Czytaj książkę: «Seelenkerne»
Micha Rau
Seelenkerne
Tommy Garcia
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Magie
Das Spiel
Der Hüter
Der Schacht ins Nichts
Der Traumtunnel
Schwarze Löcher
Der Würdige
Der Unwürdige
Der Seelenstern
Impressum neobooks
Magie
Als ich mich umdrehte und in die Augen meiner Freunde blickte, fühlte ich die tiefe Freundschaft, die uns verband. Doch es half nichts, ich musste mich erneut der Gefahr stellen.
Die Dunkelheit lag wie ein schwerer Vorhang über dem Loch in der Mauer. Angestrengt starrte ich in die Finsternis. Mein Fuß stieß gegen einen der kleinen Steine, die hier herumlagen. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war, dass ich einfach nicht sehen konnte, was hinter diesem Loch lag. Jever kam herbeigehopst, nahm den Stein auf und stupste mich an.
„Nein, Jever“, sagte ich mit heiserer Stimme. „Jetzt wird nicht gespielt!“
Ich bückte mich, um ihm den Stein abzunehmen, aber unser kleiner Freund rückte ihn nicht wieder heraus. Wir zerrten beide ein Weilchen hin und her, und als Jever schließlich losließ, entglitt der Stein meinen Fingern, kullerte an den Rand des Durchbruchs und verschwand im schwarzen Nichts. Jever wollte hinterherhopsen, aber das wollte ich nicht zulassen. Nicht, bevor ich nicht wusste, was hinter dieser Öffnung war. Ich machte einen hastigen Schritt auf ihn zu, stolperte über meine eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Im letzten Moment erwischte ich Jever und hielt ihn mit beiden Händen fest. Fast im gleichen Augenblick verspürte ich einen Luftzug, der direkt aus dem Durchbruch zu kommen schien.
„Alles okay?“, fragte Tommy sichtlich erschreckt.
Ich nickte. „Merkt ihr das? Hier zieht es!“
Ein feiner stetiger Wind zog an uns vorüber. Noch während ich mich darauf konzentrierte, erklang aus dem Loch ein Geräusch, das mir den Magen zusammenzog. Sprachlos starrten wir uns an.
„Was war das?“, flüsterte Sanne.
Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich antworten konnte. „Ich glaube …“, krächzte ich, „… das war der Stein!“
„Der Stein …?“ kam es entgeistert von Janine. „Welcher Stein?“
„Der, der gerade da durch gekullert ist!“
„Aber …“ Janine wurde blass. Mir selbst wurde hundeelend. Jetzt wusste ich, was sich in der Finsternis verbergen musste.
„Geht mal ein Stück zurück“, sagte Tommy. Er half mir auf die Beine, dann bückte er sich, hob einen etwas größeren Stein auf und wog ihn nachdenklich in der Hand.
„Ich glaube“, murmelte er, „wir haben ein Problem.“
Wortlos trat er an den Durchbruch und warf den Stein hindurch. Sanne wollte etwas sagen, aber Tommy bedeutete ihr, leise zu sein. Atemlos standen wir beieinander und lauschten. Dann, nach unendlich lang erscheinenden Sekunden, ertönte das Geräusch eines Aufpralls.
Ich schluckte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Da ist ein Abgrund!“, entfuhr es mir.
Tommy nickte grimmig. „Das scheint mir ein wahrer Höllenschlund zu sein!“
„Jever wäre beinahe reingesprungen!“, entfuhr es Janine.
