Wilhelm Tell, Import - Export

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Inhalt

Tell im Bild

Prolog

Eine Kanzlei unter Druck

Krieger, Helden und Geschäftemacher

«Erberkeit» oder «Pöwel»

Richtige und falsche Tellen

«William», «Guillermo», «Guillaume»

Geschichtskino im Kopf

Wo steckt das Historische im Ursprung?

PS: Ein Western aus Uri

Bibliografie

Dank

Autoren


1 Das früheste Bild von Wilhelm Tell, erschienen in der ersten gedruckten gesamtschweizerischen Chronik, in Petermann Etterlins «Kronica» aus dem Jahr 1507.


2 Aegidius Tschudis Wilhelm Tell, am unteren Rand der Seite über «den tällen». Ein paar Striche, eine Kritzelei, eine Karikatur? Urschrift des «Chronicon Helveticum» von Aegidius Tschudi, um 1560.


3 Wilhelm Tell in der Helvetischen Republik, unterwegs im ganzen Land, als Briefkopf auf jedem offiziellen Dokument. «Reise-Pass für das Innere der helvetischen Republik», 19. August 1799.


4 «Er ist aus Einem Stück. Es ist der physische Muth, die Herculesnatur, die stählernen Nerven, (…) die ihn zum Heroen in seinem Kreise stempeln.» Stahlstich von Friedrich Pecht in der «Schiller-Galerie» von 1859, einer Zusammenstellung von Charakteren aus Schillers Werken.


5 Eine spätmittelalterliche Kleinfamilie in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Robert Freitag als Tell im Film «Wilhelm Tell» von Michel Dickoff, 1961.


6 Die Neue Linke demonstriert am 1.-Mai-Umzug 1970 beim Helvetiaplatz in Zürich für Solidarität mit Vietnam. Ho Chi Minh bekommt auf dem Transparent Schützenhilfe von Wilhelm Tell und Delacroix' Marianne.


7 Bierdeckel der Luzerner Brauerei Eichhof, Herbst 2015.


8 Performance «tell me» von Christoph Rütimann, 7. Juni 2004 im hinteren Schächental mit dem Clariden.

Prolog

Wilhelm Tell ist kein Freiheitskämpfer. Er ist auch kein Gründervater, Attentäter oder Revolutionär. Er ist die griffige Hauptfigur einer guten Geschichte. Ein Agent, ständig unterwegs, in wechselnden Verkleidungen – im Auftrag derjenigen, die seine Geschichte erzählen.

Von diesen Erzählern und ihren verschiedenen Versionen handelt dieses Buch. Erzählen klingt wie eine freundliche und harmlose Tätigkeit, aber die hat es in sich. Erzählungen, hat Hans Blumenberg notiert, sollen immer etwas vertreiben. «Im harmlosesten (aber nicht unwichtigsten) Fall: die Zeit.»1 Geschichten sind fliegende Teppiche, mit denen man eine Figur wie den Tell flott über grosse Zeiträume transportieren kann. Die authentische Urzeit – der Ur-Sprung, könnte man sagen – ist jeweils genau dort, wo Tell gerade zur Armbrust greift. Dieses wahre Mittelalter kann offensichtlich immer wieder neu re-installiert werden – vom 13., 14. und 15. Jahrhundert bis in die Zeitalter der Eisenbahnen, Flugzeuge und Maschinenpistolen. Max Frisch, dessen ironischer «Wilhelm Tell für die Schule» bei seinem Erscheinen 1971 in der Schweiz wütende Reaktionen ausgelöst hat, hat darin auf eine besondere Eigenschaft der Tell-Erzählungen hingewiesen: Ihre Wiederholbarkeit. «Nicht zu Unrecht, wenn auch zur allgemeinen Empörung», meinte er, «haben die palästinensischen Attentäter, die in Zürich am 18. Februar 1969 aus dem Hinterhalt ein startendes El-Al-Flugzeug beschossen, sich auf Wilhelm Tell berufen. Die Vogt-Tötung bei Küssnacht, wie die schweizerischen Chroniken sie darstellen, entspricht den Methoden der ‹El-Fatah›.»2

Tell ist, neben vielem anderen, eben auch ein Terrorist aus dem Mittelalter. Was hat die Tell-Geschichten über die Jahrhunderte so unwiderstehlich gemacht? Erzählen, schreibt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in seinem Buch «Wahrheit und Erfindung», heisst Filtern, Weglassen, Umbauen. Erzählen lässt störende Details verschwinden, verwandelt kompliziertes Unbekanntes in Vertrautes und verdichtet es zu einprägsamen Schemata.

