Czytaj książkę: «Das Buch der Gaben», strona 5

Czcionka:

Da hatte er ja gerade noch mal die Kurve gekriegt! Tommy und ich wechselten einen verschwörerischen Blick. Dann machten wir uns wieder auf den Weg.

*

Der See

Auf einmal ging alles sehr schnell. Mit jedem Meter, den wir vorankamen, wurde das fast schwarze Blau in der Ferne intensiver, wurde der Himmel über uns weiter. Doch noch etwas änderte sich: Auf einmal sahen wir rechts und links wieder ein Ende dieses unglaublich weiten Raumes. Ich stieß Tommy an und zeigte ihm das Phänomen.

„Schau mal, der Raum wird wieder kleiner!“

Zuerst war es nur an der abweichenden Färbung zu erkennen, dass der Horizont sich veränderte, doch dann schälten sich Umrisse aus der Ferne, die sich schnell zu gezackten Linien verdichteten.

„Was ist denn das?“, fragte Sanne.

„Sieht aus wie Berge“, antwortete Tommy.

Schweigend und unsere Blicke auf den seitlichen Horizont gerichtet, setzten wir weiter einen Fuß vor den anderen. Nur wenige Minuten später waren die Spitzen von Bergen zu erkennen, deren Ausläufer sich beinahe rasend schnell in unsere Laufrichtung hin zu verjüngen schienen. Verblüfft beobachteten wir, wie von beiden Seiten eine regelrechte Gebirgskette aus dem Nichts zu wachsen schien. Sie wirkte wie ein Trichter, der uns in sich aufsog, nur dass wir ja selbst in ihn hineinliefen. Es war unheimlich. Berge konnten nicht wachsen, doch es war niemals möglich, dass sie in den wenigen Minuten, die wir unterwegs waren, aus einer scheinbar unendlichen Weite auf uns zukommen konnten.

Die ganze Zeit über hatten wir diese Felsmassen beobachtet und dabei ganz und gar nicht mehr auf den Weg vor uns geachtet. Auf einmal schrie Janine überrascht auf.

„Hey, schaut doch mal! Ein See!“

Tatsächlich glänzte vor uns das Wasser eines Sees silbrig-rot im Widerschein des unirdischen Himmels. Ein feiner Schleier lag über der Oberfläche.

Wir konnten nicht glauben, was wir hier vor uns sahen. Je weiter wir vorankamen, desto mehr wandelte sich die Landschaft. Selbst die Luft um uns schien sich zu verändern. Sie roch auf einmal klarer, würziger. Ich beschloss, mich von nichts, aber auch von gar nichts mehr überraschen zu lassen.

Verblüfft erkannten wir, dass unsere Hunde an einem Strand aus realem Sand spielten. Lazy lag, wie sollte es anders sein, am Seeufer und ließ das Gehüpfe und Geknuffe von Jever über sich ergehen.

Langsam gingen wir vor bis zum Ufer. Fassungslos sahen wir, wie der See an vielen Stellen Blasen warf. Sogar ein Blubbern konnten wir hören. Der feine Schleier, den wir von weitem gesehen hatten, war Dampf, der von der Oberfläche aufstieg!

„Der See kocht ... “, flüsterte Sanne.

Es war einfach unglaublich. Wie in einem riesigen Kochtopf brodelte und sprudelte das Wasser. Manche Blasen sprangen regelrecht in die Höhe und zerplatzten über der Oberfläche mit einem hässlichen Geräusch.

„Das kannst du wohl sagen!“, meinte Tommy atemlos. „Und wie der kocht!“

„Wir scheinen am Ende angelangt zu sein“, murmelte Sanne bedrückt.

„Möglich“, sagte Tommy und stellte seinen Rucksack in den Sand. „Aber das werden wir erst noch herausfinden müssen.“

Tommys Blick wanderte über den See, und er kniff die Augen zusammen. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse und suchte die Felsen nach irgendwelchen Hinweisen ab, die uns vielleicht weiterhelfen könnten. Schließlich grinste er und nickte mir zu.

