Czytaj książkę: «Der Messias vom Stamme Efraim»

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Die Übersetzung folgt der 1924 im Berliner Verlag Wostok erschienenen Erstausgabe »Maschiach ben Efrajim«. Sie erschien erstmals 1996 im Verlag Volk und Welt und wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2018 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4299 3

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3295 6

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Eröffnung

All jene, die ihre Seelen an das Wort JHWH gehängt haben, die Lamedwow, die sechsunddreißig Gerechten, wandeln abgeschieden und allein am Rande der Welt.

Im Dunkel verharren sie zuweilen. Sie spüren einander über die Ferne, doch keiner kann den anderen sehen. Sie schreiten am Rande der Welt, große Juden mit langen Stecken, gebeugt in die mitternächtliche Bläue des Himmels.

Und am Tage des Gerichts kommen sie, mit zerzausten Bärten, in Pelzen und Stiefeln, mit ihren Birkenstöcken in der Hand. Und sie fragen nicht: Sie kommen und setzen sich vor den Thron der Herrlichkeit.

Sie schieben ihre Ärmel ineinander und wärmen sich in der Heiligkeit des Allmächtigen.

Und sie rauchen ihre Pfeifen.

Der Allmächtige aber sitzt auf dem Thron der Herrlichkeit und lächelt. Ihm gefallen seine schlichten Zaddikim.

Der Müller

In Weißrußland lebte einmal ein Mann, er war Müller.

Sein Weib war gestorben, den Sohn zog man zu den Soldaten.

Die Mühle überwucherten Gräser und Moos.

Ihr Dach glitt, einem Schafspelz gleich, nieder zur Erde.

Das Landstück verkam.

Nur Elstern flogen umher, armselige Elstern.

Der Müller wußte nicht mehr ein noch aus.

Er ging in den Stall und sah: Nur eine Kuh war ihm verblieben von allem Besitz.

Da setzte er sich einsam auf die Schwelle seines Hauses und vergoß bittere Tränen.

Man nannte ihn Benje.

Was geschieht, wenn ein Mensch allein bleibt

In einem alten Buch las ich, daß ein Mensch sich davor hüten solle, allein zu bleiben. Anfangs glaubt er, es mache ihm nichts aus. Später aber kommen krause Gedanken, seine Stimme verändert sich und er geht herum wie im Taumel.

Hätte Benje dies gewußt, wäre er vielleicht nicht in der Mühle geblieben. Vielleicht hätte er sich aufgerafft und wäre in ein Nachbardorf gezogen, oder er hätte einfach zum zweiten Mal geheiratet.

Für einen älteren Menschen allein ist das Leben auf dem Lande zu schwer.

So aber kochte Reb Benje jeden Tag sein bescheidenes Mahl, molk die Kuh und ging hernach, die Hände auf dem Rücken verschränkt, um die Mühle spazieren. Oder er sagte Psalmen auf, wie es einsame Menschen oft tun.

Doch wie er einmal zum Brunnen ging, um sich zu waschen, sah er im Wasser, daß seine Unterlippe herabhing.

Benjes Unterlippe hatte nie zuvor herabgehangen.

Er verstand gleich: Das kam, weil er allein war. Er ging zurück ins Haus, nahm den Spiegel von der Wand, musterte sich, und in der Tat, seine Lippe hing herab. Dafür waren ihm die Brauen dichter zusammengewachsen, und er sah haarig aus, zottig und verwahrlost wie ein Iltis. Reb Benje betastete seine Lippe und spürte, daß sie trocken war wie ein Stück Lehm.

Und obgleich der Abend mild war, kroch er auf den Ofen und mummte sich in seine alten Sachen. Bald darauf schlief er ein.

Reb Benje weidet die Kuh

Hinter der Mühle erhob sich ein Tannenwald.

In Weißrußland herrschten die Nebel, und Regen durchnäßten das Land.

Im Morgengrauen führte Reb Benje die Kuh auf die Weide.

Sie gingen auf lehmigen Wegen, über faulig riechende Felder, in den alten Wald.

Reb Benje lief voraus, und die Kuh trottete ihm am Strick hinterher.