Eine Geschichte ist deswegen eine gute Geschichte, weil sie immer wieder neu erzählt werden kann. Sie erzeugt ihre eigenen Varianten, Spielplätze sozusagen, auf denen Abweichungen getestet werden können, ohne dass die ganze Erzählanordnung bedroht wird. Unser Mann mit der Armbrust bekommt im Lauf seiner Karriere nicht nur wechselnde Namen, sondern auch sehr verschiedene Gegner, Familienangehörige und Verbündete: Diese Ungenauigkeiten und Vieldeutigkeiten vermindern aber die Wirkung der Erzählungen nicht, sondern verstärken sie. Denn Erzählen ist auch immer die nachträgliche Integration von wechselnden neuen Elementen – schliesslich soll der Ursprung auch zu dem passen, was später passiert ist.

Erzählungen handeln deswegen von abgeschwächten, uneindeutigen Kausalitäten. Sie müssen einen Bruch mit den Erwartungen der Zuhörer vollziehen, aber dieser Bruch muss selbst neuen Sinn erzeugen. Glaubwürdig wird dabei derjenige Erzähler, der einen solchen Ausnahmefall überzeugend mit einem Akteur und einer Absicht versehen kann. Ohne einen ordentlichen Helden geht das nicht. «Der Held ist unverzichtbar», so Koschorke trocken, «weil er erfolgreich Sinn reduziert.»

Und Kommentare produziert, könnte man ergänzen. Wer im 21. Jahrhundert über Wilhelm Tell schreibt, sieht sich im Wortsinn Bergen von Literatur gegenüber – es gibt vermutlich keine andere Figur der Schweizer Geschichte, über die auch nur annähernd ähnlich viele gelehrte Bücher geschrieben worden sind.3 Blättern wir nach. Was hat den Mann mit der Armbrust so unwiderstehlich und verlockend gemacht?

Eine Kanzlei unter Druck

Es ist der Michaelstag 1854 in Sarnen, als Gerold Meyer von Knonau im Archiv des Kantons Obwalden die Zeilen «Nu was da ein redlicher man hiess der thäll» entdeckt.4 Gerold Meyer von Knonau ist Staatsarchivar des Kantons Zürich. Die Obwaldner Regierung hat ihn gebeten und beauftragt, das Archiv des Kantons Obwalden «zeitgemäss» in Ordnung zu bringen.5 Dabei kommt ihm ein handgeschriebenes «Copialbuch» aus dem 15. Jahrhundert in die Hände, 508 Seiten aus gutem, weissem Papier zwischen zwei soliden Buchdeckeln aus Holz, 30 Zentimeter hoch, 22 Zentimeter breit, eingebunden in weisses Schweinsleder, 6 auf dem Einband die Notiz «Das sogenante älteste / weiße Bůch / oder / Abschriften der / alten Bündnüßinen».7 Fast zuhinterst, auf Seite 447, der «thäll».8

Gerold Meyer von Knonau weiss, dass er eine Sensation in seinen Händen hält, den ältesten Beleg für den «thäll». Er bespricht seinen Fund mit Kollegen, und offenbar macht die Entdeckung schnell die Runde, zu schnell für Gerold Meyer von Knonau. 1856, ein Jahr ehe er selbst seinen Fund sorgfältig kommentiert und «mit Bewilligung der Hohen Regierung von Obwalden» in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen kann, 9 berichtet er gleich selbst in der «Neuen Zürcher Zeitung» von seiner Entdeckung und druckt vorsorglich – auf dass ihm niemand die Ehre der Erstveröffentlichung streitig macht – schnell ein paar Zeilen aus dem Buch.10 Der älteste Beleg für Tell macht offenbar nervös. Bis heute hat man noch keinen älteren Beleg gefunden.

