Czytaj książkę: «Die sehende Sintiza»
© 2020 – e-book-Ausgabe
Überarbeitete Neuausgabe
Originalausgabe 2012
(Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer)
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Zell/Mosel
Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel
Tel 06542/5151 Fax 06542/61158
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89801-889-0
Ausstattung: Stefanie Thur
Titel: ullstein bild
Monika Littau
Die sehende Sintiza
Buchela – Pythia von Bonn
Roman
Rhein-Mosel-Verlag
Für B.
Kai-pe-sina, Kai-pe-nana (Es war, es war nicht) Einleitungsformel südeuropäischer Roma zu Beginn einer Geschichte
Dein Ort ist / wo Augen dich ansehen … (Hilde Domin)
Prolog
Sie sitzt im goldenen Plüschsessel und starrt auf ihre Füße.
Was hat sie denn für Schuhe an?
Die Lippen fest aufeinander gepresst, bückt sie sich, streift die plumpen Dinger, die gar nicht aus Leder sind, sondern aus irgendeinem Stoff oder Filz, von den Füßen und schleudert sie unter den Wohnzimmertisch. Sie starrt den Schuhen hinterher, entspannt sich, als sie feststellt, dass sie außer Sichtweite sind. Die Falten rund um den Mund werden flacher. Sie lächelt.
Auf Strümpfen geht sie ins Schlafzimmer, öffnet den Schrank und überblickt die vielen Paar Schuhe, die auf dem Boden stehen. Offene und geschlossene Schuhe, viele schwarze Paare dabei, weiße auch, und sogar schwarzweiße.
Sie kauert sich auf den Boden und nimmt ein Paar nach dem anderen heraus, bis sie Damenpumps mit einer großen runden, strassbesetzten Schnalle in Händen hält. Genau die hat sie gesucht. Die Schuhe hat sie mit Romi gekauft. Und getragen hat sie die auf dem Presseball. Romi hat auch ein Paar bekommen. Wollte rote. Rote Schuhe! Und dann noch flache Treter. Aber so ist sie eben, die Tochter, die Bocka. Gar nicht weiblich. Immer muss es bequem sein. Und am besten ein kleines bisschen auffällig.
Rund um Buchela ist der Boden bedeckt mit ihren Schuhen. Einen Moment lang sitzt sie bewegungslos und betrachtet das Durcheinander, weiß nicht, wie sie aufstehen soll. Energisch schiebt sie mit beiden Händen die Schuhe einfach zur Seite, eine Bewegung als wolle sie Schwimmübungen machen. Sie gewinnt soviel Platz, dass sie sich mit den Händen abstützen kann, auf die Knie kommt, erst den rechten, dann den linken Fuß aufsetzt und wackelig auf den Beinen steht.
Sie bückt sich erneut, greift nach den Schnallenschuhen, gerät beim Hochkommen ins Wanken und lässt sich nach hinten auf das Bett fallen. Kurz betrachtet sie die Zimmerdecke. Dann rappelt sie sich auf, beugt sich nach vorn und schlüpft in die Schuhe. Sie betrachtet ihre Füße mit Wohlwollen. So sieht es gut aus. So ist sie Madame Buchela. Wenn sie an diese unförmigen Dinger denkt, die sie eben anhatte, wird sie jetzt noch wütend. Sie stößt die Atemluft laut aus. So kann man sie doch nicht herumlaufen lassen!
Immer muss sie aufpassen, damit sie ihr nicht irgendetwas andrehen, das gar nicht zu ihr passt. Sie schüttelt den Kopf, stützt sich mit den Händen auf der Bettkante ab, schiebt sich weiter nach vorn, so dass sie leichter aufstehen kann.
Auf ihren hochhackigen Pumps läuft sie aufgerichtet ins Wohnzimmer, genießt es, wenige Zentimeter größer zu sein. Dann lässt sie sich wieder in ihren Sessel fallen. Sie schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Unterschenkel des einen Beins, als ob sie ein junges, ungeduldiges Mädchen wäre. Sie lächelt. Sie kann sich nicht erinnern, jemals mit dem Bein gewippt zu haben. Vielleicht als Mädchen, aber das weiß sie nicht mehr. Das Wippen macht ein gutes Gefühl.