Ich spürte, wie meine Knie nachgaben. „Ja“, sagte ich mit brüchiger Stimme. „Und ich hinterher …“
Janine trat zu mir und nahm meine Hand. „Gott sei Dank bist du noch da!“, sagte sie und lächelte. Ich bekam kein Wort heraus. Obwohl ich es doch eigentlich schön fand, dass sie meine Hand hielt, zog sich alles in mir zusammen. Nur ein Schritt hatte gefehlt und ich wäre …
„Was machen wir denn jetzt?“, weinte Sanne. „Das war doch der einzige Weg! Jetzt kommen wir nie mehr hier raus und müssen verhungern!“
Verzweifelt suchte ich nach einer Lösung. Uns war doch immer etwas eingefallen. Aber alles in meinem Kopf drehte sich im Kreis, wirbelnde Gedankenfetzen rasten vorbei, und ich bekam keinen von ihnen zu fassen. Mit einem Mal fühlte ich mich lebendig begraben, eingeschlossen in einem Gang tief unter der Erde, unerreichbar weit entfernt von der Sicherheit meines Zuhauses. Ich begann unkontrolliert zu zittern. Ich wollte Janine ansehen und mir Trost suchen, aber ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Die Wände des Ganges, in dem wir standen, begannen zu schwanken, und unbeschreibliche Panik stieg in mir auf. Mir blieb die Luft weg, und dann …
… wachte ich auf! Schweißgebadet und heftig atmend lag ich in meinem Bett. Mit weit aufgerissenen Augen irrte mein Blick im Zimmer umher. Ruckartig richtete ich mich auf. Ich war wirklich in meinem Zimmer! Lazy lag in seinem Körbchen und schnarchte. Meine Poster hingen an der Wand, dort stand mein Computer, und die Klamotten lagen auf dem Boden verstreut, so, wie ich sie am Abend zuvor ausgezogen und hingeworfen hatte. Ich war zu Hause! Ich hatte geträumt!
Immer noch wie gelähmt vor Angst ließ ich mich auf mein Kissen zurücksinken und versuchte erst einmal, ruhig und tief ein- und auszuatmen. Warum, zum Teufel, hatte ich solch einen Alptraum gehabt? Und warum jetzt? Unser letztes Abenteuer war fast auf den Tag genau ein Jahr her. Seitdem war das Leben ruhig an mir vorbeigezogen und nichts sonderlich Aufregendes war passiert. Tommy, Janine, meine Schwester Sanne und ich waren unzertrennlich und eigentlich beinahe jede freie Sekunde zusammen. Oft sprachen wir über die Abenteuer, die wir hinter uns gebracht hatten und saßen stundenlang als eingeschworene Bande auf dem Teppich in meinem Zimmer. Doch die Spannung, die uns noch Wochen, ja Monate nach der Sache mit dem magischen Wüstenglas gefangen gehalten hatte, war dann doch langsam gewichen. Und jetzt, zwölf Monate danach, schien es sicher, dass die unbekannten Herrscher uns nicht noch einmal Einlass in ihre Welt gewähren würden.
Warum hatte ich diesen Traum geträumt?
Mein T-Shirt war total durchgeschwitzt. Ich beschloss, mir ein frisches anzuziehen und stand auf, um mir eins aus dem Kleiderschrank zu holen. Dabei fiel mein Blick auf den Wecker. Fünf Uhr morgens! Das war nun wirklich zu früh, um schon aufzustehen, und das am Sonntag. Ich warf einen Blick auf Lazy, aber der hatte nicht einmal registriert, dass ich aufgestanden war.
Es war bereits taghell im Zimmer. Das hieß, es würde wieder ein wolkenloser Tag werden. Wir hatten Anfang Juli, eine Woche der Ferien lag bereits hinter uns, und die ganze Woche über hatten Temperaturen von über dreißig Grad geherrscht. Meine Mutter machte das ganz fertig, doch wir fanden das toll, schließlich hatten wir Ferien und konnten jeden Tag baden gehen. Außerdem hatten wir im vergangenen Sommer weit höhere Temperaturen überstanden bei einem Ritt durch die Wüste. Aber das war eine Geschichte, die wir nicht erzählen durften.
Ich zog das alte Shirt aus und streifte das neue über. Ich überlegte kurz. Noch mal ins Bett zurück? Nein. Ich ging zum Fenster, zog die nur angelehnten Flügel auseinander, beugte mich hinaus und blickte rechts und links die Straße hinunter. Niemand zu sehen. Es herrschte eine Ruhe, wie es sie nur sonntags gibt. Nur die Vögel machten Radau. Die Luft roch nach Sommer.
Ich beschloss, etwas Verrücktes zu tun. Warum nicht mal am Sonntagmorgen um fünf Uhr Gassi gehen? Ich war hellwach. Lazy würde das anders sehen, aber wenn ich vorher ein Stückchen Leberwurst aus dem Kühlschrank holen würde, würde er sich schon hochwuchten.
