Czytaj książkę: «Passierschein, bitte!»
Inhalt
Cover
Titel
Widmung
September 2013
6. September 2013
7. September 2013
8. September 2013
9. September 2013
10. September 2013
11. September 2013
12. September 2013
13. September 2013
14. September 2013
15. September 2013
16. September 2013
17. September 2013
18. September 2013
19. September 2013
Karte
Impressum
In Erinnerung an meinen Vater, der immer gewollt hat, dass ich bei meinen Reisen fotografiere und schreibe. Leider ist es ihm nicht mehr vergönnt, das Erstlingswerk in den Händen zu halten.
September 2013
Ich mache mich auf den Weg nach Wladiwostok. Dort möchte ich Stoff für meinen neuen Roman sammeln – Dattans Erbe. Ich will mich auf Spurensuche begeben und erfahren, was von Kunst & Albers, einem deutschen Kaufhaus, übrig geblieben ist. Die Hamburger Unternehmer Gustav Kunst und Gustav Albers hatten vor knapp 150 Jahren in Wladiwostok ein Geschäft eröffnet. Damals gab es dort nur ein paar Holzhütten und einen militärischen Vorposten. In wenigen Jahren hatten die beiden ein riesiges Handelsimperium aufgebaut: Über dreißig Verkaufsfilialen in der Region, Versicherungsgesellschaften, Schifffahrtslinien, Banken und Bergwerke. Bevor in Deutschland die Warenhausidee geboren war, hatten Kunst & Albers dieses Verkaufsmodell längst erfolgreich in Russisch-Fernost etabliert. Mir imponierte, was sie in so kurzer Zeit erreicht hatten und wie sehr ein einziges Unternehmen einen ganzen Landstrich hatte prägen können. Die erste Glühbirne östlich des Urals brannte bei Kunst & Albers …
Diesem kometenhaften Aufstieg will ich nachspüren. Ich möchte schauen, was im Archiv, in den Akten dazu zu finden ist. Was wissen die Einwohner der Stadt heute noch darüber? Ist etwas von dieser Goldgräberstimmung haften geblieben? Und mich interessiert das gegenwärtige Wladiwostok – eine Stadt am Pazifik, 10 000 Kilometer von Moskau entfernt. Bis 1992 eine geschlossene Stadt, die hermetisch nach außen abgeriegelt war, weil dort die sowjetische Pazifikflotte lag. Ein Wirtschaftsstandort, der sich heute stärker an Japan, China und Korea orientiert denn an Moskau. Das alles will ich näher kennenlernen. Im Gepäck habe ich das Tagebuch von Adolph Dattan, dem letzten Geschäftsführer und Teilhaber von Kunst & Albers, das ich von seinem Enkel bekommen habe. Ein paar Kontakte habe ich angebahnt, aber nichts fest geplant. Ich will mich überraschen, mich treiben lassen. Insgesamt habe ich nur zwölf Tage. Das ist nicht viel, aber für einen Eindruck soll es reichen.
6. September 2013
Zwischenlandung in Moskau. Ich bin bei schönstem Sonnenschein in Berlin losgeflogen, hier ist es kalt und es regnet in Strömen. Ich habe ein paar Stunden Zeit. Auf dem Flughafen kann ich ins Internet, überall offene Netzwerke. Eine Leni Schwarz aus Stuttgart hat mir geschrieben und den Kontakt zu einer Irina hergestellt. Sie sind alle irgendwie mit Kunst & Albers verbunden, jedoch weiß ich noch nicht wie. Ich antworte allen und maile munter weiter, bis mein Anschlussflug aufgerufen wird.