Sie hört auf damit, stellt die Füße wieder nebeneinander, so dass ihre Knie sich berühren, weiß einen Moment lang nicht, was jetzt kommen soll und schlägt dann das andere Bein über, wippt erneut und beobachtet belustigt ihren Fuß, der sich im Schnallenschuh auf und ab bewegt, als ob er schaukelt.
Schließlich hat sie genug davon, setzt beide Füße wieder auf die Erde, die Beine fallen ein wenig auseinander. »Wie albern du bist«, schimpft sie mit sich.
Sie lauscht.
»Lita!«, ruft sie. »Lita, wo bist du?«
Aber im Haus bleibt es still.
Vor dem Fenster bewegen sich die Zweige der Tannen heftig hin und her.
»Lita!«
Das Mädchen kann doch bei diesem Wetter nicht weg sein?
Sie steht auf und öffnet das Fenster ein kleines Stück. Wind mit ein paar Regentropfen schlägt ihr ins Gesicht. Unten hat ein Wagen angehalten. Sie hat deutlich gehört, dass der Motor zunächst brummte und es dann still war.
Kommt da einer? Sie schließt das Fenster wieder. Was soll sie tun, wenn es jetzt an der Tür klingelt? Soll sie aufmachen?
Besser sie tut so, als wenn keiner da wäre. Das ist das Klügste. Sie darf auch nicht nach Lita rufen, sonst verrät sie sich und der vor der Tür weiß sofort Bescheid, dass sie allein ist. Sie sitzt still in ihrem Sessel und lauscht. Waren da Schritte auf der Treppe? Sie hält den Atem an. Aber es ist nichts. Nichts.
Am meisten fürchtet sie sich davor, dass einer sie mitnehmen will.
Sie geht ihren Leuten auf die Nerven, wenn sie sagt: »Die wollen mich holen.«
»Hör schon auf, Tante«, lacht Lita dann. »Wer soll dich denn schon holen wollen.«
»Gar nichts weißt du«, sagt Buchela ungeduldig. »Gar nichts.«
Dass dieser Dr. Sardo alles daran gesetzt hat, sie in sein Auto zu bekommen, hat sie ihr erzählt. Trotzdem scheint sie nicht zu verstehen. »Der Sardo hat noch eine Rechnung offen mit mir«, sagt sie zu Lita.
»Aber der ist im Gefängnis, Tante.«
»Wer weiß«, sagt Buchela. »Vielleicht ist der schlaue Kerl schon wieder raus. Der dritte Mann ist längst draußen.«
Sie sitzt starr im Sessel, atmet schnell und flach. Die Füße in den Schnallenschuhen sind eiskalt geworden, gefühllos. Was sie weiß, das weiß sie. Einer wird sie am Ende holen. Die Fingerkuppen drücken sich tief in den Plüsch der Armlehnen. Warum glaubt Lita der Tante nicht? Muss ja nicht mal der Sardo sein. Kann sie auch sonst wer holen. Als Kind hat sie die Staatsgewalt mitgenommen, die Obrigkeit.
Zwei Schutzmänner, gegen die sie nichts ausrichten konnte.
1.
Am Tag, als ihr Bruder Anton stirbt, bringen zwei Schutzmänner Buchela in das Waisenhaus der Borromäerinnen.
»Du bist also die Margaretha.«
Das Mädchen sieht die Oberin nicht an. Es spielt mit Fäden, die sich aus dem abgestoßenen Bündchen der roten Männerjacke gelöst haben, die es trägt.
Buchela schweigt. Dann aber schüttelt sie vorsichtig den Kopf.
»Was heißt das?«, forscht die Oberin nach.
»Margaretha ist ein guter Christenname. Hier bist du Margaretha, wie es in deiner Taufurkunde steht. Hast du gehört?«
Buchela reißt mit einem Ruck die Fäden von ihrer Jacke ab und beginnt zwischen den Fingern eine kleine Kugel daraus zu rollen.
»Gib her.« Die Oberin hält ihre Hand vor Buchela auf.
Das Mädchen reagiert nicht. Da ergreift die Schwester ihre Hand, öffnet die Finger gewaltsam und nimmt das Fadenknäuel heraus.
»Hast du gehört?«, fragt die Oberin eindringlicher.
Das Mädchen blickt weiter auf die Holzdielen, bewegt aber den Kopf ein wenig, so dass die Oberin es als Nicken nimmt.