Sie stiegen durchs Unterholz zwischen den Bäumen, und nasse Zweige übersprühten sie mit Wasser, doch Benje war so in Gedanken, daß er es nicht merkte.

So kamen sie von einem Dickicht ins nächste.

Die Kuh zupfte zuweilen nasses Gras von einer Wurzel, um sich zu laben.

Die Stubben verfaulten und kauerten sich in den Farn.

Das Moos bedeckte ringsum die Erde und griff nach den Bäumen. Und in der steinernen Taubheit erklangen und verloschen die kalten Stimmen des Waldes.

Reb Benje führte die Kuh durch verregnete Weiten.

Beide schleppten sich erschöpft dahin, mit gesenkten Köpfen, die schwer waren vom Nichtdenken.

Reb Benje hatte oft Gedanken, ohne zu denken.

Es herrschte Stille. Seine nackten Füße waren rot vor Kälte und schlammbedeckt, aus dem zerschlissenen Kaftan lugte die Wolle. Reb Benje blieb stehen, schaute an sich herab und betrachtete die Kleider des Waldes.

Ach, Benje, was haben die Tannen für schöne Gewänder!

Levi, der Geldverleiher

Levi, der Geldverleiher, ein Bruder Benjes, war aus Saßkevitz nach Wilna gezogen und in der litauischen Stadt bald zu hohem Ansehen gelangt, denn er tätigte Geschäfte mit Generälen und wohlhabenden Bürgern.

Er hatte eine Tochter, ein bildhübsches Mädchen, das schönste von Wilna.

An seinem Haus hing ein Schild: »Hier wohnt Levi Pataschnik.«

Reb Levi handelte mit Bauholz und Getreide.

Wenn er nachts im Arbeitszimmer saß, ließ er sich zuweilen die Geschäftsbücher bringen.

Die schöne Tochter las ihm daraus vor:

Sein Getreide fuhr auf allen Straßen.

Sein Bauholz flößte man auf allen Strömen.

Seine Gärten trugen goldne Früchte.

Seine Hühner legten goldne Eier.

Levi Pataschnik lächelte.

»Genug«, sagte er dann zur Tochter. »Du kannst schlafen gehen!«

Und die ganze Nacht schritt er in seinem Zimmer auf weichen Teppichen umher und dachte:

»Gold ist Gold wert! Gold ist wirklich Gold!«

Die drei Besucher

Reb Benje saß auf dem Erdwall am Haus und schaute hinaus auf den Weg. Es war ein heller Abend in Weißrußland. Als er die Augen hob, sah er drei Männer nahen.

Er stand auf und ging ihnen ein Stück entgegen.

Drei in Pelze gehüllte bärtige Juden mit Rucksäcken kamen schweren Schrittes aus dem Wald.

Benje trat auf die Wanderer zu und grüßte, die Fremden erwiderten seinen Gruß mit einem Nicken, sie blickten ihn an und brummten heiser, sagten jedoch kein Wort.

(Es gibt Menschen, denen es bestimmt ist zu schweigen.)

Reb Benje geleitete die Fremden zu seinem Haus und öffnete ihnen die Tür.

Die Männer beugten sich beim Eintreten unter den Türbalken, denn sie waren breitschultrig und hochgewachsen.

Im Hause herrschte schon Nacht.

Die Besucher legten Rucksäcke und Stecken langsam zur Seite, ihre Sachen rochen nach Teer und dem Duft des Waldes.

Reb Benje betrachtete seine Gäste mit großer Neugier.

Sie ließen sich auf die breiten Bänke am Tisch nieder, ihre großen Gestalten ragten ins Dunkel wie Stümpfe alter Baumriesen.

Reb Benje fragte sie, woher sie kämen.

Der älteste Gast hob die Brauen, zog eine Tonpfeife aus der Tasche und sagte:

»Aus Weißrußland.«

Mehr hatte Benje nicht zu fragen, seine Gedanken waren ihm ins Fleisch gewachsen.

In der trüben Finsternis glommen die blauen Scheiben, und die Juden legten ihre Pelze auf die Bänke.