„Joe, du musstest doch vorhin so nötig, da hinten scheint eine kleine Höhle zu sein, vielleicht kannst du es da ja mal versuchen!“

Ich folgte seinem Blick und entdeckte sofort eine Art Einkerbung in den senkrecht nach oben aufragenden Felsen, die tatsächlich auf eine Höhle hindeutete. Ich war hin und her gerissen von der Aussicht, endlich Erleichterung zu finden oder aber von einem dort vielleicht lauernden grausamen Untier in die Höhle gezogen zu werden.

„Kommst du mit?“, wagte ich einen schwachen Versuch.

„Nein!“, lachte er. „Wird dir schon niemand was abbeißen!“

„Dann gib’ mir aber wenigstens deine Taschenlampe. Ich glaub’, dann ist mir ein bisschen wohler.“

Die anderen schauten mich mit verständnisvollen Augen an, etwa so, als erwarteten sie, dass sie mich vielleicht nie mehr wiedersehen könnten. Schöne Freunde.

Tommy suchte die Lampe aus seinem Rucksack und reichte sie mir.

„Hier. Aber bleib nicht so lange. Schau nur nach, ob die Höhle vielleicht noch weiter rein führt. Möglicherweise gibt es dort einen Weg für uns. Ach ja ... “, sagte er dann mit einem verschmitztem Lächeln, „Irgendwann werden wir alle mal müssen!“

Das gab mir allerdings wenig Trost, war ich ja schließlich der erste, den es traf. Während ich mich mit gemischten Gefühlen zur Höhle aufmachte, setzten sich die anderen am Ufer in den Sand und schauten auf den See hinaus.

Dann stand ich direkt unter den hoch aufragenden Felsmassen und betastete das Gestein. Es war völlig eben, fast wie glattpolierter schwarzer Marmor. Wir konnten nicht im Traum daran denken, hier vielleicht raufklettern zu können.

Ich knipste die Taschenlampe an, nahm all meinen Mut zusammen und machte vorsichtige Schritte in die Höhle hinein. Doch drinnen erwartete mich nicht die Spur einer Überraschung. Die Auskerbung im Fels, die wir als Höhle bezeichnet hatten, war vielleicht gerade mal zehn Quadratmeter groß. Langsam schritt ich die Wand ab. Der kleine Raum war fast kreisförmig, und in seinen Wänden fand sich nicht der geringste Hinweis auf eine Geheimtür oder sonst was, das mich vielleicht hätte aufmerken lassen.

Schließlich klemmte ich mir die Taschenlampe unter den Arm, stellte mich in eine Ecke und tat das, weshalb ich hier eigentlich reingekommen war. Als ich fertig war und die Hose wieder zumachte, kam mir auf einmal der Gedanke, dass der Raum hier genau für diesen Zweck aus dem Fels gehauen worden sein mochte. So eine Art Klo in der dritten Dimension! Ich musste lachen, und das hallte so schaurig hohl in diesem Raum wider, dass ich verstummte und machte, dass ich wieder rauskam und zu den anderen zurück rannte.

Während ich weg war, hatte Tommy den Rucksack ausgepackt, die beiden Handtücher ausgebreitet und die Mineralwasserflaschen und die Chipstüten draufgelegt. Meine drei Begleiter saßen bereits gemütlich in der Runde und warteten nur noch darauf, dass ich das Picknick vervollständigte. Ich musste den Kopf schütteln über so viel Gelassenheit in dieser Umgebung, setzte mich aber dazu.

„Die Höhle ist nichts als ein Loch zum Pipi machen“, sagte ich. „Ihr habt Nerven, setzt euch in den Sand, als wären wir im Urlaub. Wir sind doch nicht auf Mallorca!“

„Auch hier müssen wir was zu uns nehmen, und außerdem wird mir der blöde Sack doch langsam zu schwer“, sagte Tommy und riss eine Chipstüte auf. Dann reichte er Janine eine von den Flaschen.

„Teilt die gerecht. Ach ja, und hebt was für die Hunde auf. Das kochende Wasser aus dem See können sie ja leider nicht trinken.“

Wir teilten uns die Chips und das Wasser und schauten dabei schweigend auf den See hinaus. Nach einer Weile kramte Tommy das Fernglas aus seinem Rucksack heraus und stand auf. Dann ging er vor bis zum Ufer und suchte mit dem Glas vor den Augen den See ab. Er drehte sich langsam halb um seine Achse und fixierte dabei den Horizont. Plötzlich hielt er inne und stellte die Schärfe des Glases an dem in der Mitte befindlichen Rädchen neu ein. Dann pfiff er leise durch die Zähne.