Ich griff mir Strümpfe und Jeans und ging leise wie ein Luchs ins Bad. Als ich das hinter mir hatte, was man morgens so macht, dachte ich kurz daran, Sanne zu wecken, aber ich ließ es dann doch. Schließlich hatte ich ja nichts Wichtiges vor. Leise wie zuvor ging ich in die Küche und schnitt eine Scheibe Leberwurst ab. Dann griff ich mir den Notizblock, den Mutter immer für ihre Einkaufslisten brauchte, riss ein Blatt ab und schrieb eine Nachricht drauf. Es konnte ja sein, dass meine Eltern mitbekamen, dass ich nicht da war. Ich platzierte den Zettel gut sichtbar auf dem Küchentisch. Danach ging ich zurück zu Lazy und wedelte mit der Leberwurst vor seiner Nase herum. Zuerst öffnete er sein linkes Auge, dann sein rechtes, und als mir schon langsam die Waden schmerzten, weil ich so verkrampft vor seinem Körbchen hockte, wuchtete er sich schließlich hoch.
Mit der Wurst in der Hand ging ich zur Eingangstür. Ich blickte mich gar nicht um. Leberwurst ist immer noch die beste Hundeleine. Behutsam schloss ich auf, Lazy und ich schlüpften durch die Tür, und genauso behutsam schloss ich sie wieder. Lazy machte ganz leise Wuff, aber ich blieb hart. Hätte ich ihm die Scheibe jetzt schon gegeben, wäre es schwierig geworden, ihn dazu zu bewegen, bis nach unten mitzukommen.
In dem Moment, als ich den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte, hörte ich ein Geräusch aus dem Stockwerk über mir. Ein Schlüssel wurde herumgedreht! Da war noch jemand um diese Uhrzeit wach! Ungläubig blieb ich stehen, registrierte, dass Lazy schon der Sabber aus der Schnauze lief, und lauschte nach oben. Tatsächlich, jetzt hörte ich das Geräusch einer sich leise öffnenden Tür. Sekunden später tappende Schritte. Verblüfft blickte ich zum nächsten Treppenabsatz nach oben. Im nächsten Augenblick sprang mir ein vor Freude japsendes Etwas in die Arme und schleckte mich ab. Jever!
„Hör auf damit!“, rief ich lachend und wehrte vergeblich seine nassen Leckattacken ab.
„Nicht so laut!“, kam eine Stimme von oben.
„Tommy! Was machst du denn hier?“, fragte ich wenig geistreich.
Tommy legte einen Finger an die Lippen und kam leise die Treppe herab. „Ich hab schlecht geträumt.“
„Du auch?“, entfuhr es mir.
„Ja, etwas ganz Merkwürdiges. Danach bin ich knallwach geworden. Und dann hatte ich das Gefühl, ich muss mit Jever nach draußen.“
Ich nickte und schluckte. „Genau wie bei mir! Komm, lass uns erstmal aus dem Haus gehen. Sonst wecken wir noch jemanden.“
Leise öffneten wir unsere schwere Haustür, die um diese Zeit noch abgeschlossen war und traten auf die Welfenallee hinaus. Unsere beiden Hunde steuerten den nächsten Baum an und pinkelten um die Wette. Ein wunderbarer Geruch lag in der Luft. Ein Geruch, den es wohl nur im Sommer frühmorgens gibt. Hoch oben im Wipfel der Linde protestierte eine Amsel, dabei sahen Jever und Lazy doch nun wirklich nicht wie Katzen aus. Ich blickte die Straße hinunter. Einige hundert Meter weiter mündete die Welfenallee am Wald in eine Sackgasse. Dort gab es ein Hundeauslaufgebiet. Und es gab noch etwas …
Tommy stieß mich an. „Was ist? Wollen wir …?“
„Hmm“, machte ich. „Lass uns in den Wald gehen. Um diese Uhrzeit ist dort kein Mensch.“
Für einen Moment schaute ich in Tommys Augen und spürte die leichte Unsicherheit, die ihn gefangen hielt. Aber ich spürte auch meine.
Tommy wollte losgehen, aber ich hielt es keine Sekunde länger aus.
„Tommy …“, drängte ich. „Erzähl mir deinen Traum!“
„Mach ich ja. Aber danach erzählst du mir deinen, okay?“
„Okay.“
Ich gab Lazy seine Leberwurst, weil ich seinen sehnsüchtigen Blick nicht mehr länger aushielt und er sie sich ja nun auch verdient hatte. Dann machten wir uns langsam auf in Richtung Wald, und Tommy begann zu erzählen. Wir schafften genau zehn Schritte.
„Ich hab geträumt“, begann Tommy, „dass wir in einem unheimlichen Gang stecken würden. Da war ein Loch in einer Art Durchbruch. Dahinter war es stockfinster. Jever wollte mit dir spielen und hat ein Steinchen in das Loch kullern lassen. Und dann …“
Abrupt blieb ich stehen und starrte ihn an.