»Dann kannst du jetzt mit Schwester Benedicta gehen. Ich hoffe, dass du dich bei uns bald einlebst und aufhörst so verstockt zu sein.«
Sie kommt also nicht zurück zu Mama und Tatta1? Buchela blickt auf und wendet der Oberin ihr Tränen verschmiertes Gesicht zu.
Sie sieht unter den großen weißen Flügeln der Haube ein kleines, verhungertes Exengesicht. Große Augen, eine mächtige Nase, aber einen kleinen Mund, der in einem Netz von Falten, die auf die schmalen Lippen zulaufen, gefangen ist. Ledern spannt sich die Haut über den Wangenknochen.
Ich bin nicht Margaretha, will das Mädchen sagen. Ich bin Buchela. Schließlich ist sie unter einer Buche geboren. Aber das kann sie der Oberin nicht erzählen, denn sie hat beschlossen, keinen Mucks zu sagen.
Jedes Mal, wenn sie in Honzrath das Lager aufschlugen, führte der Vater ihren Wohnwagen unter diese Buche. »Da siehst du«, sagte er, »die hat es gut mit dir gemeint, als du geboren bist.« Sie blickte auf zum Gewölbe der Baumkronen, das sich schützend über den Rastplatz spannte. Abends, wenn sie noch nicht eingeschlafen war, hörte sie im Frühling, wie die Buche ihre Blüten auf den Wagen warf. Im Herbst klackerten Bucheckern leise. Morgens sammelte sie die Ölfrüchte. Dann wieder klatschten Regen und Wind die Zweige des Baumes auf das Dach, übersäten die Wiese mit Brennholz für die nächsten Mahlzeiten.
Allerdings hat die Matthis ihr die Geschichte etwas anders erzählt und behauptet, sie hätte ihren ersten Schrei auf dem Heu in ihrer Scheune getan. Denn ihr Geburtstag sei ein feuchter kalter Oktobertag gewesen. Aber auch diese Auskunft ändert nichts an der Tatsache, dass sie Buchela ist und bleibt.
»Dann komm. Ich zeig dir den Schlafsaal.« Schwester Benedicta führt sie quer durch die große Eingangshalle zu einer ausgetretenen steinernen Wendeltreppe. Sie steigen ins Obergeschoss.
Sie kommen zu einem Raum, in dem zwei Waschschüsseln auf einem Tisch stehen. »Wasch dir erst mal das Gesicht«, sagt die Schwester. »Ich hol dir ein Handtuch.« Sonst wäscht sich Buchela am Brunnen oder am Bach oder am Fluss. Am Brunnen nur die Hände und das Gesicht ein bisschen, wegen der Leute. Am Brunnen hat sie Angst, weil sie Gesichter drin sieht. Das schimmert so dunkel da unten. Obengt, der Teufel, kann sich einfach auf ihren Eimer setzen. Kaum hat sie ihn hochgezogen, fällt er vielleicht über sie her mit seinen langen Krallen und zerkratzt ihr das Gesicht. Er kann seine Nägel in ihre Kehle bohren, ihr den Hals brechen und sie rösten und auffressen. Deshalb ist sie schon mit leerem Eimer zurückgekommen, hat sich einfach nicht getraut, ihn ins dunkle Wasser zu tauchen. Aber dann setzt es was. Manchmal hilft ihr Anton. Anton hat sie beschützt. Auch wenn sie träumt und vor sich hinmurmelt am hellen Tag und ihr die Mutter deshalb eine Ohrfeige gibt: »Dass du nur aufwachst.«
»Lass sie«, sagt Anton dann. »Lass sie, sie tut doch nichts.«
Jetzt gießt Buchela vorsichtig Wasser aus einem Krug in die abgestoßene‚ weiße Emailleschüssel. Es ist klar. Sie füllt ihre Hände damit, betrachtet es. Dann klatscht sie sich das Wasser ins Gesicht. Wieder und wieder taucht sie ihre Hände in die Schüssel und füllt sie. Sie kann gar nicht aufhören damit, bis Schwester Benedicta sie an der Schulter berührt und ihr ein dünnes Tuch in die Hand drückt.
