechen. Der Schmerz, dieser unglaubliche Schmerz wollte nicht von ihr verschwinden. Er ließ ihr kaum die Möglichkeit zum Atmen. Sie schrie, doch es kam nur noch ein heiseres Krächzen. Noch während sie gegen das Messer ankämpfte, das in ihr zu stecken schien, war plötzlich alles vorbei.

Ende und Anfang.

Und während der Tag und ihre Kraft dahindämmerten, hörte sie wie von Ferne, dass ihr jemand etwas zurief.

16. Juli 1963, 22:25 Uhr

„Es ist ein Mädchen!“, sagte die Hebamme und strahlte die Mutter an.

Ein Glück, dachte sie, er hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht. Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück. Der kurze Schlaf hatte ihr gut getan.

„Hier ist Ihre Tochter. Wie soll sie denn heißen?“

Vorsichtig bettete Hebamme Ute die Kleine in die Armbeuge der Mutter.

„Wir wollten sie gerne Susanne Michaela nennen“, antwortete Gisela abwesend und hatte nur Augen für das winzige Gesicht. Sie bemerkte nicht einmal, wie sich leise die Tür schloss und sie plötzlich allein im Raum war. Nein, nicht ganz allein. Susi machte auf sich aufmerksam. Sie schmatzte und gluckste im Schlaf.

Herbst 2010, Der Kommissar

Unter der Frankenburg war der Herbst eingezogen. Wolf Hetzer streckte sich gemütlich vor seinem Kaminofen aus und hielt die feuchten Wollsocken in die Wärme. Er hätte Gummistiefel anziehen sollen, dachte er, aber wie gewöhnlich war er in seine Lieblingsschuhe gestiegen und hatte nicht weiter darüber nachgedacht, dass Waldwege feucht sein könnten. Vor allem Wege, wie Gaga sie liebte. Seine Schäferhündin war in allem eine Lady, aber eben ein bisschen gaga. Die Sängerin war nach ihr benannt. Darauf bestand Hetzer, denn seine Hündin trug den Namen zuerst.

Mittlerweile waren die Socken zwar warm, feucht waren sie aber immer noch. Mit einem Seufzer stand Hetzer auf, streifte sie sich von den Füßen und ging auf Zehenspitzen nach oben ins Schlafzimmer. Der Steinfußboden war trotz des Ofens kalt, da waren die Holzdielen im Schlafzimmer eindeutig angenehmer. In der Schublade ging der Sockenvorrat gegen null. Mist, ich muss waschen, dachte er und torkelte auf einem Bein, weil er mit dem Bund an der Hacke hängen geblieben war. Dabei wäre er fast auf Gagas Pfote gestiegen. Sie folgte ihm immer.

Hetzer wohnte erst seit ein paar Wochen in Todenmann. Hinter dem Berg hatte er alles zurückgelassen. Die alte Kate am Waldesrand war ein wenig baufällig gewesen, als er sie Anfang des Sommers zu einem Spottpreis kaufte. Jetzt war er weit weg von allem, von der Vergangenheit und über den Berg, wenn man so wollte. Nach und nach hatte er Altes restauriert und Kaputtes ersetzt. Das hatte ihn abgelenkt von sich selbst. Dreieinhalb Räume mit Küche und Bad waren jetzt sein neues Zuhause. Er teilte sie mit Gaga, Emil und den beiden Katern. Letztere waren ihm geblieben – von ihr. Zwei Kater als Halbwaisen. Emil, der Ganter, hielt draußen Wache, darin stand er Gaga in nichts nach.

Als es zu dämmern begann, streckte sich Hetzer gemütlich auf seinem Sofa aus und strich sich die krausen Haare aus dem Gesicht. Er hatte eben noch Holz nachgelegt und Emil in den Stall gebracht. Die Flammen tanzten hinter der Scheibe. Auf Gaga und ihm lag immer noch der Duft des Herbstes, feucht, leicht modrig und rau von der Nebelluft. Er dachte an den Wald, den er liebte und verdrängte das, was dahinter lag. Das Feuer machte ihn schläfrig und so döste er seinem ersten Arbeitstag im Rintelner Kommissariat entgegen.