„… dann haben wir gemerkt, dass es ein Abgrund war und Jever und ich um ein Haar reingefallen wären!“, rief ich heiser.
Tommy riss die Augen auf. „So war es! Ganz genauso war es! Woher weißt du das?“
„Weil ich Bild für Bild genau das Gleiche geträumt habe“, krächzte ich.
Wie auf Kommando blickten wir die Welfenallee hinunter. Ganz am Ende schimmerte das dunkle Band des Waldes. Und dort lag der magische Ort verborgen. Der Ort, der eine Pforte in die Vergangenheit barg. Vorhin noch hatte ich gedacht, ich geh einfach mal mit Lazy Gassi. Aber jetzt wusste ich, dass ich nicht nur einfach hatte Gassi gehen wollen. Nein, es war, als würde mich etwas zu unserem Grundstück ziehen. Wie eine unsichtbare Kraft. Tommy ließ sich sonst nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber jetzt sah ich, wie es in ihm arbeitete.
„Vielleicht ist es ein Zeichen …“, murmelte er.
„Glaubst du, dass wir wieder zurückkehren sollen?“, fragte ich bang. „Aber wir haben doch gar kein Problem! Oder hast du eins?“
Tommy musste lachen. „Nein, nicht dass ich wüsste! Im Gegenteil, du weißt doch, Jesse fliegt morgen mit meiner Mutter nach New York zur Galerie. Alle Zeitungen berichten darüber. Uns geht es so gut wie noch nie. Und was ist mit euch?“
Ich brauchte nicht überlegen. „Uns geht’s bestens. Kein Problem in Sicht. Und Janine geht es auch gut. Wenn was wäre, hätte ich es ihr bestimmt angemerkt.“
„Hm“, machte Tommy. „Vielleicht hat es ja auch nichts zu bedeuten. Vielleicht sind wir schon so miteinander verbunden, dass wir das Gleiche träumen.“
Ich sah ihm an, dass er nicht so recht davon überzeugt war.
„Nein“, meinte ich. „Dann hätten wir von etwas geträumt, das wir schon erlebt oder gesehen haben. Aber diese Stelle im Gang kannte ich nicht, du etwa?“
Tommy schüttelte den Kopf und amüsierte sich über Jever, der vor ihm herumhüpfte und endlich weiter wollte. „Nein, die kannte ich auch nicht. Weißt du, was? Wir fragen nachher die Mädchen. Wenn sie auch das Gleiche geträumt haben, dann …“
Er sprach den Gedanken nicht zu Ende. Ja, was dann? War es ein Zeichen der unbekannten Herrscher für uns? Oder eine Warnung? Mich fröstelte. Ich wusste die Antwort nicht. Tommy gab mir einen freundschaftlichen Klaps und zog mich mit sich.
„Na, komm schon. Lassen wir die Hunde ein wenig toben. Was meinst du, gehen wir bis zum Wald?“
Ich nickte nur. Ich wollte unbedingt das Grundstück sehen. Einfach nur vergewissern, dass es verwildert war und dass das kleine, graubraun verputzte Haus darauf stand. Denn wenn alles so war, wie es sein sollte, dann hatte der Traum nichts weiter zu bedeuten. Aber wenn nicht…
Ich rief nach Lazy und folgte Tommy mit gemischten Gefühlen. Ich hatte noch nie gehört, dass zwei Leute in derselben Nacht genau das Gleiche geträumt hatten. So einen Zufall gab es nicht. Oder doch?
Schweigend und nachdenklich schlenderten wir die Welfenallee hinunter. Es war gerade einmal halb sechs und unsere Gegend wie ausgestorben. Als wir uns dem Ende unserer Straße näherten, überkam mich ein seltsames Gefühl. Meine Beine wurden schwerer, und beinahe wäre ich so langsam dahin geschlichen wie Lazy. Doch Tommy ging unbeirrt weiter, und ich bemühte mich, an seiner Seite zu bleiben.
Dann hatten wir das Ende der Welfenallee erreicht und blieben stehen. Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Es war alles so, wie es sein sollte. Die nahezu undurchdringliche Buchsbaumhecke schützte vor neugierigen Blicken und zog sich bis zum Wald hin. Ich erblickte das Dach des alten Hauses, ein Stück des von Efeu umrankten Putzes und die Kastanienbäume.