Moskau: Nein, kein Zirkus, sondern die Passkontrolle auf dem Flughafen Sheremetjewo
7. September 2013
Ankunft in Wladiwostok. Ich warte ungeduldig am Gepäckband. Im Flugzeug hatte eine Dame eine Reihe hinter mir ihren Nachbarn gewarnt, dass man sein Gepäck nie von Berlin aus direkt durchchecken lassen solle, weil es dann meist woanders ankommt. Besser man holt es beim Zwischenstopp in Moskau ab und checkt es dort neu ein. Ich hatte meinen Rucksack natürlich durchgecheckt, schon um die Frau loszuwerden, die mir auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld eine Riesentasche zur Mitnahme nach Moskau aufhalsen wollte. Die sei ganz leicht, stöhnte sie in gekrümmter Haltung. Mein Durchchecken bot mir eine Ausrede und ich galt nicht gleich als 9 - 11-Weichei.
Mein Rucksack ist da. Erleichterung. Vor dem Ausgang eine riesige Menschentraube. Dort vergleichen zwei uniformierte Damen die Gepäckschnipsel am Ticket mit den Bändern am Gepäck. Das Ticket habe ich gerade im Rucksack verstaut, das Band vom Rucksack abgerissen und zusammengeknüllt. Ich wollte das weghaben, um in der Stadt nicht aufzufallen. Super. Also gehe ich einfach schnell und entschlossen an der Traube vorbei. Keiner bemerkt mich.
In der modernen, etwas sterilen Flughafenhalle sehe ich keinen Schalter zum Geldwechseln, nur Bankautomaten. Ich habe keine Karte dabei, nur Bargeld. 500 Euro in der Jackentasche, 500 Euro in meiner Jeans. In Moskau hatten sie mir neulich meine Geldbörse geklaut. Hier will ich schlauer sein. Eine Frau verweist mich auf die zweite Etage. Eine Filiale der Sparkasse. Glück gehabt. Dann gehe ich zum Aeroexpress, der halbstündlich fahren soll. Der Zug ist gerade weg, der nächste fährt in anderthalb Stunden. Also zum Bus. Als ich drinsitze, ärgere ich mich, dass mein Fotoapparat im Rucksack ist. Den habe ich gerade im Busbauch verstaut. »Das kostet extra«, hatte mir der Fahrer vor dem Einsteigen zu verstehen gegeben. Eine Schaffnerin fährt mit, kassiert jeden Zusteiger ab und verteilt Fahrscheine, unheimlich lange Streifen. Der Bus muss aus den Siebzigerjahren stammen. An den Fenstern und vor den Gepäckablagen hängen bunt bestickte Gardinen. Dazu diese altmodischen Sitze und der gemusterte Fußbodenbelag … Schade, dass man Gerüche nicht aufnehmen kann.
Die Flughalle in Wladiwostok
Wir sind schon fast im Zentrum, da schaut meine Nachbarin besorgt aus dem Fenster. Jemand hat eine schwarze Tasche aus dem Businneren geholt, die ihrer zum Verwechseln ähnlich sieht. Plötzlich fällt mir ein, dass ich noch in der Gepäckhalle im Flughafen meine Umhängetasche in den Rucksack getan habe, damit ich sie bloß nirgendwo liegen lasse. Im Rucksack ist also alles – mein Pass, mein Ticket, mein Computer, Festplatte, USB-Stick, zwei Fotoapparate, Aufnahmegerät, einfach alles. Ich habe ein paar Hundert Euro in der Hosentasche, sonst nichts.
Wir fahren stadteinwärts genau auf der Straße entlang, wo ich die ersten zwei Nächte wohnen werde – direkt im Zentrum, in der Nähe des Bahnhofs. Ich steige kurz vorher aus. Hier müsste es laut Karte sein. Mein Rucksack ist noch da. Der Fahrer erinnert mich an den Aufpreis.
