Czytaj książkę: «Die Maske des Pharaos», strona 6

Czcionka:

„Gehen wir herum?“, fragte Sanne schließlich.

Wir standen an einer der Längsseiten des Tempels. Ich war mir sicher, dass ein möglicher Eingang wohl eher an einer der schmalen Seiten zu finden sein würde. Jever und Lazy schnüffelten neugierig an den Säulen herum.

„Jever!“, rief Tommy belustigt. „Komm ja nicht auf die Idee, da ranzupinkeln! Ein bisschen mehr Ehrfurcht vor dem Altertum, bitte!“

„Los, kommt!“, rief ich und ging voraus.

Mehr aus Spaß zählte ich meine Schritte bis zur Schnittstelle der beiden Seiten. Es waren mehr als einhundert! Dabei waren wir etwa in der Mitte der Längsseite losgelaufen. Dieser Tempel war unglaublich groß. Schließlich schauten wir um die Ecke und sahen den Eingang vor uns liegen.

Das Dach ragte auf dieser Seite mindestens zehn Meter ins Freie. Vor dem Eingang befand sich ein prachtvoll bemalter Vorplatz. Zehn besonders schöne Säulen trugen das Vordach. Hier gab es endlich Schatten und dankbar betraten wir den Platz. Jever flitzte voraus und Tommy machte keine Anstalten, ihn zurückzurufen.

„Wenn er was wittern würde, würde er sich ganz anders verhalten“, beruhigte er uns.

Dann standen wir vor dem Eingang. Wieder erfasste uns unendliche Ehrfurcht. Es war kein Eingang im üblichen Sinn. Eine Tür gab es nicht, denn niemand hätte eine Tür solchen Ausmaßes öffnen können. Ein riesiger offener Einlass, der alle Maßstäbe sprengte, die ich bisher kannte, lud ins Innere, das vollkommen im Dunkel vor uns lag. Jever scherte sich nicht darum, sondern hopste in seiner unnachahmlichen Art einfach hinein.

Beim Nähertreten stellten sich unsere Augen von der gleißenden Sonne nur langsam auf das diffuse Licht um. Doch bald erkannten wir die gewaltigen Ausmaße des Innenraums. Es war tatsächlich nur ein einziger Raum, soviel war sicher.

Tommy starrte wie hypnotisiert in den Tempel.

„Alles klar?“, fragte er ohne uns anzusehen.

„Hm“, machte Sanne. Janine und ich sagten gar nichts, sondern nickten nur.

„Na, dann los.“

Der erste Schritt durch die meterdicken Mauern fiel dann doch schwer. Unwillkürlich hielt ich die Luft an und ließ sie erst wieder raus, als wir alle wohlbehalten im Innern des gewaltigen Baus standen und mit weit aufgerissenen Augen umherschauten. Noch war es zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Aber schon jetzt wusste ich, es war einfach gigantisch. In mindestens zwanzig Metern Höhe verlief die Decke, und knapp unterhalb von ihr waren in regelmäßigen Abständen Durchlässe eingefügt, die das Sonnenlicht hineinließen. Nicht viel, aber genug, um den Innenraum des Tempels mit einem warmen Licht auszuleuchten. Langsam gewöhnten wir uns an die Lichtverhältnisse und sahen uns genauer um.

„Da steht einer!“, schrie ich.

Die anderen fuhren zusammen und Janine packte mich vor Schreck am Arm. Noch in derselben Sekunde erkannte ich, dass derjenige, der da stand, aus Stein war.

„Eine Statue!“, rief ich erleichtert aus und rieb meinen Arm, denn Janine hatte mich ordentlich gekniffen.

„Hier steht auch eine!“, rief Tommy. Rechts und links vom Eingang standen aus massivem Marmor gehauene, vielleicht drei Meter hohe Figuren. Sie waren derart natürlich ausgearbeitet, dass man das Gefühl hatte, sie würden sich jeden Moment zu einem hinunterbeugen. Es waren männliche Statuen, und sie wiesen mit je einer Hand in Richtung Innenraum.