Tommy stieß mich an. „Sieht aus wie immer.“
Ich spürte, wie Lazy sich neben mir niederließ und beobachtete Jever, der sich ungeduldig durch eine Lücke in der Hecke zwängte.
„Wie immer?“, grinste ich. „Du meinst, wie fast immer.“
„Na ja“, gab Tommy zurück. „Jedenfalls ist es kein Trümmerhaufen oder ein Friedhof.“
Ich nickte. Die Mächte, die über dieses Grundstück herrschten, hatten jedenfalls nicht vor, uns auf die Probe zu stellen. Jetzt, als es einfach nur so aussah wie vor unserem ersten Abenteuer, war ich beinahe enttäuscht. Irgendwie war ich hin und her gerissen zwischen der Aussicht, wieder etwas Aufregendes zu erleben und dem Gefühl, es wäre doch besser, lieber ruhige Ferien zu verbringen ohne in Lebensgefahr zu geraten. Tommy schien es ähnlich zu gehen.
„Komisch“, meinte er. „Ich hätte fast wetten können, dass uns eine Überraschung erwartet. Nach dem Traum wollte ich unbedingt hierher.“
Er blickte die Straße hinunter. „Was meinst du, gehen wir rein, uns mal ein bisschen umschauen?“
„Hm“, machte ich. „Jever ist ja sowieso schon drin.“
„Genau“, grinste Tommy. „Ohne uns findet er schließlich nicht mehr raus, stimmt’s?“
Ich musste lachen, aber es kam nicht so richtig von Herzen. Das Grundstück verursachte mir jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Und zwar seit dem Moment, als Janine damals ins Haus gefallen war und ihr Unterkörper zappelnd aus der Wand geragt hatte.
Kopfschüttelnd bückte ich mich, zog Lazy an den Ohren, dass er aufstand, und schob ihn dann mit beiden Händen durch die Hecke, damit er sich zu Jever gesellte. Tommy und ich mussten außen herumgehen. Die Hecke zog sich zwar auch am Wald entlang, doch da gab es eine Stelle, an der sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Als wir sie erreicht hatten, schob ich für Tommy die Zweige beiseite, und er quetschte sich seitlich durch. Dann tat er dasselbe für mich, und Sekunden später standen wir nebeneinander auf der Wiese, die einen Großteil des Grundstücks umfasste.
Spannung erfasste mich. Ich spürte, wie sich auf meinen Handflächen ein feiner Schweißfilm bildete. Nervös blickte ich mich um.
„Ich glaube nicht, dass uns etwas erwartet“, sagte Tommy. „Was meinst du, wollen wir das Grundstück ablaufen und dann einmal um das Haus gehen?“
„Okay. Aber lass uns zusammenbleiben.“
„Klar. Genug Zeit haben wir ja. Halt die Augen auf!“
Wir schlenderten los. Tommy hielt die Augen rechts und ich links, damit uns nichts entgehen konnte.
Ich warf einen Blick auf unsere Hunde. Lazy hatte sich mal wieder hingelegt und beobachtete, was wir taten. Jever saß mit dem Rücken zu uns gewandt da und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf das Haus. Es schien, als würde er uns beim Suchen helfen. Ich lächelte über ihn, aber dann nahm ich meine Suche umso konzentrierter wieder auf.
Wir ließen uns eine geschlagene halbe Stunde Zeit. Langsamen Schrittes umrundeten wir das Haus. Wir liefen über wucherndes Gras, das wir bei jedem Schritt niedertraten und das mit vielen Wildblumen durchsetzt war. An den Rändern wuchsen Brennnesseln, vor denen wir uns in acht nehmen mussten. Die Buchsbaumhecke am Grundstücksrand konnte nichts Aufregendes verbergen, und die großen, uns wohl vertrauten Kastanienbäume wie auch die wirr ineinander rankenden Brombeersträucher auch nicht. Es sei denn, jemand hätte Diamanten versteckt. Aber daran glaubte ich nicht. Mir tränten die Augen vom konzentrierten Hinschauen, aber ich konnte nichts entdecken, das sich von einem normalen verwilderten Grundstück abhob.
Schließlich hatten wir die Runde vollendet und standen wieder an unserem Ausgangspunkt.
„Einmal nichts“, bemerkte Tommy und holte tief Luft.
„Jetzt das Haus?“, fragte ich und sah verblüfft, dass Jever immer noch an derselben Stelle saß und die Wand anstarrte. Ich folgte seinem Blick, aber die Hauswand sah ganz normal aus.