„Was hast du entdeckt?“, fragte Janine und sprang auf die Füße. Auch Sanne und ich standen auf und stellten uns neben Tommy. Ich versuchte angestrengt, etwas am anderen Ende des Sees zu erkennen, aber durch den Nebelschleier war die Linie am Horizont nicht scharf, sondern waberte auf und ab.

„Da hinten stehen Bäume“, sagte Tommy. „Sieht aus wie ein richtiger Urwald.“

Ich fühlte eine unerklärliche Unruhe in mir aufsteigen.

„Gib doch mal her“, drängte Sanne und nahm ihm das Fernglas aus der Hand. Ungeduldig, dass sie es nicht gleich scharf bekam, stampfte sie mit einem Fuß in den Sand.

„Du hast Recht. Ein Wald.“

„Was nutzt uns dort drüben ein Wald?“, fragte Janine. „Was wir brauchen, ist ein Weg, der uns hier rausführt. Und wenn wir den nicht bald finden, werden sich unsere Eltern Sorgen machen.“

Sanne nickte, während sie das Glas immer noch angestrengt an die Augen presste.

„Ja, und wenn’s draußen dunkel wird, werden sie die Polizei anrufen.“

Das Wort draußen versetzte mir einen kleinen Schock. Was passierte während unserer Abwesenheit draußen? Wurde es bereits dunkel? Nein, solange waren wir nun auch noch nicht fort. Ich sah auf meine Armbanduhr. Sechs Minuten nach vier. Das konnte nicht sein. Wir waren gegen drei von zu Hause aufgebrochen, und dann hatten wir ja noch eine ganze Weile im Garten verbracht. Es musste mindestens sechs Uhr sein.

Ich schüttelte mein Handgelenk und hielt mein Ohr ans Zifferblatt. Na okay, sie war stehen geblieben.

„Weiß jemand, wie spät es ist?“, fragte ich in die Runde. „Denn wenn wir bis neun nicht zu Hause sind, wird’s brenzlig.“

Die einzige, die außer mir noch eine Uhr bei sich trug, war Janine. Sie warf einen Blick darauf, runzelte die Stirn und schüttelte dann ihr Handgelenk. Noch bevor sie den Mund aufmachte, wusste ich, was sie sagen würde.

„Kurz nach vier. Meine Uhr ist stehen geblieben.“

„Meine auch!“, rief ich lauter, als ich wollte.

„Hm“, machte Tommy. „Vielleicht befinden wir uns in einer Art Raum- und Zeitfalte. Nach Einstein hängen Raum und Zeit eng miteinander zusammen. Vielleicht vergeht die Zeit in dieser Welt viel langsamer als in unserer.“

„Oder gar nicht ... “, flüsterte Sanne.

„Keine Angst“, beruhigte sie Tommy. „Einen Stillstand der Zeit kann ich mir nicht vorstellen.“

Sanne reichte das Fernglas weiter an Janine, und auch sie konnte einen Wald am anderen Ufer des Sees erkennen.

„Ein richtiger dichter Urwald. Völlig undurchdringlich“, murmelte sie vor sich hin, und die anderen nickten zustimmend. Schließlich hielt auch ich es nicht mehr aus und nahm Janine das Glas ungeduldig aus der Hand.

Die Wipfel der Urwaldgiganten sprangen mir förmlich ins Auge. Es sah wunderschön aus. Das Ganze erinnerte an Afrika. Langsam wanderte mein Blick am anderen Ufer entlang. Vielleicht konnte ich Tiere entdecken. Doch dann sah ich etwas völlig anderes, etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

„Ein Weg!“, rief ich überrascht, und die anderen neben mir schraken zusammen.

„Ein Weg?“ Tommy runzelte die Stirn. „Dann siehst du mehr als ich. Einen Weg habe ich nirgends entdeckt. Außerdem kann man das bei der Entfernung doch gar nicht erkennen.“

„Das ist doch nicht weit“, sagte ich. „Die Bäume sind doch zum Greifen nah. Da ist ein Weg! So was wie ein breiter Pfad. Genau in der Mitte. Du brauchst nur geradeaus schauen.“

Mit diesen Worten reichte ich ihm das Glas, und nachdem ich es abgesetzt hatte, konnte ich plötzlich auch ohne das Ding eine grüne Linie am Horizont sehen. Verblüfft stellte ich fest, dass ich sogar einzelne Bäume unterscheiden konnte. Ich sagte nichts, beobachtete aber verstohlen die anderen, ob auch sie etwas bemerken würden.