»Das ist dein Haken, direkt neben der Tür. Wecken ist um fünf. Du gehst in den Waschraum und stellst dich an, damit du nicht ungewaschen zum Gottesdienst kommst. Der beginnt um halb sechs. Danach ist Frühstück und dann gehst du in den Unterricht. Du musst den Zeitplan genau einhalten.«
Buchela sieht in das volle rote Gesicht von Schwester Benedicta. Ihr Blick bleibt an den Augen hängen, über die sich rosige Säckchen wie kleine, weiche Kissen auf die Lider herunterwölben. Buchela nickt, obwohl sie nicht weiß, was sie tun soll. Die Augen der Schwester sind freundlich, die Kissen darüber ganz weich.
Buchela kennt die Uhr nicht. Sie kennt aber Jungen, die ihr hinterher gerannt sind und Steine nach ihr warfen. Die Jungen mit Ledertaschen auf dem Rücken kamen aus der Schule. Buchela mit dem Holzbündel unterm Arm kam aus dem Wald. Die Steine haben sie nicht getroffen, weil sie laufen kann wie ein Hase und Haken schlagen. Jetzt soll auch sie in die Schule, soviel hat sie verstanden.
»Kopf nach vorn.« Schwester Benedicta zieht einen Scheitel auf der Mitte ihres Kopfes, dann noch einen links und rechts. »Hab ich’s mir doch gedacht!« Sie bürstet das verfilzte Haar. Sie tut es mit Hingabe. Buchela zuckt, als der Kamm ziepend durchs Haar fährt.
»Stillhalten«, sagt die Schwester, »die Nissen müssen raus. Da sind ja richtige Nester!« Sie holt aus dem Flurschrank eine Dose und streut Pulver auf den Kopf des Kindes. Dann zieht sie noch einmal einen Strich mit dem Kamm über die Mitte, teilt das Haar in Strähnen und flicht zwei feste Zöpfe, die sie am Ende mit Spangen befestigt. Die Haut spannt auf Buchelas Kopf, als wolle man ihr das Fell abziehen.
»Das sieht doch gleich ganz anders aus!«, nickt Schwester Benedicta.
Im Schlafsaal bekommt Buchela eines der Eisenbetten, die links und rechts an den Wänden aufgereiht sind. Ihr Bett liegt ganz am Ende des Raumes. Darunter steht eine kleine Kiste, in die sie ihre Habseligkeiten räumen soll. Aber es gibt nichts, was sie in die Kiste legen kann. Deshalb führt sie die Schwester direkt in die Kleiderkammer.
Da muss sie sich ausziehen, steht nackt neben dem Bündel Kleider, die sie am Leibe getragen hat, schlüpft in ein langes Hemd zum Überziehen, in Unterhosen, bekommt noch eine zweite Garnitur zum Wechseln. Die Schwester nimmt aus den Regalen Kleidungsstücke, legt die Hellen und Farbigen gleich wieder zurück. Die Dunklen faltet sie auseinander und überprüft nach Augenmaß die Größe.
Buchela greift nach einer roten Bluse. »Nein«, sagt Schwester Benedicta und schüttelt den Kopf. »Das passt jetzt nicht, wo doch dein Bruder gestorben ist. Gib es mir zurück.« Sie nimmt ihr das Kleidungsstück aus der Hand. Buchelas Kopf sinkt auf die Brust.
Anton. Rot war Antons Lieblingsfarbe. Immer hatte er ein rotes Tuch um den Hals gebunden.
Stattdessen erhält Buchela ein schwarzes und ein dunkelblaues Kleid, zwei dunkle Überziehschürzen, zwei Paar Strümpfe, zwei Paar Socken. »Kannst du in den Schuhen überhaupt laufen?«, will Benedicta wissen und runzelt skeptisch die Stirn. Die klobigen alten Schuhe, die von einem schmutzighellen und einem schwarzen Schnürband gehalten werden, sehen viel zu groß aus. Aber Buchela nickt heftig. »Dann behalt sie.«
Beim Herausgehen bückt sich das Mädchen nach dem ausgefransten Ärmel ihrer Männerjacke und zieht sie unter dem Haufen heraus. »Lass liegen«, sagt die Schwester. »Das muss alles verbrannt werden.«
Als Buchela kurze Zeit später das erste Mal den Esssaal betritt, sieht sie aus wie eine traurige Krähe. Die Luft im Saal riecht abgestanden und nach Kohlsuppe.
Neugierig wird die Neue beäugt, die steif neben der Nonne steht.