„Die sehen aus wie Türsteher!“, grinste Tommy.

„Ärger sie bloß nicht“, sagte Janine ängstlich. „Die sehen so echt aus.“

„Das werden die anderen bestimmt auch“, meinte Sanne und deutete voraus.

„Welche anderen?“, fragten wir wie aus einem Mund. Und dann erst ging uns auf, dass im Tempel unzählige weitere Statuen standen. Scheinbar wahllos waren sie in dem riesigen Raum verteilt. Manche in Gruppen, viele allein. Ich erkannte immer mehr Einzelheiten, da sich meine Augen jetzt vollständig auf das gedämpfte Licht eingestellt hatten. Ich sah, dass nicht der ganze Innenraum eben war, sondern dass sich in der Mitte eine Art Bühne befand, zu der Treppen empor führten.

„Meinst du, das ist ein Altar?“, fragte Sanne.

„So etwas ähnliches bestimmt“, antwortete Tommy. „Tempel sind wie Kirchen. Man erbaute sie für Götter oder Herrscher. Sicher gab es auch Priester, die Zeremonien feierten. Es könnte aber auch so eine Art Bühne sein, von der aus man besser zu sehen und zu hören war.“

„Willst du sie dir ansehen?“, fragte ich, wusste die Antwort aber schon.

„Ihr nicht?“

Wir waren bis hierher gekommen, jetzt mussten wir auch den nächsten Schritt gehen. Ich seufzte.

„Na schön. Diesmal geh ich aber nicht vor.“

„Ich mach’s!“, sagte Janine entschlossen. „Ich mach es für meine Mutter, also gehe ich vor.“

„Warte noch einen Moment“, sagte Tommy. „Jever! Willst du nicht mal ein bisschen suchen?“

Mit treuen Augen schaute der Kleine zu seinem Herrchen auf.

„Los!“, rief Tommy. Das ließ sich Jever nicht zweimal sagen. Wie ein Wirbelwind flitzte er davon, schnüffelte hier und da an einem Sockel und hopste dann von links nach rechts und immer weiter in den Tempel hinein. So kannten wir ihn. Da schien es nichts Gefährliches zu geben.

Langsamen Schrittes und die Köpfe in alle Richtungen drehend liefen wir los. Es kam mir vor, als würden wir durch ein Spalier laufen. Statuen über Statuen säumten unseren Weg. Es schien, als würden sie diesen Tempel bevölkern. Allesamt waren sie aus feinstem Marmor und wirkten irgendwie ... lebendig. Nach und nach fühlte ich mich wie umzingelt. Mit einem immer mulmigeren Gefühl folgte ich den anderen. Nachdem wir etwa die Hälfte bis zur Mitte des Tempels zurückgelegt hatten erkannten wir, dass das, was wir zuerst als eine Art Podest angesehen hatten, eher eine große Bühne war. Bestimmt zwei Dutzend Stufen führten von allen Seiten zu ihr hinauf. Als wir sahen, was dort oben im wahrsten Sinne des Wortes thronte, ahnten wir, dass etwas Besonderes auf uns wartete.

„Ein Priester ...“, flüsterte Sanne.

„Sieht eher aus wie eine Priesterin“, sagte Janine und kniff die Augen zusammen.