Reb Benje zündete einen Kienspan an. Die Gäste sahen sich im Zimmer um und warfen seltsame Schatten an die Wände. Und die Kuh im Stall ahnte wohl etwas, denn sie verließ ihr warmes Lager und steckte ihren Kopf durch das Fenster zur Stube. Sie lauschte.

Reb Benje setzte sich still zu seinen Gästen an den Tisch. Er schaute sie an und wollte über etwas nachdenken, doch es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch mühte.

Dann wandte er sich unvermittelt an die Männer:

»Freunde, was soll ich tun?«

Die Gäste blickten ihn stumpfsinnig an, und nach einer Weile fragte der älteste von ihnen:

»Hast du zu essen?«

»Ja.«

»Tue gar nichts.«

»Wirklich? Und wo ist der Sinn?!«

»Es gibt keinen Sinn.«

»Es gibt keinen Sinn?!«

Und der älteste Gast, jener, der geantwortet hatte, kehrte ihm den Rücken, legte sich auf die harte Pritsche, bedeckte sich mit seinem Pelz und zog ihn bis über den Kopf. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Sie wollten schlafen.

Reb Benje stand neben ihm.

Lange Zeit stand Benje neben dem ältesten Gast, dann verschränkte er die Hände auf dem Rücken und ging leise im Zimmer auf und ab. Die Kuh am Fenster schaute ihm dabei zu.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke und es durchfuhr ihn heiß. Er trat an den ältesten Gast und zog ihn am Fuß:

»Und was kommt dann? Werde ich sterben?«

Der Gast suchte seinen Fuß mit aller Kraft zu befreien, doch Benje ließ nicht locker. Er rief nur noch lauter:

»Was ist? Werde ich sterben?«

Und er brach in Tränen aus.

»Sterben?«

Die Gäste erhoben sich auf den Bänken, und Benje jammerte, schlug an die Wände, rannte durchs Zimmer, riß sich keuchend die Kleider vom Leib und schrie. So weh tat es ihm.

Um Mitternacht standen die Gäste auf, wuschen die Hände und holten ihre Psalter hervor.

Zu viert setzten sie sich auf die Erde.

Der Lehmboden war kalt, denn es nahte ein kühler Morgen. Die Kuh stand noch immer am Fenster und fror. Es war kalt.

Die Juden sagten Psalmen, mit heiseren Stimmen und dunkler Leidenschaft.

Sie schlossen die Augen und schauten in eine andere Welt.

Sie lauschten nicht der Stimme, die sprach, sondern der finsteren Stille, die ihr Innerstes erfüllte und nicht nach außen drang:

Das Gebet eines armen Mannes, im Verborgenen, der sein Herz ausschüttet vor Gott …

Und in die Nacht züngelten die ersten Flammen eines neuen Tages.

Früh am Morgen hatte sich Benje ein wenig gefangen. Seine langen Hände baumelten herab, als gehörten sie ihm nicht, und deuteten knochig und kalt in die Psalter. Er betrachtete seine Gäste, beugte sich langsam zum Nächstsitzenden herab und fragte ihn leise ins Ohr:

»Was ist Eure Arbeit, mein Herr?«

»Wasserträger.«

»Und was seid Ihr?«

»Musiker.«

»Und Ihr?«

»Schornsteinfeger.«

Ihm gefielen die angesehenen Berufe.

Die Gäste hatten sich unterdessen erhoben und schickten sich an zu gehen.

Reb Benje strich um sie herum und wußte nicht, was er tun sollte.

Nacheinander küßten sie schweigend die Mesusa und traten hinaus ins purpurne Dunkel.

Die roten Beine angewinkelt, flatterte ein Storch vorbei, von einer Wiese zur nächsten. Mit seinen Flügeln streifte er fast ihre Köpfe.

Der dritte Gast, ein mürrischer Mann, der die Nacht hindurch geschwiegen hatte, redete sich nun in Hitze. Er war zornig auf Reb Benje, behauptete, daß jener nicht widerstehen würde, packte den überraschten Müller am Ärmel und wies auf den dürren Vogel in der Luft:

»Dieser Vogel ist ein Vogel«, knurrte er und starrte Benje tief in die Augen. »Und du bist ein Esel!«

Ja, er war boshaft. Wütend spie er aus und ging fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Reb Benje stand da wie vom Donner gerührt, er hatte nichts verstanden.