Im nächsten Moment schrie Janine auf und zeigte mit dem Arm zum Horizont.

„Die Bäume! Sie kommen näher!“

Tommy senkte das Fernglas und kniff die Augen zusammen.

„Wie ist das möglich?“, flüsterte er.

Wie festgewurzelt standen wir nebeneinander im Sand und sahen zu, wie der jetzt dunkelgrüne Horizont auf uns zuwuchs. Gebannt starrten wir auf die grüne Linie, die sich Sekunde für Sekunde vergrößerte. Ich bekam ein unbändiges Verlangen, mich umzudrehen und zurück zu rennen. Nur weg von hier. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dieser gewaltige Wald den See aufstauen musste und eine riesige Flutwelle kommen und uns alle zerschmettern oder verbrühen würde. Doch nur kleine dampfende Wellen schwappten ans Ufer. Ich schaute auf die Hunde. Jever und Lazy lagen im Sand. Müde vom Herumtoben und mit heraushängenden Zungen hechelten sie um die Wette. Die beiden hatten wahrlich keine Angst.

„Gut“, beschloss ich in Gedanken, „dann hast du auch keine.“

Inzwischen war die Front des Waldes bis auf wenige hundert Meter an uns herangekommen. Gigantische Bäume ragten in den Himmel. Sie verflochten ihr Blattwerk so ineinander, dass wir nicht einmal einzelne Stämme erkennen konnten. Nur die Wipfel waren nicht in einer Höhe. Der eine oder andere Baum überragte die anderen noch.

„Ich hab Angst!“, sagte Sanne zitternd und griff Tommys Hand.

Tommy schien ruhig wie immer. Ich dagegen hatte jetzt doch einen riesigen Kloß im Hals.

„Das gleiche Phänomen wie vorhin, als der Raum weit und dann wieder enger wurde und die Berge auf uns zukamen“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Die Berge sind stehen geblieben, und das werden die Bäume auch. Du wirst sehen.“

Es war unglaublich. Die Oberfläche des Sees veränderte sich nicht im Geringsten, während der Wald auf uns zukam. Es war schon lange kein riesiger, wie ein Meer wirkender See mehr, der da vor uns lag. Inzwischen war sein Umfang vielleicht auf die Größe eine Badesees geschrumpft. Schon bekam ich die Hoffnung, dass das Wasser ganz verschwinden und der Wald uns einfach so in sich aufnehmen und den Weg zeigen würde. Doch ich wurde enttäuscht.

Als das andere Ufer vielleicht noch einhundert Meter von uns entfernt lag und wir schon zu den Bäumen aufschauen mussten, so riesig wuchsen sie in den Himmel, kam die Bewegung zum Stillstand. Ehrfurchtsvoll standen wir da und versuchten, dieses Wunder auf uns einwirken zu lassen.

„Sieht so aus, als sollen wir durch das Wasser“, sagte Tommy. „So wie ich das sehe, müssen wir uns was ausdenken. Das Haus führt uns einen bestimmten Weg. Wir sollen hier durch, und wir müssen hier durch. Ein Zurück gibt es nicht.“

„Ach ja?“, fragte Janine ironisch. „Du willst durch einen kochenden See schwimmen?“

„Ja, ich weiß, dass das Blödsinn ist“, meinte Tommy hilflos. „Aber die glatten Felsen können wir nicht hochklettern, und zurückgehen macht auch keinen Sinn. Vielleicht müssen wir nur eine Weile warten, bis sich das Wasser abgekühlt hat.“

Ein, zwei Minuten vergingen, in denen wir schweigend über das Gesagte nachdachten. Während wir noch unsicher dastanden und uns nicht rührten, passierte auf einmal etwas, was uns zu Tode erschreckte. Jever und Lazy hatten die ganze Zeit über platt im Sand gelegen und um die Wette gehechelt. Doch bei Tommys letzten Worten sprang Jever plötzlich auf und rannte zum Ufer hinunter. Tommy wirbelte herum und brüllte seinem Hund hinterher. Doch Jever hörte nicht auf sein Herrchen, und ehe wir uns aus unserer Erstarrung lösen konnten, sprang er mit allen vier Beinen voran in das dampfende Wasser und begann, mit seiner rosa Zunge gierig das kochend heiße Wasser aufzuschlabbern.