Ich stieß Tommy an. „Schau mal, dein Hund meditiert!“
„Vielleicht hat er sich bei Lazy angesteckt!“, lachte mein Freund. Doch dann kniff er die Augen zusammen und fixierte das Haus. „Vielleicht wittert er etwas. Komm, lass uns näher rangehen. Zu blöd, dass ich meine Machete nicht dabei habe.“
Die Machete hatte ihm sein Stiefvater Jesse einmal aus Madagaskar mitgebracht. Kein anderer Junge hätte mit so einer Waffe herumlaufen dürfen. Sie war scharf wie eine Rasierklinge. Zur Not hätte man sich den Weg durch einen Dschungel mit ihr freischlagen können. Jesse vertraute Tommy vorbehaltlos. Mein Freund konnte die Machete jederzeit ohne zu fragen überallhin mitnehmen. Aber natürlich nahm er sie nur mit, wenn wir sie wirklich brauchten. Nur heute Morgen lag sie zu Hause, und gerade jetzt hätten wir sie gut gebrauchen können, denn die Brombeeren hatten das Haus buchstäblich eingewickelt.
Als wir Jever erreicht hatten, winselte der Kleine ein bisschen, dann verstummte er. Noch immer schaute er am Haus empor. Und dann entdeckte ich es.
„Da oben!“, rief ich aufgeregt. „Ein Loch!“
Tommy folgte meinem Blick. Dicht unter der leicht überhängenden Dachkante, kaum sichtbar durch den Schatten, den die Kante warf, befand sich ein kleines, scharf abgegrenztes Loch. Es war nicht kreisrund, sondern rechteckig. Es fiel wahrlich nicht auf. Kein Wunder, dass wir das vorher nicht entdeckt hatten.
„Sieht aus, als würde ein Mauerstein fehlen“, murmelte Tommy.
Ich musste ihm Recht geben. Es sah tatsächlich so aus, als würde ein Mauerstein fehlen. Sauber herausgebrochen, oder besser herausgetrennt, denn das Loch besaß keine ausgefransten Bruchstellen. Unwillkürlich fuhr mein Blick nach unten, ob ich den Stein vielleicht auf der Erde liegen sehen würde. Aber die Brombeeren waren so dicht, dass man nichts erkennen konnte.
„Wenn er heruntergefallen ist, kommen wir jedenfalls nicht ran“, meinte ich. „Und ein fehlender Stein ist doch auch nicht so wichtig, oder?“
Tommy schaute mich mit einem Blick an, den nur er drauf hatte. „Ein fehlender Stein in diesem Haus ist wichtig!“, sagte er bestimmt. „Und Jever hat etwas gewittert, da bin ich sicher. So klug mein Hund auch ist, ein Loch allein wäre ihm sicher nicht aufgefallen. Er muss etwas riechen.“
„Riechen?“ Eine Gänsehaut strich meinen Rücken herunter. „Was denn riechen?“
Tommy zuckte die Schultern. „Was weiß ich? Vielleicht strömt aus dem Loch ein Geruch, den er von unseren Abenteuern her kennt. Oder was ganz anderes. Ich weiß es doch auch nicht.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich aufgeregt. „Meinst du, das ist wieder ein Rätsel?“
Tommy seufzte. „Unsere Träume … und jetzt das Loch hier … es kann schon sein, das man uns ein neues Rätsel stellt. Ich weiß nur nicht, warum.“
Ich hatte eine Idee. „Dann lass uns Brötchen holen und alles Janine und Sanne erzählen!“
Tommy musste lachen. „Ich hab auch Hunger! Und wenn es ein Rätsel ist, wird es so schnell nicht weglaufen. Du hast Recht, wir sollten alle darüber reden. Ich bin gespannt, was die beiden dazu sagen. Vielleicht sind wir auch nur so aufgeregt und sehen in jedem Steinchen ein Rätsel, weil wir schlecht geträumt haben.“
Gerade wollte ich ihm antworten, als er mir zuvorkam. „Ja, ja, ich weiß! Beide dasselbe! Irgendeinen Grund muss es für unsere Alpträume geben. Aber der Stein könnte schon immer gefehlt haben, und es ist uns nur noch nie aufgefallen.“
„Vielleicht liegt er da im Gestrüpp“, wandte ich ein. „Wir könnten nach dem Frühstück noch mal mit der Machete herkommen und nachsehen.“
„Hm“, überlegte Tommy. „Das könnten wir wirklich. Aber erstmal esse ich fünfzehn Brötchen. Ich hab nämlich inzwischen soviel Hunger, dass ich kaum noch vernünftig denken kann.“
„Oh, das ist aber schlecht!“, lachte ich. „Wir brauchen einen weisen und satten Tommy, um die Rätsel zu lösen! Dann iss lieber zwanzig!“
Wir warfen noch einen letzten Blick auf das ominöse Loch und machten uns dann lachend auf den Weg zum Bäcker. Diesmal folgte uns Jever ohne noch einmal zu kläffen und rannte fröhlich voraus. Lazy musste ich zehnmal rufen, ehe er uns endlich auf die Straße folgte, aber daran waren wir ja gewöhnt.