Die Hausnummer von meinem Hostel habe ich mir blöderweise nicht aufgeschrieben. Habe mir nur die Lage gemerkt und die 17 in Erinnerung. Da ich zufällig genau davor stehe, versuche ich mein Glück. Zuerst erwische ich den falschen Aufgang. Acht Treppen Aufstieg umsonst. Beim zweiten Aufgang habe ich Glück. Ein Passant meint, dass es hier sein muss. Es ist ein normales Wohnhaus. Nirgendwo Werbung oder zumindest ein Schild, das auf das Hostel hinweist. Nur ein Klingelknopf an der Gegensprechanlage, einer von dreißig. Daneben ein winziger Aufkleber: »Optimum«. So heißt das Hostel. Ich drücke den Knopf und eine Stimme wie vom Tonband sagt: »Drücken Sie die 24, dann B.« Obwohl ich Russisch kann, habe ich den Eindruck, gerade ein Orakel gehört zu haben. Ich schaue fragend auf die Knöpfe und bin froh, dass direkt hinter mir ein paar Spanier kommen, die das gleiche Ziel haben. Sie wissen Bescheid und sind mit einem elektronischen Türöffner ausgestattet. Ich folge ihnen. Wahrscheinlich hätte ich das nie gefunden, denn auch an der braun gestrichenen Tür, die aussieht wie alle Wohnungstüren im Aufgang, fehlt jeglicher Hinweis. Antiwerbung. Ein Hostel, das nicht gefunden werden will. Vielleicht ist aber auch der Begriff Hostel übertrieben, denn es handelt sich, wie ich gleich sehe, um eine umgebaute Wohnung. Ob die das schwarz betreiben? Irgendetwas stimmt hier nicht, denn das Hostel hätte gar keinen Grund, sich zu verstecken. Es liegt mitten im Zentrum und ist in einem wirklich stattlichen Gebäude untergebracht. Ein Stalinbau aus den Dreißigerjahren mit repräsentativem Eingangsbereich, imposanten Säulen, Löwen aus Granit im Treppenaufgang und einer steinernen Figurengruppe auf dem Dach. Es ist ein beeindruckender Bau – neben der Tür prangt die Denkmalschutzplakette und auf der Eingangstreppe postieren sich andauernd Gesellschaften zum Fototermin. Warum also die Geheimhaltung?
Kaum zu finden: Das Hostel »Optimum« versteckt sich in diesem repräsentativen Stalinbau
Im Hostel scheinen gerade Renovierungsarbeiten zu laufen, ich steige auf dem Weg in mein Zimmer über Kabel, Werkzeuge und Geräte. Egal. Nach dem langen Flug will ich nur schnell duschen. Es gibt eine Dusche im Hostel. EINE. Ich warte und lasse mir derweil von einem der Spanier erzählen, wie er von Spanien auf dem Fahrrad nach Wladiwostok gefahren ist. Und in Dresden halten mich alle für eine Abenteuerin … Er trinkt Bier aus einer Tasse. Hinter ihm prangt ein Schild, dass der Genuss von Alkohol im Hostel verboten ist, es droht eine Strafe – 25 Euro. Deshalb also. Überhaupt hängen hier viele mahnende Schilder – alle unterschrieben mit »Die Administration«. Wer beispielsweise seine Haare nach der Körperreinigung nicht aus der Dusche entfernt, lese ich wenige Minuten später, soll 12,50 Euro Strafe zahlen. Ich frage mich, wer das kontrolliert? Haben die eine Kamera, hier im Bad?