»Das ist Margaretha«, wendet sich Schwester Benedicta an die Kinder.
»Du holst dir den Stuhl«, sagt sie zu Margaretha, »und setzt dich an den Mädchentisch!«
Während Buchela sich aus der Starre löst und den Stuhl herbeischafft, hört sie Flüstern und Kichern.
»Getuschelt wird nicht!«
Schwester Benedictas Stimme klingt scharf wie ein Küchenmesser.
Zögerlich schieben die Mädchen ihre Stühle näher zusammen. Scharren, Schieben, bis der Stuhl endlich am Tisch steht und Buchela sich setzen kann. Dann wird es still.
»Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.« Buchela presst die Handflächen gegeneinander wie die anderen, hält den Mund aber fest geschlossen.
»Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen.«
Das größte Mädchen erhebt sich, beginnt das Essen aus dem Topf in die Teller zu schöpfen. Dampfende Suppe. Daneben die Hände bewegungslos auf der Tischplatte. Scheppern vom Jungentisch, wo noch Teller angereicht werden. Schließlich wieder vollkommene Stille. Buchela blickt in Gesichter mit gesenkten Augen.
»Guten Appetit!« Die feste Stimme von Schwester Benedicta hinter Buchelas Rücken.
»Guten Appetit!« Ein Stimmenchor, dann Löffelgeklapper.
Keines der Mädchen hat so schwarze Haare wie Buchela. Und die Haut der anderen ist hell, nicht so braun gebacken, wie die schöne Farbe der Sinti. Begierig blickt Buchela beim Löffeln ihrer Kohlsuppe auf die hellen Schürzen der anderen.
Sie hört das Klacken und Schrappen der Löffel, sonst nichts. Dass sie nicht sprechen will, kann keiner bemerken, da alle beim Essen schweigen.
Ein heftiger Tritt trifft sie am Bein. Die Suppe platscht vom Löffel auf den Teller und spritzt auf ihre Schürze. Sie wischt mit der Hand über den Stoff. Dann tritt sie kräftig zurück.
2.
Nachts liegt sie wach in ihrem Bett. Sie hat Angst, dass die Decke auf ihren Kopf fallen kann. Unter Steinen wird man begraben, wenn man gestorben ist, damit man nicht wiederkommt und die Lebenden in Ruhe lässt. Noch nie hat sie in einem solchen Raum geschlafen. Vielleicht ist sie bald tot. So tot wie Anton. Aber auf ihrem Körper werden anders als beim Bruder dicke Gesteinsbrocken liegen.
Das Stroh knistert, wenn sie sich von der einen auf die andere Seite dreht. Sie hört das Atmen der anderen Mädchen, während sie wach da liegt. Sie sehnt sich nach der Enge des Wohnwagens, in dem sie mit den Eltern und den Geschwistern schläft. Das laute Weinen ihrer Mama verfolgt sie und die Augen von Tatta, aus denen Tränen tropfen. Er wischt sich mit dem Handrücken die Nase. Und dann sind da diese Männer in Uniform. Sie klettern in den Wohnwagen. Eilig kommen sie wieder heraus und stürzen sich auf den Vater. Aber der weiß sich zu entwinden und rennt in den Wald. Die Männer setzen hinterher.
Die Uniformierten kommen zurück ohne Tatta. Sie zerren nun die Mutter zum Wagen und schieben sie neben den Kutscher auf den Bock. Die heulenden Kinder müssen hinten aufsitzen. Der Wagen rumpelt über die Landstraße zum nächsten Ort. Da hält er, und die Männer bedeuten der Mutter vom Bock zu steigen. Sie weint und flucht abwechselnd. Aber der eine Mann mit Uniform hält der Frau einen Karabiner vor die Brust, dass sie keine Wahl hat und sich unter lautem Klagen dann doch in das Haus begibt. Der andere Polizist hält die Kinder, die der Mutter nachdrängen wollen, mit einem quer gehaltenen Gewehr zurück. Je Mama, was machen wir jetzt? Buchela beißt dem Mann in die Hand, so dass er aufschreit. Er schlägt ihr ins Gesicht. Sie taumelt zurück und landet auf dem Boden des Wagens.
Der Kutscher treibt die Pferde an.