Mit zwei großen, prall gefüllten Brötchentüten kamen wir wieder zu Hause an. Ich platzte fast vor Neugier, wie Sanne und Janine wohl auf unsere Neuigkeiten reagieren würden.
*
Als ich unsere Wohnungstür behutsam öffnete, kam meine Mutter gerade aus dem Bad und schaute uns mit großen Augen an.
„Wo kommt ihr denn her? Seid ihr aus dem Bett gefallen?“
„Ich hab schlecht geträumt und konnte nicht mehr schlafen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Dann sind wir halt Gassi gegangen.“
Ich hielt ihr die prall gefüllte Brötchentüte hin. „Sieh mal, was wir mitgebracht haben!“
„Frische Brötchen! Toll! Da wird sich Vati aber freuen, dass er nicht noch losgehen muss!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Komm, ich nehm sie dir ab und mach für uns alle Frühstück. Ich weiß allerdings nicht, ob Sanne schon wach ist.“
„Mutti …“, druckste ich herum. „Ich … äh … ich finde es ja auch schön, wenn wir alle zusammen frühstücken, aber …“
„Ich verstehe“, lächelte meine Mutter. „Aber noch schöner ist es, wenn ihr unter euch seid!“ Sie zwinkerte mir zu. „Na, gib schon her. Ich mach euch ein paar Brötchen zurecht, dann könnt ihr in deinem Zimmer essen. Aber krümelt nicht so.“
„Danke, Frau Seefeld“, meinte Tommy und nahm mir die Tüte aus der Hand. „Aber heute machen wir das Frühstück, und Sie können es sich mit Ihrem Mann gemütlich machen.“
Mutti bedachte mich mit einem Blick, der so viel besagte wie: „Siehst du, Josef, daran kannst du dir ein Beispiel nehmen!“ Ich setzte einen unschuldigen Blick auf und folgte Tommy, der schon in der Küche verschwunden war.
Gemeinsam machten wir zwei Platten mit belegten Brötchen, kochten Eier und verzierten alles mit Erdbeeren und Weintrauben. Dann deckten wir für unsere Eltern den Tisch, setzten Kaffee auf, und anschließend beluden wir ein Tablett mit den Sachen, die wir mit in mein Zimmer nehmen wollten. Ich mixte uns noch eine Kanne Kakao, dann waren wir fertig.
Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr, die über der Tür hing. Genau neun Uhr. Mein Magen knurrte wie ein wilder Wolf. Kein Wunder, dass ich Hunger hatte. Ich war schließlich schon seit vier Stunden auf!
Tommy ergriff mit sichtlicher Mühe das Tablett, und ich nahm schnell den Kakao wieder runter, damit es kein Unglück gab.
„Warte, ich geh vor und mach die Tür auf“, sagte ich.
„Was ist mit Sanne und Janine?“, fragte mein Freund. „Ohne sie will ich nicht anfangen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Ich kann’s gar nicht abwarten, ihnen die Sache mit unseren Träumen und dem fehlenden Stein zu erzählen. Ich werd gleich Sanne wecken, und du kannst ja inzwischen Janine anrufen.“
Tommy konzentrierte sich auf das Tablett und folgte mir. „Ja, mach ich. Um neun werden sie ja wohl nicht mehr schlafen.“
Als ich mein Zimmer betrat, bekam ich große Augen. Sanne saß putzmunter an meinem Computer und surfte herum!