Stumm vor Schreck wartete ich darauf, dass der kleine Hund vor Schmerz aufjaulen musste. Doch nichts geschah! Er schlabberte einfach weiter vor sich hin. Vollkommen verblüfft schaute ich von Jever zu Tommy und wieder zurück.

Tommy haute mir auf die Schulter und grinste mich an. Dann wandte er sich zu den völlig verdutzten Mädchen.

„Na, Janine ... ? Wie sieht’s aus? Kommst du mit, ein bisschen baden?“

„Du meinst ... ?“ Janine bekam große Augen.

„Ich meine, der See sieht nur so aus, als würde er kochen. Vielleicht sind es nur Luftblasen, die vom Boden aufsteigen.“

„Aber der Dampf ... “, meinte ich hilflos.

Tommy zuckte die Schultern.

„Lasst es uns einfach mal testen. Jever scheint sich doch richtig wohl zu fühlen.“

Der Kleine stand jetzt bis zum Bauch im Wasser und schaute mit schiefgelegtem Kopf zu uns herüber. Tommy fackelte nicht lange und begann, seine Schuhe auszuziehen.

„Los, kommt mit!“

Ich bekam weiche Knie, als ich an das Wasser dachte und daran, dass Tommy da mit uns rein wollte. Nicht deswegen, weil es vielleicht heiß sein konnte. Nein. Ich konnte nicht schwimmen. Ich hatte eine unendlich große Angst vor dem Wasser. Keine zehn Pferde würden mich in diesen See bekommen. Mit einem mulmigen Gefühl sah ich zu, wie sich die anderen ihrer Schuhe, Strümpfe und Jeans entledigten.

Aber dann sagte ich mir es ist nur mit den Füßen, das kannst du! Also zog ich mir ebenfalls die Schuhe und die Jeans aus und folgte meinen Freunden zögernd zum Ufer.

Tommy tippte schon mit den Zehen aufs Wasser, und an seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass es nicht heiß sein konnte. Schließlich machte er einen großen Schritt und stand bis zu den Knöcheln im See. Mit einem triumphierenden Lächeln drehte er sich um.

„Schön warm! Absolut keine Gefahr. Kommt rein!“

Sanne und Janine zögerten keine Sekunde, und ich bewunderte ihren Mut. Sie nahmen sich an der Hand und wateten bis zu den Knien ins Wasser. Jetzt war es sicher: Die brodelnde Hitze war nichts als Illusion gewesen!

Tommy blickte mich auffordernd an.

„Was ist mit dir? Nun komm schon!“

Vorsichtig tastete ich mich ins flache Wasser. Tiefer rein als mit den Füßen wollte ich auf keinen Fall. Das Wasser umspielte träge meine Knöchel. Es war wunderbar warm. Ich konnte es nicht glauben.

„Jever“, rief Tommy fröhlich, „du bist einfach klasse! Der See war nur ein Rätsel, und du hast es gelöst!“

Jever schien das Lob zu verstehen und patschte übermütig im flachen Wasser herum. Und dann sagte Tommy etwas, bei dem mir der Schrecken in alle Glieder fuhr.

„Wir ziehen die Klamotten aus und packen sie in den Rucksack. Der ist wasserdicht. Die Flaschen und die Tüten lassen wir hier. So müssten wir eigentlich durchkommen.“

Die Mädchen bekamen große Augen.

„Ich zieh’ mich auf keinen Fall aus! Ihr wollt nur schmulen!“, murrte Sanne.

„Ohne meinen Badeanzug gehe ich da nicht rein!“, ergänzte Janine.