Ich gehe in die Stadt, herrlichster Sonnenschein, es ist sommerlich warm. Ich habe Glück, denn genau heute hat ein Filmfestival begonnen, das International Meridian Pacific Film Festival. Auf den Straßen und an der Strandpromenade ist deshalb viel los. Trotzdem ist die Stimmung anders als in Moskau. Alles ist irgendwie entspannter. Neben der Festivalbühne gibt es eine Leseinsel. Die »Offene Bibliothek« ist eine kleine Insel aus grünem Teppich, der um einen Baum herum gelegt wurde und eine künstliche Wiese bildet. Dort liegen Bücher aus, man kann es sich auf Sitzsäcken und Liegestühlen bequem machen und in Ruhe lesen. Im Hintergrund plätschert das Meer. Oder man surft, denn freies Wifi gibt es auch. Aus den Lautsprechern kommt Musik, aber alles relativ dezent, wenig aufdringlich. Im Festivalpavillon kann man eine Ausstellung anschauen. »Dritte Kultur« erzählt von Einwanderung und den Folgen für die Kinder der Einwanderer. Sie zeigt deren Sicht auf ein Leben zwischen zwei Kulturen. Ich denke an die »Dritte Generation Ost«. Ein paar Meter weiter stehen Tischkicker, an denen man einfach so, ohne zu bezahlen, spielen kann. Ein Schild verrät das Anliegen: Zurück in die Kindheit! Mehrere Männer haben sich schon auf Zeitreise begeben. An einer anderen Ecke führt ein zerstreuter Chemie-Professor Experimente vor. Er ist von Kindern umringt. Sie sind begeistert von den brodelnden Kolben, dem aufsteigenden Dampf und den knallenden Korken. Aber nicht nur sie – auch ihre Mütter und Väter sind hier längst wieder zu Kindern geworden. Auf einer Wiese sind ein paar Jugendliche zusammengekommen – offenbar eine Gruppe von Hochleistungsspringern. Es sind Franzosen und Russen, die sich nicht verstehen. Nur die akrobatischen Sprungnummern, die sie zusammen einstudieren, geben ihnen eine gemeinsame Sprache. Die Atmosphäre ist locker, fast ein bisschen wie auf dem Venice-Beach. Nein, das ist nicht das Russland, das ich kenne. Und jetzt weiß ich, was anders ist. Es ist nicht mehr die frontale Kollektivbespaßung mit pompösem Bühnenprogramm für alle, sondern eine bunte Mischung von Angeboten, die jeder nach Belieben annehmen oder einfach ignorieren kann.
Entspannte Stimmung beim Meridian-Filmfestival: Angebote für Jung und Alt
Das ehemalige Kaufhaus Kunst & Albers heißt heute GUM. Von außen hat sich kaum etwas verändert.
Dann gehe ich zum Kaufhaus, zu Kunst & Albers. Schließlich das Ziel meiner Reise. Bin beeindruckt, weil das Gebäude komplett erhalten ist, und mache ein Beweisfoto: Ich vor dem Eingang. Man sieht so gut wie nichts von dem Haus. Egal. Später wird es DIE historische Aufnahme sein.
Ich gehe hinein und bin sofort enttäuscht. Ich will es mir nicht eingestehen, aber es ist so. Wie wenig ist innen vom einstigen Glanz übrig geblieben. Eigentlich nur Dinge, die wahrscheinlich bei den Baumaßnahmen übersehen wurden, wie die alten Heizkörper. Auch einige Fußböden mit den schönen Hamburger Fliesen scheinen noch original zu sein. Doch von den einstigen Räumlichkeiten, den großzügigen Hallen, ist kaum mehr etwas zu erahnen. Hinter den eingezogenen Wänden der nunmehr dort installierten Minishops und den Regalen lugt ab und zu mal eine Säule oder ein kunstvoll verziertes schmiedeeisernes Treppengeländer hervor. Keine einzige Stuckdecke ist zu sehen.
So manche Details erinnern heute an den einstigen Glanz
Körperkult und Fitnesswahn gibt es nicht nur in L.A. Nur stören die hiesigen Baustellenzäune und Wellblechbuden das Bild etwas.
Erste Enttäuschung macht sich breit. Im Hofbereich, von wo aus man die Rückfassade sieht, ist es noch schlimmer. Dort ist alles verfallen und heruntergekommen. Auf den Balkonen wachsen Birken. Russifizierung deutscher Bausubstanz, denke ich so vor mich hin und ermahne mich gleichzeitig, nicht immer alles so negativ zu sehen.
Ich gehe zwischendurch ins Hostel, koche mir etwas und rufe meine Mails ab. Irina hat geschrieben, ein sehr lustiges, antiquiertes Deutsch mit englischen Einsprengseln. Sie ist beseelt davon, dass ich im Hotel Ekvator stay machen soll und hat dort bereits alles arrangiert. Ich solle mich nur vertrauensvoll an die Rezeption wenden. Die Parole lautet »Peter Schwarz«. Bin zu müde, um angemessen zu antworten, und dämmere weg.