Zuerst reißen sie ihr Engelsüßchen aus den Armen. Engelsüßchen, die Kleine, die nur Buchela beruhigen kann. Wie oft hat sie ihr nachts den Finger in den Mund gesteckt und sie nuckeln lassen und ein Lied gesummt, damit sie sich beruhigt. Und tags ist sie mit Engelsüßchen auf dem Arm zu den Häusern der Gadsche gegangen und hat ihnen ihre leere Hand hingestreckt.
Dann ziehen sie Dotla von ihr weg. Die klammert sich mit aller Macht an Buchelas Rock, so dass er einreißt. Aber genutzt hat es nichts. Dotla verschwindet hinter einer großen Holztür. Rafflo kommt als nächstes dran. Der versucht, es dem Vater nachzumachen und wegzurennen. Aber seine Beine sind noch nicht lang genug, er kann den Männern nicht entkommen. Sie sind schneller und fangen ihn ein.
Zum Schluss bringen die Uniformierten Buchela an die Pforte der Borromäerinnen.
Frühmorgens wird sie an den Armen geschüttelt und hört den Namen »Margaretha«. Wer sollte das sein? Noch fester zerrt jemand an ihr und reißt sie aus dem Schlaf. Um sie herum lauter Gesichter.
»Sie hat geschrien.«
»Als ob sie abgestochen würde.«
»Ihr geht sofort wieder ins Bett und schlaft weiter. Ich will nichts mehr hören.«
Die Gesichter verschwinden. Buchela spürt eine kühlende Hand auf ihrer Stirn. Sie wird auf den Arm genommen. Sie fühlt sich leicht wie ein Vögelchen. Sie ist ein Vögelchen, das nach Hause fliegen will.
3.
Pochen. Hämmern. Dröhnen. Sie sitzt in einer Blechkiste, auf die von außen geschlagen wird. Immer lauter. Dass die Wandung vibriert. Dass ihr Körper zittert und es in den Ohren schmerzt. Dass der Mund austrocknet. Dass die Zunge am Gaumen klebt. Ein dumpfes Schlagen von bloßen Händen. Dann hört sie den harten, hellen Klang, wie Metall auf Metall schlägt. Eine Wand aus Lärm erdrückt sie.
Ihr Atem geht schnell. Sie ist schweißnass. Sie friert.
Jemand berührt ihren Kopf, legt etwas Kaltes auf die Stirn. Sie schlägt um sich.
Es legt sich so schwer auf ihren Körper, dass sie ihn nicht mehr rühren kann. Alles verschwimmt. Die Sinne schwinden.
Jemand macht sich an den Waden zu schaffen, umwickelt sie. Auf der Stirn liegt ein Tuch, das heiß brennt. Dann wieder ist es kühl. Sie hört das Summen einer Zimmerfliege so laut, dass ihre Ohren schmerzen. Sie hört nichts. Eine unheimliche Stille, die bleiern wie ein schweres Grau im Raum steht. Dann laute Kinderstimmen. Hinter den Augenlidern Helligkeit, rot lodernd.
Eine Hand streichelt über ihren Kopf.
Sie springt über Holzstämme und über einen Bach. Sie rutscht an der feuchten Böschung aus, verliert das Gleichgewicht und fällt. Sie verliert das gesammelte Holz. Sie erreicht die Wiese, wo der Wagen steht. »Mama!« ruft sie. »Mama! Wo ist Anton?«
Jetzt spürt sie, dass das Hämmern innen ist.
Das Hämmern sitzt ihr in der Brust, als sie zu Anton kriecht und seinen Kopf in die Hände nimmt. Sie streichelt sein schwarzes widerspenstiges Haar, das er mit Zuckerwasser zu einer Schmalzlocke geformt hat. Auf der Brust ist ein Fleck, rot wie sein Halstuch.
Man flößt ihr Flüssigkeit ein. Sie schluckt. Sie verschluckt sich und hustet.
Der Vater flucht. Die Mutter schreit. Der Junge war an der Blechkiste. Die mit dem Schloss drauf. Jetzt ist die Blechkiste leer. Die Pistole ist auf den Boden gefallen und noch ein Stück bis zur Wand gerutscht.
Ihre rissigen Lippen schmerzen. Sie werden befeuchtet und gekühlt. Sie leckt mit der Zunge über den Mund. Das tut gut.