Vor der ersten Stufe der Treppe blieben wir stehen. Selbst Jever schien keine Lust zu verspüren, nach oben zu springen und den Thron in Augenschein zu nehmen. Lazy und er stellten sich neben uns und schauten zum Thron empor. Und dass es ein Thron war, hätte ich wetten können. Ein aus Stein gehauener Sessel, diesmal, wie es mir schien, in durchaus normalen Ausmaßen, stand in der Mitte der Bühne. Auf ihm saß die schönste Frau, die man sich vorstellen konnte. Natürlich war auch sie aus Marmor, aber als Statue hätte ich sie nicht bezeichnet. Mit Statuen verband ich immer Figuren, die aufrecht standen. Diese Frau hingegen saß majestätisch auf dem Thron und schien uns anzublicken. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Ich redete mir ein, sie ist ja nur aus Marmor ... aber je länger ich sie betrachtete, desto unsicherer wurde ich. Sie trug Kleidung in den schönsten Farben. Ihr Gewand fiel wie in Wellen an ihrem Körper herunter und ihr Gesichtsausdruck war so natürlich, dass ich das Gefühl bekam, sie würde jeden Augenblick etwas zu mir sagen.

„Sie ist unheimlich ...“, flüsterte Sanne.

„Sie sieht aus wie eine Königin oder eine Göttin“, meinte ich und sprach unwillkürlich auch leise.

„Ich glaube nicht, dass sie in diesem Tempel gelebt hat“, sagte Tommy nachdenklich. „Jedenfalls nicht, seit er hier steht.“

„Nicht?“, fragte ich erstaunt. „Warum denn nicht?“

„Du hast schon Recht, sie wird eine Göttin sein. Könige oder Königinnen gab es vor so langer Zeit wohl noch nicht. Wenn es aber eine Göttin war, dann ist der Tempel erst lange nach ihrem Tod errichtet worden. Weißt du noch, was ich dir erzählt habe, als du gestern zu mir kamst? Die meisten Götter und Göttinnen waren eigentlich Menschen, die besondere Gaben hatten. Und manchmal erst Jahrhunderte nach ihrem Tod hat man sie ...“

„... vergöttert!“, rief ich lauter als ich wollte.

„Genau. Sie wird von dem Volk, das hier lebte, als Göttin verehrt worden sein, und irgendwann hat man ihr zum Gedenken diesen Tempel errichtet.“

„Du kennst dich doch aus“, sagte Janine. „Weißt du nicht, wer sie sein könnte? Wie sie heißt?“

„Nein. Keine Ahnung. Aber vielleicht gibt es am Thron eine Inschrift oder so was. Will jemand nachschauen?“

Wer mag schon allein so nah an eine Göttin herangehen, selbst wenn sie aus Marmor ist. Also verständigten wir uns wortlos und stiegen gemeinsam und sehr behutsam die Stufen empor.

Ich konnte es nicht verhindern, aber als ich dicht vor ihr stand, wurde mir mein Mund trocken. Diese Frau strahlte eine Aura aus, die den Betrachter vollkommen befangen machte. Man kam sich klein und unbedeutend vor, obwohl die Göttin in Lebensgröße dargestellt war und nicht drei Meter maß wie die anderen Statuen im Tempel. Was mich hingegen beruhigte, war ihr gütiges Gesicht. Ich meinte fast, die Spur eines Lächelns um ihre Mundwinkel zu entdecken. Langsam umrundeten wir den Thron. Ich wurde das unheimliche Gefühl nicht los, dass ihre Augen mir nachblickten. Dann entdeckten wir tatsächlich eine Inschrift.

„Hier!“, rief Sanne. „Da steht was!“

Auf der Rückseite des Throns befand sich eine Inschrift in einer mir fremden Sprache. Es waren keine Hieroglyphen, soviel stand fest. Ganz entfernt erinnerten mich die Zeichen an eine Schrift, die ich schon einmal gesehen hatte. Aber selbst wenn dies so war, entziffern konnte ich das nicht.

„Das hilft uns auch nicht weiter“, sagte Janine enttäuscht.

„Na, na“, meinte Tommy. „Erstmal Tommy fragen!“

„Was?“, entfuhr es mir. „Du kannst das lesen?“

„Nein. Lesen kann ich es nicht. Aber ich weiß, was das für eine Sprache ist. Vielleicht können wir es ja erraten.“

Eine Pause trat ein und Tommys Augen blitzten.