Der Pfarrer
Am selben Abend, 21:56 Uhr

Es klingelte. Josef war in seinem Ohrensessel über einem Buch und einem Glas Rotwein eingenickt. Jetzt streckte er sich, sah, dass die Standuhr beinahe zehn zeigte. Schwerfällig quälte er sich aus dem Sessel, alle Knochen taten ihm weh.

Wer rief denn jetzt noch an? Weil er noch nicht ganz wach war, wäre ihm der Hörer fast wieder aus der Hand gefallen. Aber er erwischte ihn noch und riss ihn ans Ohr.

„Guten Abend“, sagte die sanfte Stimme in der Leitung, „spreche ich mit Pfarrer Josef Fraas?“

„Am Apparat!“

„Ich werde mich umbringen.“

Jetzt war Josef mit einem Schlag wach. Er war im Ruhestand. Dachte, dass er diese menschlichen Katastrophen hinter sich gelassen hatte.

„Hören Sie, bitte, es gibt für alles eine Lösung, einen Ausweg. Wie heißen Sie?“

„Es gibt nicht immer einen Ausweg, und wie ich heiße, tut nichts zur Sache. Mein Name gehört ohnehin nicht zu mir.“

„Wer ist Ihr Seelsorger? Soll ich ihn für Sie anrufen? Gehören Sie zur Hamelner Gemeinde?“

„In diesem Fall sind auf jeden Fall Sie mein ,Seelsorger’. Sorgen Sie sich um meine Seele?“

„Dann kennen wir uns? Sind wir uns schon begegnet? Natürlich sorge ich mich um Ihre Seele, ich sorge mich um die Seele eines jeden Menschen. Vielleicht will Ihre heute gerettet werden.“

„Wenn Sie wirklich etwas für meine Seele tun wollen, dann kommen Sie runter zur Weser. Ich bin direkt am Ende der Fontanestraße den Trampelpfad heruntergegangen und dann ein Stück flussabwärts. Hier ist es so schön einsam, wie geschaffen für einen Freitod. Aber lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit. Ich stehe schon mit den Füßen im Wasser, ich will nur die letzte Ölung.“

„Warten Sie, es ist viel zu kalt, wir haben Oktober. Herrgott, Maria und Josef. Tun sie nichts Unüberlegtes. Ich bin gleich da und dann reden wir. Ich habe es nicht weit. Ich muss nur schnell was anziehen. In fünf, maximal zehn Minuten bin ich da. Ich bringe Ihnen eine Decke mit.“

„Das wird nicht mehr nötig sein“, sagte die Stimme und legte auf.

Jetzt hatte es Fraas eilig. Der Fremde meinte es ernst, er hatte keine Zeit mehr. Den Notruf wollte und konnte er auch nicht mehr verständigen, außerdem kamen die immer mit so viel Trara. Wer weiß, ob der Mann verschreckt werden würde. Dann konnte es zu einer Kurzschlussreaktion kommen. Nein, er musste da allein hin, und zwar schnell. Im Keller stieg er in seine Schuhe und seinen Wintermantel, griff die große Taschenlampe, warf sich eine Decke über die Schulter und ging so schnell er konnte in Richtung Fluss. Früher hätte er rennen können, aber das ließen seine alten Knochen nicht mehr zu, er war schon über siebzig. Vielleicht war es gut, dass der Fremde ihn angerufen hatte, immerhin hatte er Erfahrung mit Menschen in den schwierigsten Lebenssituationen.

Der Weg hinunter zum Ufer war für ihn eine Herausforderung. Ohne Taschenlampe wäre er sicher gestürzt, hier war es stockfinster. Nur manchmal riss die Wolkendecke durch den starken Wind auf. Da brachte der Mond wenig Licht.

Es war fast Neumond.

„Hier bin ich“, raunte die sanfte Stimme nahe dem Flussufer.