Doch was genau hat Gerold Meyer von Knonau 1854 im sogenannten «Weissen Buch von Sarnen» entdeckt? Es sind knapp zwei Seiten Text. Tell heisst darin zwar noch nicht Wilhelm, sondern einfach «Tall» oder «Thaell», sonst ist uns das Meiste vertraut, zum Beispiel der Apfelschuss: «Nu was der Tall gar ein gut schütz er hat öuch hübsche kind die beschigt der herr zu jmm / vnd twang den Tallen mit sinen knechten / das der Tall eim sim kind ein Öpfel ab dem höupt Müst schiessen / denn der herr leit dem kind den Öpfel vf das höupt / Nu sach der Thall wol das er beherret was / vnd nam ein pfyl und stagt jnn jn sin göller den andern pfyl nam er jn ein hand / vnd spien sin armbrest / vnd bat got das er jmm sins kind behuete / vnd schös dem kind / den Öpfel ab dem höupt / Es geviel dem herren wol (…).»11

 

Der tyrannische Landvogt Gessler, der in Altdorf eine Stange mit seinem Hut aufstellt und verlangt, dass man den Hut so ehrerbietig grüssen soll, als wäre er selbst anwesend. Tell, der diesen Gruss verweigert und als Strafe dem eigenen Kind einen Apfel vom Kopf schiessen muss – und trifft. Die Verhaftung des Tell, der Sturm auf dem Urnersee und Tell, der sich mit einem Sprung aus dem Schiff auf die «Tellen blatten» rettet, nach Küssnacht eilt, dem Landvogt Gessler in der Hohlen Gasse auflauert, ihn mit seiner Armbrust erschiesst und über die Berge wieder entkommt. All das ist auf den zwei Seiten kurz und prägnant erzählt.

Eingebettet ist die Geschichte des Tell in eine kurze Chronik mit dem Titel «Jtem / der anefang der drÿer lendern Uri Switz und vnderwalden (…)».12 Auf nur 25 Seiten wird die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden erzählt, deren Herkunft, Bündnisse und Kriege vom antiken Rom bis ins Jahr 1426. Den «anefang» oder Ursprung bilden die alten römischen Freiheitsrechte der drei Orte, als sich Römer in Unterwalden und Schweden in Schwyz ansiedeln. Die Geschichte berichtet, wie die Habsburger – erst später – in die Nähe der drei «lender» kommen, was der römische König Rudolf von Habsburg ihnen verspricht, wie nach dem Tod des Königs dessen Vögte hochmütig werden und wie die drei Länder auf dem Rütli den Schwur leisten. Erzählt wird, wie man den einen Vogt beim unsittlichen Baden in Altzellen erschlägt, wie ein anderer Landvogt namens Landenberg im Melchtal Ochsen wegführen und den Bauern blenden lässt, wie Stauffacher in Schwyz sein Steinhaus an einen dritten Vogt namens Gessler verliert, wie Tell den Landvogt Gessler tötet, wie die «Eidgnossen» die Burgen der Landvögte erobern und den letzten noch lebenden Landvogt, Landenberg, vertreiben.13

Doch das Weisse Buch von Sarnen ist kein Geschichtsbuch und schon gar kein Buch über Wilhelm Tell. Das Buch befindet sich heute im Staatsarchiv des Kantons Obwalden, in der Obhut der staatlichen Verwaltung, und da ist es in den 1470er-Jahren auch entstanden, auf der Kanzlei des Standes Unterwalden ob dem Wald in Sarnen, angelegt vom damaligen Landschreiber Hans Schriber.14 Von den 508 Seiten des Weissen Buches sind knapp die Hälfte, 225 ½ Seiten, mit schöner, sorgfältiger Handschrift beschrieben. Die meisten Einträge stammen aus den Jahren 1470, 1471 und 1472, vereinzelte Nachträge aus späteren Jahren, der letzte Eintrag aus dem Jahr 1607. Die Geschichte der drei «lender», in der Handschrift von Hans Schriber, umfasst nur 25 Seiten. Die übrigen 200 ½ beschriebenen Seiten im Weissen Buch von Sarnen enthalten vor allem: Abschriften von Rechtsdokumenten – Bündnisse mit anderen eidgenössischen Orten oder mit Fürsten, Privilegien und Freiheiten, wichtige Verträge und Gerichtsurteile zu Grenzbereinigungen, zur Erbschaftssteuer, zur Fischerei auf dem Alpnachersee und so weiter. Kurz: Alles, was man zur Staatsführung eines vormodernen Gebildes an Informationen und Grundlagen benötigt. Das Buch hat ein ausführliches Register. Es ist ein Nachschlagewerk. Die einzelnen Rechtsdokumente sind zudem thematisch geordnet. Bei jedem Themenbereich sind am Schluss noch ein paar Seiten freigelassen, um spätere Urkunden oder Verträge nachführen zu können – daher die vielen leeren Seiten. Wird ein Bündnis durch ein neues ersetzt, wird der Text des alten, ungültigen Bündnisses durchgestrichen.15 Es ist ein Handbuch für die Arbeit des Landschreibers und des Landammanns. Und so sieht es auch aus.