„Und?“, drängte ich. „Nun spann uns nicht so auf die Folter. Sag schon!“

„Es ist Altgriechisch“, sagte Tommy. „Der erste Buchstabe ist das Alpha. Also unser A.“

„Ein A?“, murmelte Janine. Dann ging sie zwei Schritte vor und fühlte mit den Fingern über die Schrift. „Es sind sieben Buchstaben. Kennst du nicht wenigstens noch einen anderen?“

Tommy schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr wisst doch, Alpha, Beta und so weiter. Daher stammt übrigens auch unser Alphabet. Aber wie die alten Buchstaben alle aussehen, weiß ich auch nicht. Beta und Gamma kenne ich noch, aber die sind nicht dabei.“

„Na schön“, sagte ich entschlossen. „Dann müssen wir eben raten. Welche Göttin fängt mit A an?“

Wir grübelten und grübelten, aber niemand hatte eine brauchbare Idee.

„Vielleicht finden wir auf der Vorderseite noch was“, meinte Sanne.

„Ja, vielleicht trägt sie ein Namenskettchen“, scherzte ich.

Während wir den Thron der Göttin noch einmal umrundeten, tasteten unsere Augen jeden Zentimeter nach etwas Auffälligem ab, aber da war nichts. Schließlich standen wir wieder Auge in Auge mit der geheimnisvollen Frau.

„Ein Namenskettchen trägt sie jedenfalls nicht“, sagte Sanne enttäuscht.

„Aber einen Ring!“, sagte Janine und nieste im selben Moment herzhaft.

„Nicht so laut!“, sagte ich mit gedämpfter Stimme. Mir war heiß geworden. In diesem Tempel kam ich mir vor wie in einer Kirche, da durfte man nicht laut sein. Plötzlich fiel mir noch etwas ein.

Hütet euch vor den Wächtern!

Da hatte ich wohl was Falsches gesagt, denn mit nun bangen Gesichtern blickten sich meine Freunde um und musterten die vielen Statuen um uns herum.

„Du meinst, das könnten Wächter sein?“, fragte Sanne angstvoll.

„Ich meine nur, wir sollten nicht so laut sein. Ich weiß auch nicht, warum. Aber die sind mir unheimlich.“

„Die werden schon nicht lebendig“, meinte Tommy überzeugt. „Dies ist zwar eine fantastische Welt, aber hier lebt ganz bestimmt niemand.“

Er betrachtete den Ring, den Janine entdeckt hatte. Der Thron hatte zwei wuchtige Armlehnen, und die Arme der Göttin ruhten auf ihnen. Mir ging durch den Kopf, dass der Thron und die Figur der Göttin womöglich aus einem einzigen Stück Marmor herausgehauen waren. Ihre rechte Hand hing seitlich über der Lehne. Die ganze Körperhaltung wirkte so, als würde eine Herrscherin ganz entspannt irgendeinem Schauspiel beiwohnen und das Geschehen von oben betrachten. Auch wir beugten unsere Köpfe über die rechte Hand der Göttin und begutachteten den Ring.

„Ein Udjat-Auge“, sagte Tommy, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

„Ein was?“, kam es von uns.

„Die Geschichte vom Udjat-Auge kenne ich“, sagte Tommy und grinste mich an. „Hat doch was für sich, wenn man rumsurft. Du weißt doch, ich hab viel über Götter gelesen. Eine Legende sagt, dass der Gott Horus einst ein Auge im Kampf verlor. Wie das genau war, weiß ich auch nicht mehr, aber andere Götter verhalfen ihm dazu, sein Auge heil wiederzubekommen. Der Begriff udjat bedeutet heil oder gesund. Aufgrund dieser Sache mit Horus hat man später Ringe oder Amulette gefertigt und sie als Talismänner getragen. Kannst du heute sogar im Internet im Ägypten-Shop bestellen!“

„Wahnsinn!“, entfuhr es Sanne.