Da trat der älteste Gast auf ihn zu und meinte zum Abschied:

»Du wirst Versuchungen ausgesetzt sein, Benje!«

Und die drei Gäste folgten dem Weg zurück in den Wald.

Das Gebet

Das Gebet eines armen Mannes, im Verborgenen,

Der sein Herz ausschüttet vor Gott.

Warum müssen wir so viel erdulden, Gott?

Wo ich auch steh, bedarf man meiner nicht.

Wohin ich geh, folgt mir der Ruch des Dunkels.

Dem Vogel neide ich, daß es ihm bessergeht,

Und dem Lehm, daß es ihm bessergeht als allem.

Was soll ich tun mit meiner nutzlosen Hand,

Meinem nutzlosen Herz?

Erkenntnis

Den ganzen nächsten Tag über lag der Müller auf dem Lehmhügel, der sich hinter der Mühle erhob. Er verstand allmählich den Lehm seines Körpers, sein Gesicht lag eingewühlt im Sand, und mit gekrümmten Fingern krallte er sich in die Wurzeln.

Reb Benje ging es sehr schlecht.

So lag er auf dem Berg und dachte, daß er jetzt ein Teil von ihm wäre und daß ein Grashalm, der unter ihm sprösse, nun durch seine Schultern wachsen müßte.

Und ihm war, als ob der Lehm atmete und sich zu Händen und Füßen formte, zu Köpfen und Brüsten und es keinen Unterschied mehr gab auf der Welt zwischen Benje und dem Lehm der Erde.

Eine ganze Woche lag er so auf dem Berg.

Die Kuh trottete allein über die Felder und stillte ihren Hunger an Stroh und süßem Nichtstun.

Benje hatte alles um sich vergessen und lag da wie tot.

Im Morgengrauen flog zuweilen eine Elster aus den Nebeln und ließ sich auf seinem Rücken nieder wie auf einem Schwein. Doch er achtete nicht darauf. Er lag in tiefem Schlaf, unfähig zu scheiden zwischen der Wirklichkeit und den Träumen, die ihm durchs Hirn gingen.

Und er wußte nicht mehr, ob er ein Mensch war oder ein Stein, der mit Flechten bewachsen am Wegrand lag.

Und eines Abends saß er kraftlos am Abhang des Hügels. Seine baumelnden Beine stießen gegen den Lehm, und er, Reb Benje, guckte, dachte an nichts, saß nur still da und guckte.

Er wußte nicht, was ihn in seinem Inneren zwang, alles zu schauen, doch es bereitete ihm großes Behagen. Allmählich erfüllte ihn ein Staunen, seine Augen wurden groß und rund, und für eine Weile vergaß er zu atmen.

Vor ihm erstreckte sich die Welt, weit und kalt, und Gott war in ihr.

Sie hallte wider wie eine blaue Eishöhle, und in dieser Höhle kroch er einsam herum wie ein schmutziger Bär.

Er stellte sich mit den Vordertatzen gegen die kalten Brocken und guckte und guckte. Er suchte IHN, Gott, der sich vor ihm verbarg.

Das funkelnde Eis der Höhle glitzerte blau.

Und da …

Da sah er IHN, Gott. Gleich darauf war er wieder verschwunden.

Aber er hatte Gott gesehen!

Und eine große Freude durchströmte seine Glieder, eine dünne und lichte Freude, er lächelte: Ein Joch war ihm vom Herzen abgefallen.

Reb Benje erhob sich, strahlend vor Freude und Güte, und plötzlich entrang sich seiner Brust ein Schrei, ein dumpfes Brüllen, wie das Brüllen seiner Kuh. Er stemmte die Hände in die Hüften, und die untergehende Sonne übergoß ihn mit Röte.

Reb Benje, der Müller, war geheiligt worden.