Das Buch wird an Kanzleien nach Stans oder Altdorf ausgeliehen, damit diese die wichtigsten Dokumente abschreiben können. Spezialisten aus anderen eidgenössischen Orten konsultieren bei Recherchen auf der Obwaldner Kanzlei auch das Weisse Buch. Man weiss von Abschriften oder Auszügen in St. Gallen, Glarus und Luzern. Irgendwann im 17. Jahrhundert, nicht lange nach dem letzten Eintrag von 1607, wird das Register erneuert, das gesamte Buch zur Sicherung noch einmal abgeschrieben und in neues, weisses Schweinsleder eingeschlagen. Noch einmal hundert Jahre später schreibt jemand auf das weisse Schweinsleder: «Das sogenante älteste / weisse Buch / oder / Abschriften der /alten / Bündtnüssinen». In den Augen der Kanzlei des 18. Jahrhunderts enthält das Buch also nicht mehr aktuelle und gültige, sondern nur noch «alte» Rechtsgrundlagen, nichts, was man bei der alltäglichen Arbeit auf der Kanzlei noch benötigt. Die Logik des Büros: Es wird zwar nicht mehr gebraucht, liegt aber doch noch eine Weile herum. Vielleicht kann man es ja irgendwann noch irgendwie verwenden. Ein paar der unbeschriebenen Blätter des Weissen Buches – weisses Papier in hervorragender Qualität – werden herausgeschnitten und anderweitig verwendet. Braucht man Platz, legt man es woanders hin und vergisst es – bis Gerold Meyer von Knonau am 29. September 1854 das Buch wieder in Händen hält.

Wie kommen Tellschuss und Rütlischwur, Gessler und Burgenbruch in ein Kanzleibuch? Was soll die Geschichte vom «anefang» der drei «lender» in Verwaltungsschriftgut, zwischen Urkunden, Verträgen und Schiedsgerichtsurteilen?

Als Hans Schriber, der Landschreiber von Unterwalden ob dem Wald, um 1470 mit der Arbeit am Weissen Buch beginnt, ist er bereits 34 Jahre als Landschreiber im Amt.16 Es sind lange, teils turbulente Jahre, in denen er wohl Gelegenheit und Anlass genug gehabt hätte, ein Kanzleibuch zu erstellen. Und doch beginnt er erst 1470, die relevanten Rechtsgrundlagen seiner Arbeit in einem Kanzleibuch zusammenzustellen.

Der Grund dafür liegt auf der Hand. 1470 hat Unterwalden ein Problem, und damit auch der Obwaldner Landschreiber. Kaiser Friedrich III. hat im Sommer 1469 über die Eidgenossen die Reichsacht ausgesprochen.17 Die Eidgenossen verlieren die Ansprüche an allen ihren Regalien, Lehen, Privilegien, Gerichten, Rechten und Gerechtigkeiten. Allen Untertanen des Reiches steht es zu, die Rechte der Geächteten zu behändigen und gegen die Geächteten Krieg zu führen. Hinter der Reichsacht steht Herzog Sigmund von Habsburg. Er will die habsburgischen Rechte in der Eidgenossenschaft wiederherstellen, und zwar mit Waffengewalt.