„Ja, und man hat es oft auf Sarkophage gemalt, damit der Tote sehen konnte, wenn er denn jemals wieder aufwachte.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Janine.

„Na ja, ist ja auch nur eine Legende. Wie auch immer, jedenfalls ist das hier ein Ring mit einem Udjat-Auge.“

„Und was hilft uns das weiter?“ Ich war mit meinem Latein am Ende.

„Der Ring!“, schrie Janine. Uns allen fuhr der Schreck bis ins Mark.

„Nicht so laut, ich weiß!“, lächelte sie und ihre Augen strahlten. „Der Ring der Artemis! Mensch, Leute, denkt doch nach! Setzt den Ring der Artemis an seine Stelle ... Das könnte er doch sein, oder nicht?“

Acht Augen richteten sich auf die Hand der Göttin. Könnte es wirklich sein, dass dies ...

Tommy legte mir die Hand auf die Schulter und ich zuckte zusammen. Irgendwie dachte ich immer noch, die Statuen könnten zum Leben erwachen.

„Mein Freund“, sagte er, „Janine ist Gold wert. Und ich ...“

„... werde alt. Ich weiß“, nickte ich.

„Ja, ja. Bis auf Janine sind wir alle blind durch die Gegend gelaufen. Mir ist gerade noch etwas eingefallen.“

Gespannt sahen wir ihn an. Tommy sagte nichts, sondern ging um den Thron herum und wir folgten ihm notgedrungen. Dann zeigte er wortlos auf die altgriechischen Buchstaben.

„Na, klingelt’s jetzt auch bei euch?“

Janine murmelte vor sich hin. „Alpha ist A, A ist Alpha ... A wie ... Artemis!“

„Mann“, rief ich. „Na klar! Das ist Artemis! Muss sie sein. Sind ja auch sieben Buchstaben!“

„Jede Wette, dass das Artemis heißt“, nickte Tommy. „Und jede ... na ja, fast jede Wette, dass der Ring an ihrem Finger der Ring der Artemis ist.“

Er schaute mich an. „Was du vorhin gesagt hast am See, das mit Geschichte. Da hatten wir doch über die sieben Weltwunder geredet. Der Tempel der Artemis ist eines davon.“

„Mensch, du hast Recht!“ Plötzlich kam ein Gedankenblitz in meinen Kopf. „Philon!“, rief ich. „Philon war doch der Kerl, der die sieben Weltwunder benannt hat!“

„Joe, du bist Spitze!“, sagte Janine. Ehe ich mich versah, kam sie auf mich zu und auch ich hatte meinen Kuss weg! Mir wurde heiß und ich fühlte, wie ich knallrot wurde. Aber die anderen schienen das gar nicht zu bemerken. Tommy klatschte sich die Hand vor die Stirn.

„Philon von Byzanz hieß der Knabe! Das habe ich doch gewusst, verflixt noch mal! Warum bin ich nicht darauf gekommen?“

„Du wirst halt alt!“, riefen wir alle im Chor.

„Macht nichts“, grinste er, wurde aber sofort wieder ernst. „Joe, Hut ab! Das Wunder des Philon ist eines der sieben Weltwunder und nichts anderes als der Tempel der Artemis, in dem wir gerade stehen. Aber was jetzt?“

„Wir sollen doch den Ring nehmen und ihn an die Stelle der Maske setzen“, sagte Janine.

„Aber der ist an der Hand der Göttin. Den kriegen wir nie ab“, zweifelte Sanne.

„Vielleicht müssen wir nur das Udjat-Auge abnehmen“, überlegte ich.