„Hey!“, rief ich. „Was machst du an meinem Computer?“
Meine Schwester drehte sich um und blickte mich vorwurfsvoll an. „Erstmal guten Morgen, lieber Bruder! Und zweitens ist das immer noch unser Computer, er steht nur in deinem Zimmer, weil in meinem kein Platz ist. Und wenn du nicht da bist, kann ich soviel surfen, wie ich will!“
Kleinlaut grummelte ich: „Hast ja Recht“, und betrat vollends das Zimmer, Tommy im Schlepptau. Als Sanne Tommy erblickte, sprang sie auf.
„Hallo Tommy! Was machst du denn schon hier?“ Ihr Blick fiel auf das Tablett mit all den leckeren Sachen. „Hey, und Frühstück habt ihr auch schon gemacht? Hmm … hab ich einen Hunger! Ich bin schon stundenlang wach!“
Tommy und ich schauten uns an. Sanne auch?
„Wir auch“, sagte mein Freund und schaute sich um, wo er das Tablett platzieren konnte. Da wir sowieso immer auf dem Teppich aßen, bückte er sich und stellte es vorsichtig auf dem Boden ab. Dann kam er wieder hoch und schlug in Sannes Hand ein, die sie ihm hinhielt. „Was schaust du dir denn gerade an?“
„Ich war schon so lange wach“, meinte Sanne und warf mir einen Blick zu. „Eigentlich wollte ich mit dir reden, aber du warst nicht da. Ich hab mir gedacht, dass du mit Lazy raus bist. Und da wollte ich ein bisschen surfen, bis du zurückkommst. Ich hab Geheimnisse Ägyptens eingegeben, und da kamen unglaublich viele Seiten heraus.“
Sie blickte auf ihre Armbanduhr und machte ein überraschtes Gesicht. „So spät schon? Ich bin schon seit sechs Uhr hier! Ich hab gar nicht gemerkt, dass so viel Zeit vergangen ist. Aber da waren unheimlich spannende Sachen zu lesen. Gerade bin ich unter dem Gizeh-Plateau.“
Tommy war sofort Feuer und Flamme. „Unter dem Plateau?“
„Ja“, meinte Sanne aufgeregt. „Da soll es hunderte von Kilometern Gänge geben und an die tausendfünfhundert Kammern und Räume. Das ganze Gelände ist unterirdisch ausgehöhlt. Und alles ist geheim. Die ägyptische Regierung lässt niemanden graben und sperrt alles ab. Aber manches wurde doch heimlich entdeckt. Ich muss euch unbedingt was vorlesen. Das glaubt ihr nie!“
„Mach ruhig“, sagte ich gutmütig. „Aber wir müssen dir auch unbedingt was erzählen, was du garantiert nicht glauben wirst. Was ist eigentlich mit Janine? Kommt sie noch?“
Sanne hatte sich schon umgedreht und suchte auf dem Monitor die Stelle, die sie uns vorlesen wollte.
„Ja“, murmelte sie abwesend. „Aber sie kommt erst um elf. Sie gibt doch sonntags immer Nachhilfe.“
„Nachhilfe?“, staunte Tommy. „Wem denn?“
„Leon aus unserer Klasse. Der ist so schlecht, der braucht wirklich Nachhilfe. Er ist schon einmal sitzen geblieben, und wenn er so weitermacht, wird es ihn wieder erwischen.“
Tommy legte die Stirn in Falten, sagte aber nichts mehr darauf. Ich hatte ganz vergessen, dass Janine Nachhilfe gab. Na, eigentlich auch kein Wunder. Normalerweise schlief ich ja sonntags auch bis zehn oder noch länger. Da war Janine längst fertig, bevor wir gefrühstückt hatten.
„Hier!“, rief Sanne. „Da steht es! Das glaubt ihr nie!“
Tommy und ich stellten uns dicht hinter meine Schwester und schauten ihr über die Schulter, als sie zu lesen begann.
„Ein gewisser Andreas von Rétyi berichtet in seinem Buch Geheimakte Gizeh Plateau, dass es geheime Schächte gibt, die kilometerweit von den Pyramiden von Gizeh entfernt mitten in der Wüste in die Erde führen. Es ist verboten, diese Schächte zu betreten, aber von Rétyi hat einige von ihnen heimlich erkundet.“
Sanne tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle auf dem Bildschirm. Ich bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte.
„Und jetzt das hier: Die Öffnungen können schnell zur Todesfalle werden, denn sie führen in wirklich tiefe Schächte. Wir haben einen Stein fallen gelassen und trauten unseren Ohren nicht, so lange dauerte es, bis wir den Widerhall des Steines hörten …“