Denn die Habsburger haben ihre an die Eidgenossen verlorenen Rechte und Besitzungen in den Innerschweizer Orten, in Zug, Luzern, im Aargau und im Thurgau nie aufgegeben. Die Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und den Eidgenossen im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert sind kompliziert, alt und blutig. Zum Beispiel stirbt 1386 Herzog Leopold in der Schlacht bei Sempach gegen die Eidgenossen – in den Augen der Habsburger in eigener Angelegenheit, auf eigenem Land, ermordet von eigenen Untertanen. Oder, ein anderes Beispiel: 1412 schliessen Habsburg und die Eidgenossen zwar einen 50-jährigen Frieden. Das hindert die Eidgenossen aber nicht, im Jahr 1415, nachdem Habsburg in Reichsacht gefallen ist, sogleich den gesamten habsburgischen Aargau zu erobern. Mit dem Zürichkrieg, der Eroberung des Thurgaus, der Belagerung von Waldshut oder dem Sundgauerzug wechseln sich Kriege, Verhandlungen und mehr oder weniger erfolgreiche oder gescheiterte Verträge sowie Waffenstillstände ab. Gerade die ins Weisse Buch eingetragenen Verträge und Urkunden zeugen vom Auf und Ab der kriegerischen und diplomatischen Auseinandersetzungen mit Habsburg. Je komplexer und anspruchsvoller die Konflikte, desto mehr Dokumente fallen dabei an – am meisten in den Jahren unmittelbar vor 1470.

Bei den Verhandlungen und gegenseitigen Anschuldigungen führen die Habsburger jeweils ihre Rechtsansprüche ins Feld, verweisen auf die Illegitimität der eidgenössischen Ansprüche und werfen den Eidgenossen – seit der Ermordung von Herzog Leopold 1386 – offene Rebellion vor. Die Eidgenossen reagieren darauf jeweils mit zwei Argumenten. Einerseits betonen sie seit 1420 gebetsmühlenartig den Machtmissbrauch habsburgischer Vögte und Herren, die Misshandlung von Frauen, die Willkür. Anderseits verweisen sie auf ihre alte Reichsfreiheit, auf kaiserliche Privilegien, die bestätigen, dass sie niemand anderem Untertan seien als eben dem römischen König.

Eine solche Urkunde, mit der ein römischer Kaiser oder König die Reichsunmittelbarkeit erteilt, hat Uri tatsächlich bereits 1231 und Schwyz bereits 1240 erhalten. Unterwalden jedoch, und das zeigen gerade die im Weissen Buch zusammengetragenen Urkunden unübersehbar, fehlt ein solches Dokument, und zwar schmerzlich. Auch die späteren Unterwaldner Urkunden, die Reichsunmittelbarkeit bezeugen sollen, sind nicht über alle Zweifel erhaben. Das älteste Dokument, das Unterwalden zur Hand hat und das Hans Schriber 1470 in das Weisse Buch eintragen kann, ist eine von König Heinrich IV. 1309 in Konstanz ausgestellte Bestätigung aller Rechte und Freiheiten, die Unterwalden früher von römischen Königen und Kaisern erhalten habe18 – nur leider gibt es diese Freiheitsbriefe, auf die sich die Bestätigung bezieht, gar nicht.19 Die nächst jüngere Bestätigung der Unterwaldner Reichsfreiheit, 1316 von König Ludwig dem Bayern ausgestellt und von Hans Schriber ebenfalls in das Weisse Buch eingetragen, verweist auf 1240 von Kaiser Friedrich II. und 1291 von König Rudolf von Habsburg ausgestellte Freiheitsbriefe20 – nur sind diese eben leider ausgestellt für Schwyz, nicht für Unterwalden.21

Und das ist 1470 ein echtes Problem. Im Reichsachtverfahren 1468 und 1469 gegen die Eidgenossen hat sich gezeigt, dass die Habsburger beeindruckend dokumentiert sind und ihre Rechtsansprüche erschreckend gut belegen können.22 Zwar haben die Eidgenossen 1415 bei der Eroberung des habsburgischen Aargaus auch das Archiv der Habsburger erobert und alle wichtigen habsburgischen Unterlagen konfisziert oder gleich vor Ort zerstört. Aber dennoch kann die Habsburger Kanzlei 1469 in Innsbruck eine achtzig Seiten starke Sammlung einerseits der habsburgischen Rechtsansprüche und anderseits der eidgenössischen Rechtsbrüche von den Anfängen bis 1468 vorlegen, welche die Eidgenossen in Reichsacht bringt.23 Eine Reichsacht ist kein abschliessendes Urteil, sondern auch eine Aufforderung und Gelegenheit für die Geächteten, sich innert Jahresfrist zu rechtfertigen und die Rechtmässigkeit der eigenen Position mit guten Argumenten zu begründen.24 Das ist offenbar der Anlass, der den Obwaldner Landschreiber Hans Schriber dazu bewegt, die relevanten Rechtstitel, Bündnisverträge und Schiedsgerichtsurteile in einem Kopialbuch zusammenzustellen und eben das Weisse Buch von Sarnen anzulegen.25