Abends, als ich zufällig wieder an der Festivalbühne vorbeikomme, wird dort die offizielle Festivaleröffnungsfeier übertragen. Wo die stattfindet, weiß ich nicht. Über den blauen Teppich (Pazifik!!!) schlendern die Stars. Jetzt wird ein Regisseur aus Deutschland angesagt, irgendein Axel. Das ist doch der Typ, mit dem ich in Berlin losgeflogen bin … Er telefonierte geschäftig bis zur letzten Sekunde. Wirklich lustig.
Eigentlich bin ich todmüde, habe den ganzen Flug über nicht geschlafen, aber ich will noch einmal am Strand entlanggehen, dorthin, wo ich ab übermorgen meine Wohnung gemietet habe. Am Anfang ist es ganz nett. Einige Jugendliche mit freiem Oberkörper machen Kraftübungen am Klettergerüst eines alten Spielplatzes. Ich denke an den Muscle-Beach in Los Angeles und mache heimlich ein Foto von den Jungs.
Dann ist die Promenade zu Ende, ich steige nur noch über Flaschen und Müll. Irgendwann zischt eine Ratte vorbei. Ich lande auf abseitigen Wegen, muss immer wieder irgendwelche Baustellen umrunden, es wird dunkel. Dann sehe ich den Block, in dem ich wohnen werde. Direkt am Meer, so hatte ich mir das vorgestellt und so sahen auch die Fotos aus. Aber was ist das denn? Was sehe ich da? Unmittelbar vor dem sechsstöckigen Haus befindet sich eine Baustelle. Ein Hochhaus wird dort hochgezogen, keine hundert Meter vor dem Haus, direkt auf dem Strand. Ich hoffe inständig, dass mein Zimmer nicht genau hinter dem Rohbau des Zwanziggeschossers liegt.
Böse Überraschung: Entpuppt sich mein unverbauter Meerblick etwa als Schwindel?
Mein Rückweg oberhalb des Seehafens entlang ist weit und dunkel. Ich gehe schnell, weil außer mir niemand zu Fuß unterwegs ist. Plötzlich erschrecke ich, denn ich sehe, dass direkt neben meinem rechten Fuß der Gullydeckel fehlt. Dort klafft ein großes schwarzes Loch. Hier waren Metalldiebe unterwegs. Dann komme ich am Bahnhof vorbei. Das Ende der Transsibirischen Eisenbahn. Ich schaue mir das aufwändig restaurierte Gebäude an und beschließe, in den nächsten Tagen im Hellen wiederzukommen. Gegenüber thront auf einer Anhöhe der angestrahlte Lenin.
Im Hostel erzählt mir Arne, der im Bett unter mir schläft, dass ich das großartige Festival-Eröffnungs-Feuerwerk verpasst hätte. Ja, ich saß in der Küche und schaute Fernsehen – Putins Ansprache zum G-20-Gipfel und der Lage in Syrien. Angela Merkel erwähnt er positiv. Die Deutschen wollen nicht eingreifen. Endlich – so Putin – hätten Deutschland und Russland die gleiche Meinung. Ich frage mich, was Angela Merkel dazu sagen würde. Kurze Zeit später geht das Feuerwerk wieder los. Es ist bombastisch, was da in die Luft geschossen wird. Ich bin froh, doch nichts verpasst zu haben. Von unserem Zimmer haben wir eine Supersicht auf das Spektakel. Arne sitzt auf dem Fensterbrett, ich liege oben im Doppelstockbett. Vor uns über dem Meer die bunten Raketenkaskaden. Das Feuerwerk wiederholt sich alle dreißig Minuten, insgesamt drei Mal. Warum das so ist, weiß keiner.
8. September 2013
Ich schlafe lange, denn ich habe etwas nachzuholen. Um sechs Uhr hatte eine Zimmernachbarin begonnen, ihren gesamten Kofferinhalt in Plastetüten zu verpacken. Asiaten mögen Tüten. Aber eigentlich hatte sie das auch schon vor dem Schlafengehen gemacht.