Im Westen standen im Licht der schwindenden Sonne gehäutete rote Ochsen, wie beim Berit bejn Habetarim – bei Gottes Opferbund mit Abraham.

Er verstand nun die Welt bis ins Mark seiner Knochen, bis in die brennende Haut seines Leibs. Lächelnd sah er auf die Kleider, die er trug: In Fetzen hingen sie an ihm herab, in Fetzen.

Reb Benje stieg den Hügel herab. Die alte Mühle war zugewachsen und älter geworden, und aus einer Wand sproß gar ein junger Baum.

Er ging zur Tür und wollte schon ins Zimmer treten, als ihm etwas Einhalt gebot: Er hörte eine Stimme voller Tränen und Freude.

Levi Pataschnik

Eines trüben Abends stand Levi Pataschnik am offenen Geldschrank wie vor einem geöffneten Toraschrein, das weichende Tageslicht legte sich auf die schattigen Tapeten, schimmerte und malte helle Flecken auf die dunklen Dielen. Ein Haufen funkelnder Münzen glühte rot aus dem Schrank, blitzte und stach ihm ins Herz. Atemlos wühlte Levi im Geld.

Er ließ das Gold langsam durch seine Hände gleiten, wie man weichen Sand durch die Finger rinnen läßt, und lauschte scharf seinem Klang, dem unverwechselbaren Klang des Goldes.

Seine feiste Hand, rosig gefärbt vom vergehenden Tag, strich über die Münzen und berührte sie zärtlich wie ein Bursche das Haar seines Mädchens.

Ein geheimes tiefes Summen drang aus dem Schrank. Gold!

Ströme von Gold pulsieren unter der Erde, und die Augen der Menschen funkeln golden.

Und oben, über den goldenen Sternen, thront Gott auf seinem Königsstuhl von Gold.

Levi Pataschnik schloß sacht die schwere Tür des Geldschranks und hielt sich an der Oberkante fest, um nicht zu fallen. Sein Kopf sank ihm schwer auf die Brust.

Der unermeßliche Abend kroch nagend ins Zimmer.

Mit gesenktem heißem Kopf lehnte sich Reb Levi an das kalte Eisen des Schranks, die Knie knickten ihm vor Müdigkeit ein, die Augen fielen ihm zu, und tief in seiner Brust löste sich ein schwerer glühender Tropfen. Er fiel in sein inneres Dunkel hinab und zerschnitt ihm die Eingeweide mit siedendem Schmerz.

Im Schatten der Tür stand der älteste Gast.

Simche Plachte

Unweit der Mühle, ein paar Werst entfernt, wohnte ein Jude im Wald: Reb Simche Plachte.

Er hatte hart gearbeitet und sich gesagt: Hart ist das Leben so oder so, also lebe ich besser im Wald.

Er hatte sich ein Häuschen aus Zweigen und Gras gebaut und die Wände innen und außen mit Lehm verschmiert. Reb Simche Plachte war ein fröhlicher Mann, er nährte sich von Gemüse, trank Wasser und rauchte ein Kraut, das er selbst zubereitete.

Reb Simche hielt Hühner und Tauben. Hühner hielt er, weil sie Eier legten, die zum Essen taugten, und Tauben, weil sie Eier legten, die nicht zum Essen taugten.

Reb Simche traf sich mit niemandem, er war auch so glücklich.

Er lächelte ständig – rauchte seine Pfeife, schloß halb die Augen und lächelte: Zu wem, das wußte man nicht. Er redete laut mit sich selbst, denn er war immer allein.

Im Winter saß er in seiner Hütte und erzählte sich Anekdoten, im Sommer suchte er frische Wiesen und Waldlichtungen auf und vollführte dort allerlei Tänze.

Er war ein großartiger Tänzer!

Und der Frühling machte ihn vollkommen trunken: Als Sechzigjähriger stieg er dann auf die Bäume mit der Gewandtheit eines Buben.

Er betrug sich, als er wäre er nicht ganz bei Sinnen.

Reb Simche aß gerne die Blütenknospen der Bäume. Er kletterte durchs Zweiggeflecht und sang wie ein Kanarienvogel.

So lebte er dort im Wald.