Ein Landschreiber weiss, was in Verhandlungen ein gutes Argument ist. Ein Landschreiber wie Hans Schriber, der schon seit Jahrzehnten mit dabei ist und die Realpolitik im Heiligen Römischen Reich des 15. Jahrhunderts genau kennt, der weiss auch, wann die Argumente schwach sind.

Der chronikalische Text im Weissen Buch von Sarnen beginnt so: «Jtem / der anefang der drÿer lendern Uri Switz und vnderwalden / wie sy da har gar Erlich komen sind Zum Ersten / So ist vre das erst / land das von eim römschen rych enpfangen hat / das jnnen gönnen ist / da ze rüten vnd da ze wönen / Dem nach so sind römer kömen gan vnderwalden / den hat das römsch rych oüch da gönnen ze rüten vnd da ze wonen / des sind sy gefryet vnd begabet / Dar nach sind kömen lüt von Sweden gan Swytz das dera da heim ze vil was / die enpfiengen von dem römschen rych die fryheit / vnd würden begabet da ze bliben ze rüten vnd da ze wonen (…).»26

Reichsfreiheit für alle drei also, vergeben schon zu Zeiten des antiken Rom, zunächst an die Urner, dann an die Unterwaldner, die eigentlich Römer sind, und an die Schwyzer, die aus Schweden nach Schwyz gekommen sind.

Weiter im Text zu den Landvögten Gessler und Landenberg: «Denen ward nu die vogty verluwen / das sy die lender mit truwen sollten bevögten zu des richs handen / Sy taten aber das nit / denn das sy je lenger je strenger wurden / vnd (…) taten den lüten grossen trang an / sy beschatzten ein hie / den andern da / vnd triben grössen mütwillen vnd anders denn sy gelöbt und verheissen hatten / vnd giengen tag vnd nacht da mit vmb wie sy die lender vom rich bringen möchten ganzt in jren gewalt (…).»27

 

Die in den drei «lendern» eingesetzten Vögte herrschen anders, als sie gelobt haben, nämlich mutwillig, willkürlich, missbräuchlich, moralisch verwerflich, illegitim. Gipfel der Bösartigkeit und damit der Illegitimität: Einer der bösen Vögte zwingt einen Vater, das Leben seines Sohnes aufs Spiel zu setzen, es kommt zu Tells Apfelschuss. Tell rächt sich, muss, darf sich rächen, indem er den adligen Landvogt in der Hohlen Gasse erschiesst. Vor allem aber wollen die Vögte «die lender vom rich bringen (…) ganzt in jren gewalt». Die Vögte wollen diese Länder, die Teil des Römischen Reiches sind, die also dem Kaiser gehören, aus dem Reich lösen und vollständig in ihre Gewalt bringen. Für tapfere, reichstreue Untertanen des Kaisers ist es geradezu eine Pflicht, die tyrannischen Vögte zu verjagen und die drei Länder für das Reich zu retten.

Und das tun sie, die Verschwörer vom Rütli. Nach der Tat von Wilhelm Tell, als sie stark und zahlreich genug geworden sind, erobern sie die Burgen und verjagen die Vögte: «Dem nach hand die dru lender sich mit den eiden so die / heimlich zu sammen gesworn hatten sich so vast gestergt / das der so viel was worden / das sy meister würden.»28

Das ist die Pointe, «das sy meister würden», dass sie selbst wieder ihre eigenen Herren und Meister werden, in reichsunmittelbaren Tälern, ohne Vögte, aber als umso treuere Untertanen des Reiches und des Kaisers. So gesehen, kann die kaiserliche Reichsacht von 1469 nur ein Fehler, ein Missverständnis sein. Kein Wunder, findet sich der älteste schriftliche Beleg der Tellsgeschichte nicht im Kanton Uri, sondern in Unterwalden, in einem Kanzleibuch von 1470. Die Helden des Rütlischwurs und Tell sind in die Welt gekommen, um ein konkretes Problem zu lösen. Und zwar in einer Kanzlei.