Um zehn Uhr, als ich das nächste Mal aufwache, steht der Koffer noch immer da – an einer Eisenkette gesichert. Warum also diese Aktion im Morgengrauen? Diese Hostels nerven. In Schottland ist wenigstens die Stimmung gut. Man geht ins Hostel, weil man Gleichgesinnte trifft. Eine traveller community – Abenteurer und Neugierige, Leute, die etwas mit anderen erleben wollen, die irgendwie offen und alternativ sind. In Russland scheint das anders zu sein. Da steigen auch Frauen, die ihre studierenden Töchter besuchen, Zeitarbeiter und Autohändler im Hostel ab. Alles ist förmlich, fast steif. Hier wird gesiezt, wenn man sich überhaupt unterhält. Auch die Konversation mit den Betreibern ist knapp. Am zweiten Tag beschränkt sich unser Wortwechsel auf die Nachfrage, ob ich bereits beide Nächte bezahlt hätte. Ich könnte antworten: »Nein, denn auch mein Wechselgeld von gestern steht noch aus«, aber ich lasse es und behalte den säumigen Rest einfach ein. Als ich meine Reservierungsanfrage hergeschickt hatte, bekam ich folgende Antwort: »Hallo, 700 Rubel, Reservierung vorgenommen.« Fünf Wörter. Was hatte ich also erwartet? Auch Arne ist etwas irritiert und bald schon entnervt.
Ich liege auf meinem Bett, blättere im Festivalprogramm, das mir Arne gegeben hat, und entdecke, dass abends der Film läuft, weshalb ich eigentlich hier bin: Abenteuer Sibirien. Manfred Brockmann, einer der Protagonisten, wird auch da sein. Ihn hatte ich vor meiner Reise mehrmals angeschrieben, aber bis auf eine kurze Antwort hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Eigentlich wollte ich, dass er mich bei irgendeiner Oma seiner Kirchgemeinde einquartiert. Er ist Pfarrer der hiesigen Paulusgemeinde.
Irina hat schon wieder geschrieben. Sie ist besorgt, weil ich mich nicht melde. Ist etwas passiert? Sie hat derweil schon wieder im Ekvator angerufen, hat sich dort nach meinem Verbleib erkundigt und nach zähem Ringen erreicht, dass ich ein Zimmer mit Meerblick bekomme. Aber von mir keine Spur – was habe das nur zu bedeuten? Ich antworte schnell, bevor das ganze Hotel noch Kopf steht. Schreibe ihr, dass ich eine Unterkunft habe und schlage ihr vor, mit aufs Festival zu kommen. Auch Manfred Brockmann maile ich noch einmal.
Am Nachmittag läuft auf dem Festival ein weißrussischer Film, der im Programm unter der Rubrik »Russland« gelistet ist. Ich kaufe mir eine Karte dafür und sehe im Programmaushang, dass in den nächsten Tagen auch Pierre Richard kommen wird. Dann spaziere ich durch die Stadt Richtung Adlernest, einer Aussichtsplattform, angeblich der höchste Berg in Wladiwostok. Da ich noch nirgendwo einen Stadtplan entdecken konnte, orientiere ich mich grob an den Hügeln. Die grünen Hügel – sopki – sind oder besser gesagt waren eines der Wahrzeichen der Stadt. Leider sieht man sie kaum noch, weil alles mehr und mehr zugebaut wird. Das Adlernest ist besonders schön gelegen, weil man von dort sowohl auf das Goldene Horn als auch auf die Amur-Meeresenge schauen kann. Hinweisschilder zu diesem touristischen Highlight gibt es jedoch nicht. Ich frage mich durch, schlängle mich durch Gärten und über abgelegene Treppen immer bergauf. Irgendwann bin ich auf einem grünen, mit Wiese bewachsenen Berg mit herrlicher Aussicht.