„Ohne den Ring der Artemis brauchen wir gar nicht weiter.“ Genau in dem Moment, als Tommy das sagte, kläfften unsere beiden Hunde. Mir rutschte das Herz in die Hose. Wir standen immer noch hinter dem Thron, und als wir nach unseren Hunden schauten sahen wir, wie sie wie verrückt die Göttin anbellten. Tommy rief: „Jever! Aus!“, und der Kleine verstummte auf der Stelle. Lazy machte noch ein paar Versuche, aber dann beruhigte auch er sich wieder und setzte sich schwerfällig hin. Mit wild klopfenden Herzen versuchten wir zu ergründen, was die beiden so aufgeregt hatte.

„Der Ring ...“, flüsterte Janine. „Seht doch! Der Ring!“

Der Ring der Artemis blitzte und schillerte in den schönsten Farben. Vor allem das Udjat-Auge strahlte in einem unvergleichlichen Glanz. Wie konnte das sein? Vorhin noch war es ein unauffälliger, silbergrau und matt scheinender Ring gewesen, und nun glänzte das Schmuckstück in einer Intensität, die unmöglich von dem wenigen Sonnenlicht herrühren konnte, das durch die Lichteinlässe unter dem Dach des Tempels einsickerte.

Tommy atmete geräuschvoll aus. Dann machte er eine einladende Geste.

„Kleiner Wink mit dem Zaunpfahl, Janine, findet du nicht?“

„Du meinst ...“, sagte Janine erschrocken, „... ich soll ihn ...?“

„... an dich nehmen. Na klar. Deutlicher geht’s nicht.“

Fragend und voller ängstlicher Unsicherheit sah Janine uns an. Sanne nickte heftig mit dem Kopf und ich hielt den Daumen in die Höhe.

„Gut. Ich mach’s. Aber was ist mit den Wächtern? Was ist, wenn man der Göttin nichts stehlen darf? Was ist, wenn wir bestraft werden?“

Da war was dran. Ich konnte nicht anders, ich stellte mir vor, wie all die Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Statuen, die wir von hier oben aus sehen konnten, auf einmal lebendig wurden und der Göttin, die sie beschützten, zu Hilfe eilen würden. Eines war sicher: Hier, in der Mitte des gewaltigen Tempels, waren wir ohne jede Chance. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Und Tommy traf sie für uns.

„Warum sollte der Ring so strahlen, wenn er nicht für uns sein soll? Der Hinweis auf der Mondscheibe war doch eindeutig. Wir brauchen den Ring. Also, falls irgendetwas passiert, wenn Janine den Ring abzieht, dann steckt sie ihn sofort wieder an die Hand der Göttin zurück, okay?“

Okay, okay ... Natürlich brauchten wir den Ring, aber da war auch diese Warnung, die mir ständig im Kopf herumging. Ich glaube, die anderen hatten die gleichen Gedanken wie ich. Doch dann verständigten wir uns noch einmal kurz mit Blicken. Janine ging neben dem Thron in die Hocke und berührte vorsichtig die Hand der Göttin. Wir hielten die Luft an.

Behutsam und mit leicht drehenden Bewegungen zog Janine an dem nach wie vor blitzenden Ring und löste ihn ohne große Anstrengung von der Hand der Artemis. Ich spürte das Blut in meinen Schläfen pochen und starrte mit äußerster Anspannung umher. Doch es geschah nichts.

Langsam erhob sich Janine, legte den Ring in ihre flache Hand und wir bewunderten seine unglaublichen Farben.

„Hoffentlich verliere ich ihn nicht.“

„Steck ihn doch einfach an!“, meinte Sanne.

„Ich kann ihn doch nicht ...“

„Doch, ich glaube schon“, sagte Tommy. „Sieh nur, wie er schillert. Der ist einzig und allein für dich bestimmt. Ich meine, so lange, bis du ihn abgeben musst.“

Ganz behutsam versuchte Janine, den Ring an ihren rechten Mittelfinger zu stecken. Er passte wie angegossen.