Der Mann stand tatsächlich im Wasser.

„Kommen Sie raus, lassen Sie uns in Ruhe reden.“

„Wir können auch so reden. Was möchten Sie mir denn sagen?“

„Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie – egal was Ihnen passiert ist – immer wieder Freude am Leben finden können. Es wird auch wieder schöne Tage geben.“

Ein Lachen durchriss den Sturm. Es war mehr ein Schreien, das nur langsam über dem Flussbett verhallte.

„Das sind leere Worte, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leer diese Worte sind – vor allem für mich. Alles Phrasen, alles Geplapper. Haben Sie nicht mehr zu bieten?“

„Sie müssen mir erklären, was Ihnen geschehen ist. Ich möchte Ihnen so gerne helfen. Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was passiert ist.“

„Oh, das sollten Sie aber genau wissen, denn Sie sind dafür verantwortlich. Sie gehören zu den Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Es war Ihre Entscheidung, Ihr Rat. Sie sind ein Teil des Gerichts gewesen, das über mich geurteilt hat. In diesem Moment haben Sie meine Seele zerstört und darum ist sie jetzt auch nicht mehr zu retten.“

Der Fremde machte einen Schritt rückwärts und stand jetzt bis zu den Knien im Wasser.

„So warten Sie doch! Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie kann ich das Unrecht wiedergutmachen, das Ihnen geschehen ist. Was um Himmels willen habe ich denn getan ...?“

Fraas dachte nach. Sicher hatte er in seiner Amtszeit Fehler gemacht. Und ganz bestimmt war sein Rat nicht immer der richtige gewesen. Aber er hatte stets in guter Absicht, im Sinne Gottes gehandelt. Das musste ihm der Fremde doch glauben.

„... bitte sagen Sie mir, was damals passiert ist, ich möchte Ihnen wirklich helfen. Bitte!“

„Dann müssen Sie zu mir kommen. Ich kann es nicht laut sagen. Es muss im Verborgenen bleiben. Niemand darf es wissen.“

„Hier kann Sie doch niemand hören. Meinen Sie, dass ich zu Ihnen ins Wasser kommen soll? Hier ist doch niemand. Ich bin alt, meine Füße werden nass. Es ist schon so bitterkalt. Bitte nehmen Sie Rücksicht und kommen Sie ans Ufer.“

„Auf keinen Fall. Wenn Sie nicht kommen, haben Sie auch noch den Rest meiner armseligen Seele auf dem Gewissen. Ich gehe jetzt weiter rein. Meine Unterschenkel spüre ich schon nicht mehr.“

„Halt!“, rief Pfarrer Josef und setzte den ersten Fuß schaudernd in die Weser, „ich komme ja.“

Das Gehen im Wasser fiel ihm schwer, sofort drang es in das warme Futter seiner Schuhe. Es war, als hätte er Blei an den Füßen. Als er den Mann erreichte, schaute er ihn direkt an.

Er hatte keine Erinnerung an dieses Gesicht, er kannte ihn nicht. Seine Beine und Füße froren erbärmlich.

„Drehen Sie sich zur Seite, damit ich Ihnen ins Ohr flüstern kann, was mich bedrückt“, bat der Mann.

„Hier kann uns doch nun wirklich niemand hören“, sagte Fraas und neigte sich zu ihm.

Als er nun hörte, was der Unbekannte in seine Ohrmuschel sprach, wusste er, dass es wirklich nur leise gesagt werden konnte. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen. Das hatte er alles nicht gewusst. Das waren damals andere Zeiten gewesen. Dafür konnte man ihn doch nicht verantwortlich machen. Und noch während er über das Gesagte nachdachte, das dem Mann angetan und jetzt ihm zur Last gelegt werden sollte, hörte das Denken einfach auf, er atmete nur noch, dann gaben seine Beine nach.

Der Fremde fing den Pfarrer auf. Ja, niemand war schuld. Er war das Opfer, aber niemand trug die Schuld. Er schleifte den Bewusstlosen ans Ufer und legte ihn im Gras ab. Da er eine Anglerhose trug, war er vollkommen trocken geblieben.