Oben zwei Bier trinkende Männer, die mich empfangen: Ruslan und Tolik, wie ich kurz darauf erfahre. »Prodajte nam vodu!« Sie wollen mir mein Wasser abkaufen – für Ruslans Tochter, die dabei ist und nichts zu trinken hat. Für sich haben sie zweieinhalb Liter Bier mitgenommen. Alisja bekommt mein Wasser. Sie wundern sich, wie ich es auf diesen Berg geschafft habe, denn die Aussichtsplattform für die Touristen sei doch dort unten. So weit unten, dass ich sie nicht einmal sehe. Das hier sei ein Platz für die Einheimischen, niemand verirre sich hierher, meint Ruslan. Nur ich offenbar. Sie erzählen begeistert vom Oktoberfest in München, wo – Ruslan weiß Bescheid – man aus riesigen Glas-Stiefeln Bier trinkt. Ich korrigiere und erkläre ihnen, dass es Maßkrüge sind. Aber Ruslan lässt sich nicht beirren, er ist sich hundertprozentig sicher, auch wenn er noch nie in München oder auch nur in Deutschland war. Trotzdem. Was kann er von mir erwarten, von einer Frau? Dazu von einer, die sein Bier abgelehnt hat, von einer, die in diesen Dingen ohnehin nicht mitreden kann, weil sie sich als Weintrinkerin geoutet hat. Sie schwärmen weiter: Und die Würste erst … Die machen die Bierbrauer selbst, einfach große Klasse. Ich sage nichts mehr. Sie wollen meinen Facebook-Kontakt haben und sind untröstlich, dass ich dort keinen Account habe. Das habe doch jeder … Ruslan gibt mir seine E-Mail-Adresse, eine Ziffernfolge, die gleichzeitig seine Telefonnummer ist. Sie fragen nach meinen Plänen, empfehlen mir, die neue Universität anzuschauen. Aber dafür brauche man einen Passierschein, einen Propusk. Als ich erzähle, dass ich eine Wanderung auf einer der Inseln machen will, warnt mich Ruslan vor den vielen giftigen Schlangen.
Blick auf das Goldene Horn und die zwei neu gebauten Brücken
Ruslan, Tolik und Alisja: Von ihnen habe ich einiges über deutsches Brauchtum gelernt
Dann gehe ich wieder zurück ins Kino, meine Premiere mit dem Regisseur. Die Russen sind begeisterte Kinogänger, sie feiern ihre Helden und auch hier gibt es Rosenbukets, die einiges gekostet haben müssen. Autogramme, Fotos – eine kitschigsentimentale Kinowelt, die es bei uns gar nicht mehr gibt. Danach muss ich schon fast zum Sibirienfilm hetzen, er läuft nicht auf der Freilichtbühne, sondern im Pavillon, direkt am Meer. Es sind gar nicht so wenige Besucher da, immerhin läuft der Film auf Deutsch. Nach dem Film gehe ich zu Manfred Brockmann, der sichtlich erstaunt ist, mich zu sehen. Meine Mails hat er nicht gelesen … Er schlägt vor, dass wir zusammen etwas essen gehen. Er ist ein etwas älterer Herr, der laut denkt, vor sich hinmurmelt und der es nicht bemerkt, wenn ihm gelegentlich Darmwinde entweichen. Ich tue so, als ob ich nichts bemerken würde. An seinem Hals baumelt ein Lederband mit einem riesigen goldenen Taizé-Kreuz. Brockmann nimmt kein Blatt vor den Mund. Schon nach wenigen Schritten bleibt er plötzlich stehen und fragt mich, ob ich gestern auch das pompöse Feuerwerk gesehen hätte? Ich nicke. »Nichts als Schein, ein Trugbild, denn in Wirklichkeit leben sie alle über ihre Verhältnisse – der Staat, die Stadt, die Menschen.« So viele seien verschuldet, aber es scheint niemanden zu interessieren. Sie machen einfach weiter wie gehabt.
Wir spazieren ein wenig durch die Stadt, über den Fokin-Boulevard, den hier alle Arbat nennen. Eine entspannte Wochenendstimmung liegt in der Luft. Alle schlendern gemütlich in der Abendsonne.