Die Geschichte vom Bauern, der in einem Hohlweg einem verhassten Adligen auflauert und ihn aus dem Hinterhalt erschiesst, wird dabei kein Zeitgenosse – ob eidgenössischer Ratsherr oder habsburgischer Hofrat – überhören, und jeder kann sie ganz gewiss auch zuordnen. Sie spielt auf Hans von Rechberg an, einen süddeutschen Adligen und Fehdeunternehmer, der in fast allen damaligen Kriegen und Fehden mit dabei ist, auf wechselnden Seiten, aber meist gegen die Eidgenossen, zum Beispiel im Alten Zürichkrieg. Auf eidgenössischer Seite ist er entsprechend bekannt und verhasst. Als Hans von Rechberg 1464 im Fehdekrieg gegen die Rittergesellschaft St. Georgenschild und gegen die Stadt Württemberg Vieh davontreibt, das er von Bauern geraubt hat, wird er von einem Bauern mit einem Pfeil- oder Bolzenschuss in einem Hohlweg aus dem Hinterhalt tödlich getroffen. Der Tod dieses berühmt-berüchtigten Adligen wird weitherum zur Kenntnis genommen. Ein anderer Schreiber, nicht Hans Schriber, sondern Erhart Wintergast in der Stadt Memmingen, notiert 1471, er wünsche diesen Bauern zu krönen, der diesen «gröst wüetrich (…) als bey unsserem gedencken keiner gewessen» endlich erschossen habe.29

Geschichten über böse Vögte sind seit dem 12. Jahrhundert weit verbreitet. Richten diese Erzählungen zu Beginn ihr Augenmerk vor allem darauf, wie die Vögte ihre eigenen Herren, Klöster und Fürsten hintergehen, tritt mit den Jahren zunehmend die Willkür der bösen Vögte gegen ihre Untertanen in den Vordergrund. Die Belästigung von Frauen durch den Adel und Geschichten von sexuellem Missbrauch sind zu der Zeit fast schon stereotype Motive. Man findet sie nicht nur im Weissen Buch von Sarnen, sondern auch in Habsburger Texten derselben Zeit. Habsburger Polemiken gegen den burgundischen Vogt Hagenbach im Elsass werden mit Berichten über dessen Lüsternheit angereichert, die Legitimität seiner Amtsführung wird mit solchen Verweisen gezielt in Frage gestellt.30 Im Weissen Buch von Sarnen kommen beide Aspekte der «bösen Vögte» zum Zug: einerseits ihre «luxuria», ihre Lüsternheit und ihre Willkür gegenüber den Untertanen, anderseits die Art und Weise, wie sie ihren Herrn, den Kaiser, hintergehen und die «lender» dem Reich entfremden. Die adligen Vögte verletzen ihre Standespflicht und verlieren ihre Legitimität gleich zweifach. Die drei «lender» sind geradezu doppelt verpflichtet, sich dagegen zu wehren.

Ob die Geschichte vom Tell, den bösen Vögten und dem – deshalb legitimen – Rütlischwur kaiserliche Rechtspezialisten in Innsbruck tatsächlich überzeugt oder zumindest von fehlenden Unterwaldner Urkunden ablenkt, wird nie geklärt. Die Reichsacht gegen die Eidgenossen wird ohne Rückgriff auf Tell aufgehoben. Bereits 1474, nicht einmal vier Jahre später, rüsten Habsburg und die Eidgenossen nicht mehr für einen Krieg gegeneinander, sondern miteinander – gegen einen anderen Gegner, gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund. Habsburg und die Eidgenossen schliessen Frieden, die sogenannte «Ewige Richtung». Habsburg verzichtet endgültig auf alle alten Rechtsansprüche im Gebiet der eidgenössischen Orte.31 «Thäll» hat ausgedient, noch bevor er zum Einsatz gekommen ist, und Hans Schriber trägt den Text der «Ewigen Richtung» von 1474 sogleich ebenfalls in das Weisse Buch ein.32

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