Jetzt lag er da, der Geistliche, der Seelenretter, der Seelsorger. Gottes Sprachrohr auf Erden. Es konnte nicht Gottes Wille gewesen sein, zu dem er damals geraten hatte. Das wäre doch ein Widerspruch in sich gewesen. Diese verlogene Ratte. Er war überfordert gewesen. Für ihn hatte es nur schwarz und weiß gegeben. Keine Graustufen. Das Denken war beschränkt, sein Rat tendierte zum kleineren Übel. Es war einfacher, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu bauen.

Dafür würde er jetzt büßen, würde dieselbe Erfahrung machen. Aber nur kurz, denn dann würde er ihn ersäufen, wie eine Ratte. Wie die Ratte, die er gewesen war.

Der fast blutleere Körper versank in der Weser wie ein Stein. So ein Wintermantel konnte viele Kilo schwer werden. Da war Josef Fraas immer noch nicht tot. Aber er war viel zu schwach vor Kälte, vom Schmerz und von der Schmach, dass er den Weg zum Allerhöchsten dankbar annahm und ertrank.

Wasserwanderung

Der entseelte Pfarrer trieb langsam in Richtung Flussmitte, wo die Strömung am stärksten war. Sie nahm ihn gnädig auf und spielte mit ihm. Zog ihn unter Wasser in einen Strudel, spie ihn fünf Meter weiter wieder aus, drehte mit ihm eine Pirouette und ließ sein Haar wie im Wind flattern. Im Tod hatte er sich vor Schmerz zusammengekrümmt. Wie ein großer Embryo mit Mantel und Schuhen meisterte er die ersten beiden Weserkrümmungen vor Wehrbergen und glitt dann etwas gestreckter in nordwestlicher Richtung davon.

Im Bogen bei Hessisch Oldendorf blieb Josef zunächst an einer alten Tonne hängen, die auf dem Wesergrund gestrandet war. Doch der Mantel zog ihn wieder in die Strömung zurück. Inzwischen hatten sich zwei Knöpfe aus den Löchern gelöst.

Westwärts trieb das Wasser ihn jetzt, und die schmale Sichel des Mondes beleuchtete seinen Weg, vorbei an Fuhlen, Rumbeck und Großenwieden, wo die Weser erneut einen Haken schlug und mehrfach die Richtung änderte. Josef hatte seine Not mit den Windungen, denn dort blieb er leicht am Ufer in den Ästen hängen. Einmal sogar über eine Stunde, bis das Holz dem Gewicht nachgab und als Anhängsel mitschwamm. Der Ast war wohl auch der Grund, warum der Leichnam einige Flusskilometer weiter unterhalb des Weserangerbades in Rinteln strandete. Er bohrte sich in eine der Buchten in den sandigen Untergrund. Ein nächtliches Schiff spülte ihn mit seinen Heckwellen an Land.

Und da lag er nun in der Morgendämmerung. Ein schwarzes Stück Strandgut, steif wie ein Baumstamm. Für eine Wasserleiche sah er gut aus. Dafür hatte die Kälte der Weser gesorgt. Nicht einmal die Fingerkuppen waren aufgequollen.

Dass er trotzdem die Spaziergängerin erschreckte, hätte er selbst am wenigsten gewollt. Aber es war nicht zu ändern. Er war tot und genau das sah man ihm an. Martha Schulze stieß einen Schrei aus, zog ihren Dackel so schnell sie konnte in die entgegengesetzte Richtung. Durch den Schrei waren andere Passanten oben auf der Weserbrücke aufmerksam geworden. Als die Polizei gegen neun Uhr am Tatort eintraf, hatte sich dort bereits eine Menge Schaulustiger versammelt, die von der Brücke gafften. Polizeikommissar Wilfried Müller hatte auch von Ferne mit einem Blick erkannt, dass hier andere Kräfte angefordert werden mussten. Über Funk informierte er die Kripo in Nienburg und Rinteln. Er ließ das Gelände weiträumig, sowie die Brücke für Fußgänger, absperren. Dass auf der gegenüberliegenden Seite der Weser bereits ebenfalls Katastrophentouristen lauerten, konnte er nicht verhindern. Die Wasserschutzpolizei aus Hameln war bereits unterwegs. Schichtführer Müller wollte alles Notwendige veranlasst haben, bis die Kripo eintraf.