Tommy lachte. „Keine Angst! Ich wollte auch nicht nackt da durchschwimmen! Außerdem kriege ich sowieso nicht alle Klamotten hier rein. Behalten wir eben unsere T-Shirts und die Unterwäsche an. Damit dürfte es auch gehen. Den Rest verpacke ich im Rucksack. Kalt ist es jedenfalls nicht. Wenn wir wieder raus sind, werden die Sachen bestimmt schnell trocknen. Und außerdem haben wir ja noch die Handtücher.“

Ich musste bei seinen Worten kreidebleich geworden sein, denn Tommy schaute mich erschrocken an.

„Was hast du, Joe?“

Ich fühlte mich auf einmal entsetzlich klein. Klein und feige. Ich schluckte ein paar Mal kräftig, um die Tränen zu bekämpfen, die in meine Augen schossen.

„Ich ... ich kann nicht schwimmen.“

Janine und Tommy schauten mich überrascht an, aber ehe sie etwas sagen konnten, kam mir meine Schwester zu Hilfe.

„Er wäre um ein Haar einmal ertrunken. Wir haben damals im Schwimmbad im Kinderbecken gespielt. Da konnte man nicht untergehen, es war ja ganz flach. Deshalb haben uns unsere Eltern auch einige Minuten nicht beobachtet. Doch dann kamen größere Jungs und wollten unseren Ball haben. Joe wollte ihn nicht herausrücken und da haben die ihn ... da haben die ihn ... “ Sanne stockte.

„Da haben sie mich unter Wasser gedrückt“, sagte ich. „Immer wieder. Ich hab Wasser geschluckt und gespuckt, und es tat unheimlich weh in der Lunge. Ich hab unter Wasser noch Sanne gesehen, wie sie auf einen der Kerle eingeschlagen hat, und irgendwann wurde mir schwarz vor Augen.“

Sanne nickte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da hab ich so laut geschrien, dass dann doch Erwachsene aufmerksam wurden. Der Bademeister hat Joe wiederbelebt.“

Sanne schwieg, und die anderen blickten mich betroffen an.

„Hast du überhaupt Schwimmen gelernt?“, fragte Janine mich mit großen Augen.

„Nein“, antwortete ich ehrlich. „Jedenfalls nicht richtig. Ich bekomme schon bei dem Wort Strandurlaub eine Gänsehaut, wenn meine Eltern mal davon anfangen.“

„Und wenn du hier wartest? Wir schwimmen rüber und erkunden das andere Ufer. Dort gibt es doch jede Menge Bäume, vielleicht können wir eine Art Floß bauen.“

Ein Schauer der Erleichterung durchflutete meinen Körper, und ich schaute Janine dankbar an.

„Hm, keine schlechte Idee“, meinte Tommy. „Was meinst du dazu, Joe?“

Ich war hin und her gerissen. Einerseits war ich heilfroh, nicht in dieses dunkle Wasser zu müssen, andererseits machte mir die Aussicht, allein hier zu bleiben, auch gewaltig Angst.

„Ich weiß nicht. Was ist, wenn der Wald sich wieder entfernt, wenn ihr auf der anderen Seite seid? Dann sehe ich euch vielleicht niemals mehr wieder!“

In den Gesichtern der anderen spiegelte sich Erschrecken. An diese Möglichkeit hatten sie wohl nicht gedacht. Ich war ja auch derjenige, der allein blieb!

„Du hast doch Lazy“, sagte Janine hilflos.

„Schöner Trost“, murmelte ich und betrachtete meinen platt im Sand liegenden Hund, der anscheinend mal wieder eingenickt war. So lieb ich ihn hatte, als Wachhund oder Beschützer taugte er rein gar nichts. Nein, allein mit Lazy wollte ich nicht in dieser Welt zurückbleiben. Flehend sah ich von einem zum anderen.

„Ich bleibe bei ihm!“, rief Sanne und watete neben mich. „Wir waren damals zusammen, und wir bleiben jetzt zusammen.“

Während ich meine Schwester dankbar anblickte, lächelte mir Tommy zu.

„Danke, Sanne. Ich hatte den gleichen Gedanken. Es wird am besten sein, wenn wir uns aufteilen. Janine kommt mit mir rüber. Ich hoffe nur, dass wir es auch allein schaffen, was zusammenzubasteln.“

Während er das noch sagte, bekam sein Gesicht auf einmal einen erstaunten Ausdruck.

„Was ist?“, entfuhr es mir.

„Seht doch!“, rief er und zeigte nach unten.