„Na, Janine?“, grinste Tommy und deutete eine Verbeugung an. „Jetzt haben wir eine lebende Göttin unter uns!“

„Dann müsst ihr mich auch verehren!“, lachte Janine und wir stimmten ein.

„Das tun wir doch sowieso“, sagte ich und wurde schon wieder rot. Aber Janine schenkte mir einen warmen Blick und lächelte.

„Danke. Aber ich möchte jetzt ganz schnell hier raus. Ich hab immer noch Angst, Artemis könnte böse werden.“

„Wird sie schon nicht“, beruhigte ich sie. „Aber raus will ich auch.“

Vorsichtig und dabei nach allen Seiten schauend stiegen wir vom Podest und begannen unseren Slalomlauf durch die Statuen bis zum Ausgang. Kühl und unbeweglich standen sie Spalier. Gott sei Dank waren sie immer noch aus Marmor. Das friedliche warme Licht hatte sich nicht verändert. Nur die Strahlen der Sonne schienen nun schräger durch die Einlässe. Es musste inzwischen Nachmittag geworden sein.

Endlich traten wir durch den gewaltigen Eingang hinaus ins helle Sonnenlicht. Die Erleichterung war uns allen anzumerken. Während die anderen auf dem Vorplatz ihre Rucksäcke abnahmen, um einen Schluck zu trinken, wartete ich auf Lazy, der natürlich wieder einmal als Letzter hinter uns herkam. Ich konnte ihn nicht entdecken und ging noch einmal in den Tempel, um nach ihm zu schauen. In seiner ihm eigenen Art kam er mir entgegengewatschelt, die Füße patschten leise auf den Tempelboden und seine Ohren schlenkerten von einer Seite zur anderen. Das war schon ein Kerlchen.

Als ich mich umdrehte, um wieder rauszugehen, entdeckte ich aus den Augenwinkeln heraus etwas in der Hand einer der Statuen am Eingang. Neugierig ging ich hin und betrachtete das Ding. Es war ein kleines unscheinbares Täfelchen. Ohne darüber nachzudenken, nahm ich es und sah es mir an. „Vielleicht aus Blei“, überlegte ich. Es sah aus wie eines der hauchdünnen Schokoladetäfelchen, die ich so gern verputzte. Die Oberfläche war glatt. Ich hielt es gegen das durch den Eingang fallende Licht, aber es war nichts drauf geritzt oder gemalt.

Gerade wollte ich es zurück in die Hand der Statue legen, als ich auf einmal ein merkwürdiges Kribbeln unter meinen Fußsohlen verspürte. Das Kribbeln wurde zu einem Vibrieren und schlug plötzlich wie ein Stromstoß durch meinen ganzen Körper. Verblüfft sah ich, wie Lazy erst stehen blieb, dann kläffte und im nächsten Augenblick losrannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Ich dachte noch, wenn Lazy rannte, dann wurde es brenzlig. Der Boden unter mir fing an, sich zu bewegen. Kleine Stöße schienen aus der Tiefe zu kommen und am Fundament des Tempels zu rütteln. Wie gelähmt stand ich da. Jedes Denken schien ausgeschaltet. Ich spürte die Schläge unter mir immer härter werden. Dann sah ich mit Entsetzen, wie die Statuen im Innern des Tempels anfingen zu schwanken. Ich hörte ein Geräusch wie von einem vorbeifahrenden Güterzug und meinte, menschliche Schreie wahrzunehmen. Der mir so massiv erschienene Boden des Tempels kam in Bewegung! Fassungslos sah ich, wie aus der Weite des Tempels eine Welle aus Stein und Staub auf mich zukam. Wo sie entlang raste, kippten Statuen reihenweise um und zerplatzten mit ungeheurem Knall. Ich wollte weg, raus springen, ich wusste, ich musste mich in Sicherheit bringen, sonst würde ich sterben. Aber ich stand da und konnte den Befehl aus meinem Kopf nicht an meine Füße senden. Auf einmal krachte ein großer Teil der Decke ein, und das weckte mich endlich aus meinem Trancezustand. Ich sprang beiseite, um einem Trümmerstück auszuweichen, stolperte und schlug der Länge nach zu Boden. Dann hob und senkte sich der Tempel in einer wilden Zuckung, dass ich auf und nieder geschleudert wurde. Staub drang mir in die Nase, und Dutzende von kleinen Gesteinsbrocken prasselten auf mich herab. Ich hatte Todesangst. Der Tempel stürzte ein! Verzweifelt versuchte ich auf die Beine zu kommen. Aber wieder fiel ich hin. Der Staub drang mir jetzt auch in Mund und Augen und ich konnte nichts mehr sehen. Ich dachte nur noch, jetzt ist es aus. Ich hatte die Göttin erzürnt und musste sterben!