Brockmann will zu einem Chinesen. Mir ist egal, wo wir hingehen. Das Essen schmeckt nicht wirklich chinesisch. Alles ist süß, das Fleisch klebt in einer schleimigen Soße, dabei hatte ich extra nichts Süß-Saures bestellt. Dazwischen gekochte Gurken. Reis gibt es nicht dazu. Den hätte man offenbar extra bestellen müssen. Ich schaue in die Karte und tatsächlich, Reis ist in der Rubrik »Salate« aufgelistet. Wir erzählen lange und Manfred Brockmann ist begeistert, dass er endlich mal eine Gesprächspartnerin vor sich hat, die ihn versteht, die auch so manche Probleme mit den Russen hat.
Bummeln in der Abendsonne auf dem Arbat, der direkt auf die Strandprommenade führt
Dann sagt er unvermittelt, dass er von vielem enttäuscht sei. Er war mit so großem Enthusiasmus hierhergekommen. Wenn er daran nur denkt, die Euphorie der Anfangszeit. Aber mit den Jahren … Auch die Russen sieht er, je länger er hier lebt, immer kritischer. Das Emotionale, das ihn früher so begeistert habe, stört ihn mehr und mehr. Aber auch generell zieht er eine ernüchternde Bilanz: Die Männer – immer nur Krieg und Weiber im Kopf und in der ewigen Pubertät stecken geblieben. Die Frauen – leider oft so herrschsüchtig. Alles wollen sie an sich reißen. Und dann verhätscheln sie auch noch ihre Söhne und machen damit alles noch schlimmer. Und die jungen Frauen erst … Würden sie so rumlaufen, wenn sie etwas im Kopf hätten? Brockmann schüttelt den Kopf. Wer habe ihn nicht alles enttäuscht … Geschichten könnte er erzählen … Zum Glück habe er immer auch umwerfende Mitmenschlichkeit erlebt. Szenen und Gesten, die in Deutschland undenkbar wären. Das gebe ihm immer wieder Hoffnung und die nötige Kraft. Vor allem, weil es die Menschen so verdammt schwer hier haben. Ja, dieses Nebeneinander ist wohl das Besondere hier …
Wir erzählen angeregt und verstehen uns auf Anhieb. Deshalb gehen wir nach dem Chinesen noch woanders hin, ans Meer. Es ist fast romantisch. Wir sitzen auf einer Terrasse eines Cafés an der Promenade vor der untergehenden Abendsonne, ich trinke Cappuccino und er raucht Zigarre und isst nebenher ein Eis.
Zwischendurch ruft Brockmann bei seiner Frau an. Ja, die Russen seien oft so schwermütig, da muss man zwischendurch mal aufheitern. Er erzählt vom Leben in der Stadt und seinen Touren aufs Land. Brockmann wandert gern. Erst gestern ist er von einer vorgelagerten Halbinsel vom Zelten zurückgekommen. Er erzählt mir, dass am Morgen eine Frau barfuß und um Hilfe schreiend auf ihn zugerannt kam und sich ängstlich an ihn klammerte. Sie war in der Nacht zuvor mit einer Yacht aufs Meer hinausgefahren, mit zwei Männern. Als sie bemerkte, was die beiden mit ihr vorhatten, sei sie über Bord gesprungen, an Land geschwommen und durch den Wald gerannt, die ganze Nacht, bis sie früh den Rauch seines Feuers entdeckt habe. Brockmann hat sie beruhigt und mitgenommen, zurück zur Fähre. Als sie wieder in der Zivilisation am Bootsanleger waren, schien die Barfüßige wie ausgewechselt. Da sie ohne Schuhe nicht schnell gehen konnte, hatten sie die Fähre verpasst. Aber was hat sie gemacht? Habe ihn stehen lassen und sich mit dem Taxi nach Hause fahren lassen – ein mehrstündiger Weg, einige Tausend Rubel. Er habe dann den ganzen Tag auf die Abendfähre gewartet. Brockmann schaut mich fragend an. »Wissen Sie, ich weiß hier nie, was ich glauben soll. Was ich nicht alles erlebt habe … «
Darmowy fragment się skończył.