Ja, Reb Simche sah aus wie ein Goi, auf dem Kopf trug er einen Strohhut und an den Füßen Schuhe aus Birkenbast, aber er hatte einen Bart, einen gewaltigen jüdischen Bart von lichtem Grau.

Sein Bart war wunderschön!

Als junger Mann war Reb Simche Wasserträger gewesen, in späteren Jahren wurde er dann ein chassidischer Rabbi, der bekanntlich einen frommen Tisch führt und ein großes Gefolge hat. Doch das Leben unter den Menschen war ihm gar zu beschwerlich. So ging er fort und ließ sich nieder im Wald.

Als Eremit.

Und wenn der Wind über Baumkronen bläst und Zweige abbricht, was tut Simche Plachte dann?

Mit der Pfeife im Mund sitzt er auf einem entwurzelten Stamm im Unterholz und lauscht und lauscht:

Die Nester fallen aus den Bäumen.

Angstvoll fliegen die Vogelmütter zur Erde hinab, doch ihre geschlüpften Küken sind schon tot. Nur da und dort regt sich noch ein nackter Flügel.

Ein Klagen hebt an.

Dann sitzt Reb Simche im Dickicht, er lauscht und lauscht, alle Haare am Körper sträuben sich ihm und zittern. Seine Zähne leuchten durch das Unterholz, und die Augen brennen vom Sturm.

Und wenn ein langer blauer Blitz in den Wald fährt und mit brennender Peitsche über die Bäume schlägt, was tut Simche Plachte dann?

Er richtet sich auf, die Hände zum Himmel gestreckt, und will ihn packen, den Blitz in seinem Lauf, und sein Bart ist zerzaust, und von seiner zottigen Brust steigt der Wasserdampf.

Simche Plachte war selber ein Wald!

Aber wenn es still wird.

Wenn der klare nasse Wald die Rufe der Kuckucksvögel erwidert und die Walderdbeeren wie Blutspritzer im Grase liegen.

Ja, dann!

Dann geht Simche Plachte durch den hallenden Wald, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf hoch erhoben.

Und er trällert.

Und er schnalzt mit der Zunge

Und er schwingt seine Füße.

Tirili und tirila!

Er kannte kein Schamgefühl.

So lebte er allein im Wald.

Es war ein lieblicher Sommertag.

Reb Simche Plachte trat aus dem Wald und stellte sich auf die Landstraße. Er schlug einen Feldweg ein.

Nach ein paar Schritten stieß Simche Plachte auf eine Senke und sah eine Kuh grasen. Wie kam eine Kuh hierher?

Als er weiter hinunterging, sah er einen Juden im Morast sitzen, mitten im Dreck, einen Mann mit großem, geschwollenem Kopf und langen Armen, die ihm bis zu den Knöcheln reichten. Er hielt ein Psalmenbuch in der Hand, betete, wiegte seinen Oberkörper und war schwarz wie ein Stück Kohle.

Was bedeutete das?

Er blieb stehen und fragte:

»Wieso hast du dich hierher gesetzt?«

Der Jude gab schnaufend zur Antwort:

»Wo soll ich sonst sitzen?«

»Wo du sitzen sollst? Im Himmel, mein Lieber!«

Der Mann im Dreck erzählte ihm, warum und wieso: Es war Benje, der Müller.

Und Reb Benje erhob sich, schaute ihn mit flehenden Augen an und sagte:

»Hilf mir, mein Freund!«

Doch Reb Simches Gedanken waren schon woanders. Er fragte Reb Benje nach der Kuh:

»Gibt sie Milch?«

»Sicher gibt sie Milch.«

»Kann man ein wenig von der Milch probieren?«

Reb Benje meinte, daß er keinen Melkeimer hätte.

»Wozu einen Eimer?! Wer braucht schon einen Eimer?«

Und Reb Simche Plachte trat an die Kuh heran, kroch auf allen vieren unter sie wie ein Kalb und sog mit gierigen Schlucken die Milch aus ihrem Euter.

Er lief rot an, und Schweiß trat ihm auf die Stirn.

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112 str. 5 ilustracje
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9783803142993
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