Die Zerstörung um mich herum war unvorstellbar. Ein Donnern herabstürzender Deckenteile dröhnte, und fürchterliche Geräusche aufreißenden Bodens erfüllten die Luft. Ich konnte nur noch die Arme schützend über meinen Kopf legen und warten, bis ich erschlagen oder durch einen Spalt in die Tiefe gerissen würde. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen. Da packte mich eine Hand schmerzhaft am Arm und riss mich hoch.

Raus!“, schrie Tommy. „Raus! Raus!“

Ein Schlag wie Kanonendonner ertönte. Eine der riesigen Wächterstatuen am Eingang direkt neben mir musste umgestürzt sein. Wächter! Wächter! Tommy riss mich mit sich fort. Ich stolperte blind und mit der Gewissheit des nahenden Todes mit ihm. Doch plötzlich wurde es hell, und ich riss trotz der brennenden Schmerzen die Augen auf. Wir waren im Freien! Der Abhang des Hügels, auf dem der Tempel stand, lag unter uns und wir rannten in panischer Angst seine Flanke hinunter. Ich stürzte und riss Tommy mit mir. Wir kullerten beide den Hang hinab ohne einen Halt zu finden. Als wir endlich liegen blieben, war ich es, der Tommy hochriss, und wir rannten weiter. Ich hörte Rufe wie von Ferne, und dann endlich sah ich wie durch Nebel Sanne und Janine, die uns verzweifelt anfeuerten und die wie wild mit den Händen hinter uns deuteten.

Erst als wir bei den Mädchen waren und glaubten, dass uns nichts mehr erschlagen oder mit sich reißen konnte, versagte mir die Kraft. Mit einem Mal bekam ich weiche Knie. Tommy und ich ließen uns da, wo wir standen, auf die Erde fallen. Ich hustete das zweite Mal an diesem Tag wie verrückt. Diesmal von dem Staub, den ich mit jedem Atemzug in die Lunge bekommen hatte. Nur langsam drangen die Rufe der anderen zu mir durch. Ewigkeiten später erst realisierte ich wirklich, was sie riefen.

Ein Erdbeben! Ein Erdbeben! Der Tempel stürzt ein!“

Ich hob den Kopf. Mit tränenverschleierten Augen sah ich, wie der vormals so unerschütterlich dastehende Tempel wankte. Die Säulen an den Längsseiten brachen wie Streichhölzer. Mit einem grausigen Knacken knickten sie ein und der Bau verlor endgültig seinen Halt. Mit gewaltigem Donnern fiel der Tempel in sich zusammen. Riesige weiße Wolken aus Staub stiegen zum Himmel und verschluckten, was sich dort, wo wir eben noch ein Geschenk der Göttin erhalten hatten, abspielte. Niemals zuvor hatte ich mich so schwach und hilflos gefühlt wie jetzt.

Ein Gedanke pochte unentwegt hämmernd in meinem Kopf: Hütet euch vor den Wächtern! Hütet euch vor den Wächtern...

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9783742746306
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