Der erste Tag

Schon vor dem ersten Weckerklingeln war Wolf Hetzer wach. Er war nicht direkt aufgeregt, aber es war schon ein besonderer Tag. Die Rintelner Beamten, die er sonst nur von städteübergreifenden Ermittlungen kannte, würden ab heute seine neuen Kollegen sein.

Gaga tat, als schliefe sie noch, doch er wusste es besser. Sie hatte ihren Kopf auf seinen Hausschuh gelegt. Vorsichtig stupste er sie mit der großen Zehe, worauf sie sich brummend auf die Seite rollte und den Schuh freigab.

Im Bad war es frisch. Mist, er hatte vergessen, das Fenster zuzumachen. Nachts war es jetzt schon empfindlich kalt. Bibbernd kam er aus der Dusche, stieg sofort in seinen Bademantel und floh in die Küche. Ein heißer Kaffee war jetzt genau das Richtige. Die Brötchen hingen schon an der Haustür. Diesen Luxus leistete er sich. Wo gab es das schon noch, außer in Todenmann, dass einem jemand die Brötchen ans Haus brachte. In den ersten Wochen hatte Gaga noch angeschlagen. Jetzt kannte sie den jungen Mann und blinzelte nur noch einmal müde in Richtung Tür, wenn der Bote kam, der außerdem die Zeitung mitbrachte.

Bevor der Kaffee durchgelaufen war, sprang Hetzer in Jeans und Hemd. Er musste Gaga und Emil rauslassen.

Der Tag schien schön zu werden, leichter Raureif lag auf der Wiese. Weiter oben hing noch der Nebel in den Bäumen und machte das Bunte blasser. Aber kalt war es. Verdammt kalt. Schnell zurück in die warme Küche. Der Duft von Kaffee und Brötchen war berauschend. Es ging doch nichts über ein gemütliches Frühstück. Dafür stand Wolf Hetzer sogar früher auf, denn er hasste Hektik am Morgen. Das Croissant aß er zuletzt. Er musste immer einen süßen Abschluss haben.

Gegen halb acht verließ er das Haus, stieg in seinen Ford und fuhr in Richtung Stadt. Die alten Bahnschienen humpelten noch wie vor zwanzig Jahren. Kurz hinter der Weserbrücke bog er rechts ab und fuhr durch die Drift zum Hasphurtweg. Jetzt hatte er hinter der Wache sogar seinen eigenen Parkplatz.

„Guten Morgen und herzlich willkommen!“, begrüßte ihn Kriminalhauptkommissar Mensching. „Was für ein Einstand! Sie können gleich mitkommen. Wir haben eine Leiche am Weserufer.“

„Klar“, grinste Hetzer, „das haben Sie extra für mich organisiert.“

Mensching stutzte, dann schmunzelte auch er. „Nein, im Ernst, das ist kein Witz. Es ist heute Morgen ein toter Mann westlich des Weserangerbades angespült worden. Und nun zack, zack. Sie fahren mit Kruse. Er ist Ihr neuer Partner.“

Bei Peter Kruse hatte die Wirkung des Polizeisports über die Jahre stark nachgelassen. Er war jetzt Mitte dreißig und schwamm im Wasser auf jeden Fall oben. Dabei sah er nicht fett oder schwabbelig aus, eher in allem ein bisschen zu groß geraten. Mit seinen 195 cm Körperhöhe überragte er auch Hetzer um Haupteslänge. Kruse spielte gerne die zweite Geige. Verantwortung übernahm er durchaus, aber zu viel durfte es nicht sein. Er hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass er Hetzers Posten bekommen würde, und wenn er genau darüber nachdachte, war er auch jetzt heilfroh, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen war. Immerhin schien der Neue kein Spießer zu sein und auch kein arrogantes Arschloch. Er hatte die alte Schleuder gesehen, mit der Hetzer zum Dienst gekommen war.