Als Buchela die Augen aufschlägt, blickt sie an die Decke eines kleinen Raumes. Die weiße Farbe ist rissig, so dass sich verworfene Linien von einer Wand zur anderen ziehen. Buchela schließt die Augen sofort wieder. Dann aber hört sie ein Geräusch neben sich und schlägt die Augen wieder auf.
Sie dreht den Kopf ein bisschen und sieht auf dem Stuhl am Fenster ein Mädchen sitzen. Es hält ein Buch in der Hand und kratzt sich ausgiebig am rechten Ohr.
Sie hört, wie die Tür geöffnet wird. »Du kannst jetzt gehen«, sagt eine Frauenstimme. Das Schieben der Stuhlbeine auf den Fliesen ist zu hören, dann die Schritte des Mädchens, seltsam schleppend und ungleichmäßig.
»Nach dem Essen kommst du wieder her.«
Am Luftzug spürt sie, dass die Tür kurz geöffnet ist. Dann wird sie wieder ins Schloss gezogen.
Schwester Benedicta greift unter die Achseln und zieht Buchelas Körper hoch. Sie schiebt ein dickes Kissen hinter den Rücken und lässt das Mädchen dann nach hinten sinken.
»Jetzt gibt es Suppe. Die hat Änne für dich gekocht.« Die Schwester steckt ein Tuch an Buchelas Hals fest.
Ein gefüllter Löffel kommt auf sie zu. Sie öffnet den Mund, dass die Flüssigkeit in ihren Rachen fließen kann. Es schmeckt salzig. Sie schluckt.
Nach wenigen Löffeln schüttelt sie den Kopf.
»Nicht schlapp machen. Einen schaffst du noch!«
Dann wird das Kissen irgendwann wieder weggezogen. Buchela schläft ein.
Am nächsten Tag, als sie aufwacht, sitzt wieder das Mädchen am Fenster und reibt sich ihr Ohr. Aber diesmal hat es sie beobachtet und weiß, dass Buchela wach geworden ist. Sie rückt näher mit ihrem Stuhl.
»Ich bin Änne. Und du bist die Margaretha, stimmt’s?« Buchela schaut weg und wieder an die Decke.
»Schau mal, die hat Schwester Benedicta für dich hier gelassen.« Buchela sieht die rote Bluse.
»Sie sagt, du darfst sie haben. Damit du wieder gesund werden willst. Aber du darfst sie noch nicht anziehen.«
Sie hebt die Bluse vom Tisch, fasst sie bei den Schultern und zeigt sie Buchela in ihrer ganzen Schönheit. Dann legt sie sie auf das Bett. Buchela greift nach der Bluse und zieht sie hastig unter die Decke.
»Die nimmt dir doch keiner mehr weg.«
Änne sieht sie lachend an. Änne hat blonde Haare, blaue Augen und Sommersprossen und vom ständigen Reiben ist ihr rechtes Ohr rot angelaufen.
»Danke.«
Erschrocken presst Buchela die Lippen aufeinander. Ihr ist ein Wort herausgerutscht.
»Kannst ja doch sprechen«, grinst Änne.
»Auch von Schwester Benedicta«, sagt sie und zeigt auf ihre hellblaue Schürze.
»Meine Lieblingsfarbe ist nämlich hellblau. Obwohl das eine Jungenfarbe ist.«
Dass es Mädchen- oder Jungenfarben geben könnte, darüber hat sich Buchela noch nie Gedanken gemacht. Hauptsache, man hat überhaupt etwas zum Anziehen.
»Hellblau wie die Mosel. Mein Vater ist da Schiffer und hat keine Zeit für mich. Und meine Mutter ist tot.«
Draußen antwortet eine Amsel mit ihrem Gesang einer anderen. Ein Hin und Her der Vogelstimmen. Triller dazwischen. Buchela kann sich vorstellen, wie sie in den Spitzen zweier Bäume sitzen und sich ansingen. Es muss Abend sein. Amseln singen am frühen Morgen oder abends.
»Ich bin schon vier Jahre hier«, Änne reibt sich das Ohrläppchen.
»Wenn du wieder gesund bist und Lust hast, dann zeige ich dir hier alles.«
Buchela nickt.
»Morgen komm ich wieder.«
Als Änne aufsteht, sieht Buchela, was sie tags zuvor nur gehört hat. Änne hat ein steifes Bein. Deshalb geht sie so schlurfend. Deshalb klingt ihr Schritt so ungleichmäßig.