Als Hetzer Kruses Hand schüttelte, in der sich seine eigene ganz verloren vorkam, zwinkerte er ihm zu und sagte:

„Wolf ist mein Name, aber ich beiße nicht.“

„Na, dann sind wir jetzt Peter und der Wolf!“, witzelte Kruse und musste selbst über seinen blöden Scherz am meisten lachen.

„Wer weiß, vielleicht werden wir so das gefürchtete Ermittlerduo ...“

„Ja, wer weiß ...“, beruhigte sich Peter allmählich und warf Hetzer den BMW-Schlüssel zu. „Hier, jetzt kannst du mal ein ordentliches Auto fahren.“

„Moment, meins fährt immerhin mit Gas und das ist ganz ordentlich – egal, wie es aussieht.“

„Ist schon gut, ich wollte dich nicht ärgern. Komm, lass uns abdüsen. Willst du fahren oder soll ich?“

„Nee, fahr du mal, du kennst dich hier besser aus, außerdem bin ich eh nicht so scharf aufs Autofahren.“

Gegen halb neun erreichten sie den Fundort über den Parkplatz am Weseranger. Hetzer musste feststellen, dass das Gras noch feucht war.

So ein Mist, gerade waren seine Lieblingsschuhe wieder trocken geworden. Na ja, sei’s drum, das war nicht zu ändern. Sie konnten nachher schnell bei ihm zu Hause vorbeifahren. Er musste sowieso mal nach Gaga sehen.

Pfarrer Fraas lag auf dem Bauch. Noch verbarg der Mantel sein nacktes Gesäß. Am Hinterkopf sah es so aus, als habe er dort eine Verletzung. Als Hetzer und Kruse genauer hinsahen, entdeckten sie einen zehn Zentimeter langen Riss der Schädelhaut. Auch am Hals klaffte ein Spalt im Fleisch. Das sah nicht nach einem natürlichen Tod aus.

Kruse rief in Stadthagen an und forderte die Rechtsmedizinerin an. Während sie warteten, sahen sie sich am Ufer der Weser um und überlegten, ob die Leiche flussaufwärts wohl ins Wasser gestoßen worden sein könnte. Sie glaubten nicht, dass er hier in Höhe des Weserangerbades getötet worden war. Der Blutverlust durch die Wunden musste groß gewesen sein, aber hier waren auf den ersten Blick im Gebiet rund um den Körper keine Blutspuren zu finden. Die KTU würde genauere Untersuchungen anstellen. Nachdenklich kehrten sie zum Toten zurück. Dr. Mechthild von der Weiden war eben angekommen.

„Moin“, sagte sie und drückte Wolfs Hand so stark, dass er dadurch fast in die Knie ging. „Sie müssen der Neue sein. Ich bin Mechthild. Rechtsmedizin der MHH, Institut oder Außenstelle Stadthagen. Ganz, wie Sie wollen.“

„Ich bin Wolf, Wolf Hetzer, um genau zu sein.“

„Aber Sie beißen nicht? Kleiner Scherz. Den haben sich Ihre Eltern wohl auch erlaubt, damals – kurz nach Ihrer Geburt.“

„Es konnte doch niemand wissen, dass ich zur Polizei gehen würde. Ich hätte auch Uhrmacher werden können.“

„Auf keinen Fall! Mit dem Namen war das doch wohl Programm. Anderweitig hätten Sie sich eher blamiert. Ich habe mir meinen Namen auch nicht ausgesucht. Mechthild. Macht und Kampf. Aber er passt auch zu meinem Beruf. Vielleicht wird man, wie man geheißen wird? Doch nun genug des philosophischen Plauderns. Wir haben es hier mit einem Mann um die siebzig zu tun. Er ist wahrscheinlich noch keine zwölf Stunden tot. Die kann er gut im Wasser verbracht haben. Er ist steif wie ein Brett. Bei diesen Temperaturen bleibt eine Wasserleiche schön frisch. Die typischen Erscheinungsmerkmale wie Waschhaut an den Fingerbeeren zeigen sich erst nach Tagen oder Wochen. Am hinteren Schädel – schauen Sie hier – sind ganz eindeutig Zeichen einer Verletzung zu erkennen, wahrscheinlich durch einen stumpfen Gegenstand. Ob dies die Todesursache gewesen ist, kann ich nicht sagen. Wenn Sie den Mantel anheben, werden Sie feststellen, dass der Tote keine Hose trägt. Das ist merkwürdig. Wir drehen ihn mal um.“

Hetzer, Kruse und Dr. von der Weiden sogen fast gleichzeitig die kühle Morgenluft ein, als der Leichnam ein weiteres Geheimnis preisgab. Er war kastriert. Penis und Hoden waren mit sauberem Schnitt vom Körper abgetrennt worden.

Das erklärte es auch, dass der Unbekannte keine Totenflecken hatte.

Er war ausgeblutet.

An seiner Halsvorderseite war ebenfalls eine Verletzung zu sehen. Knapp vier Zentimeter lang, wie ein quer verlaufender Schnitt.

„Nichts für ungut, Wolf“, sagte Mechthild zum Abschied. „Du hast mir das mit deinem Namen doch nicht übel genommen?“

„Keineswegs, ich kenne das doch. Oder glaubst du, du wärst die Erste gewesen, die mich deswegen geärgert hätte?“

„Nicht? Das ist aber schade!“, schmunzelte die Pathologin. „Dann muss ich mir für das nächste Mal was besseres ausdenken. Du kannst mich übrigens ruhig Mica nennen.“

„Wieso denn Mica? Fährst du wie eine Wildsau?“

„Vielleicht auch das. Und ich liebe Finnland. Aber nein, das hat nichts damit zu tun. Mica ist eine Koseform von Mechthild und etwas zeitgemäßer für eine Frau, die mitten im Leben steht. Ich rufe dich an, wenn ich noch etwas Interessantes herausfinde.“

Es ließ sich nicht vermeiden, dass Mica zum Abschied Wolfs Hand drückte, aber diesmal war er darauf vorbereitet. Er hielt dagegen und fixierte sie mit seinen dunklen Augen. Sie grinste und stapfte durch das hohe Gras davon.

Hetzer und Kruse machten auf dem Rückweg zur Dienststelle einen kleinen Schlenker durch Todenmann. Wolf musste zugeben, dass der BMW die Steigungen zu seiner Kate unter der Frankenburg viel besser und satter meisterte als sein PS-schwacher Wagen mit Gasflasche. Ob der Heckantrieb natürlich hier im Winter auch so von Vorteil war, blieb mal dahingestellt. Doch noch war es Herbst. Und ein schöner Herbsttag obendrein. Dass er auch noch so spannend werden würde, hätte er nicht geglaubt.

Als die beiden auf den Hof fuhren, bellten Emil und Gaga im Duett. Gaga konnte durch den seitlichen Anbau, in dem heute der Hauswirtschaftsraum lag, das Haus verlassen, wann sie wollte. Das Grundstück war komplett eingezäunt, und er hatte eine Spezialklappe in die Tür bauen lassen. Sie funktionierte magnetisch, das Halsband war quasi die Eintrittskarte. Daher musste er sie normalerweise nicht zwischendurch in den Garten lassen.

Die nassen Schuhe hatten ebenfalls zu nassen Socken geführt. Wolf ließ beide im Hauswirtschaftsraum zum Trocknen und fühlte sich wie neugeboren, als er seine Kate mit einem neuen Fußensemble verließ. Warme Füße waren etwas Wertvolles. Peter hatte im Auto gewartet. Er hatte heute keine Lust, Gaga kennenzulernen. Er konnte ja auch nicht wissen, dass er sich mehr vor Emil hätte fürchten sollen.

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