„Ich seh deine Beine!“, rief ich verblüfft. Ich traute meinen Augen kaum. Die Farbe des Sees war in ein helles Grün übergegangen. Als ich wieder auf den See hinaus schaute, wirkte das Wasser auf einmal wie sanft wogendes Glas.

„Und ich seh den Boden!“, sagte Sanne aufgeregt. „Alles ganz fein und weiß!“

Während wir anderen voll innerer Spannung auf das Wasser starrten, machte Tommy ein paar vorsichtige Schritte weiter in den See hinein. Meter für Meter ging er weiter, bis er schließlich bis zu den Oberschenkeln im Wasser stand und sich zu uns umdrehte.

„Total weicher Sandboden!“, rief er uns über die Schulter hinweg zu. „Außerdem ist es überhaupt nicht tief. Vielleicht kannst du doch mitkommen, Joe.“

Plötzlich tapste Tommy ohne die geringste Vorwarnung durch das Wasser zurück zum Strand und nestelte an seinem Rucksack herum. Vor lauter Ungeduld, dass er nicht sofort fand, was er suchte, stellte er schließlich den Sack auf den Kopf und schüttelte den Inhalt heraus. Als Letztes plumpste das Fernglas in den Sand. Leise fluchend hob Tommy es auf und befreite die Gläser von den feinen Sandkörnern. Ich dachte, er würde jetzt mit Hilfe des Glases nach irgendetwas suchen, doch zu meiner großen Überraschung winkte Tommy mir zu.

Ich stapfte ebenfalls aus dem Wasser, und Sanne und Janine folgten mir neugierig. Tommy reichte mir das Fernglas rüber.

„Du hast doch vorhin einen Weg auf der anderen Seite gesehen. Findest du ihn noch?“, fragte er voller Ungeduld.

Ich sah hinüber zum anderen Ufer und begann, an Tommys Geisteszustand zu zweifeln.

„Dazu brauch ich doch kein Glas. Den sieht doch jeder! Da, genau gegenüber ... in der Mitte!“

Tommy suchte angestrengt das andere Ufer ab. Seine Augen wanderten von einem Ende des Sees zum anderen. Dann nahm er mir das Glas wieder aus der Hand, hob es vor die Augen und suchte mit seiner Hilfe noch einmal das Gelände auf der anderen Seite ab. Schließlich wandte er sich wieder zu mir um, und ich las in seinen Augen so etwas wie Ungeduld.

„Einer von uns beiden muss Tomaten auf den Augen haben“, sagte er mit einem leicht ärgerlichen Unterton. „Wenn da ein Weg ist, darfst du mich Thomas nennen.“

„Na, lieber Thomas“ lachte ich, „das tut mir dann aber Leid, dass du deinen Namen wechseln willst. Aber wo ein Weg ist, ist ein Weg. Ich bin doch nicht blöd.“

Sanne und Janine sahen uns fragend an. Ich dachte, die beiden würden mich bestätigen. Aber ich hatte mich geirrt.

„Joe ... “, sagte Janine, „fühlst du dich nicht gut? Hast du Kopfschmerzen?“

Ich dachte, ich hör nicht richtig. Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Ich fuhr ein wenig zu heftig zurück, und Janine erschrak vor meinem Ausbruch. Sofort tat es mir Leid, aber ich war inzwischen schon ganz schön sauer.

„Hör mal, was soll das? Ich brauche dir nicht Leid zu tun, ich gehe sowieso nicht durch den See! Sanne ... was ist mit dir? Siehst du etwa auch nichts?“

Ich sah Sanne ihren Zwiespalt an, ihren Bruder nicht verletzen zu wollen und doch bei der Wahrheit zu bleiben. Aber ihre Antwort war ganz und gar nicht in meinem Sinne.

„Joe ... es tut mir Leid, aber da ist nur Wald. Dichter, undurchdringlicher Wald von einem Ende zum anderen.“

Sprachlos starrte ich über den See auf den Urwald, die mitleidigen Blicke meiner Kameraden neben mir sehr wohl spürend. Ich war langsam am Verzweifeln. Konnte es sein, dass sie Recht hatten?

„Nehmen wir einmal an, nur Joe kann den Weg sehen. Was dann?“, fragte Sanne leise.

Drei Augenpaare richteten sich auf meine Schwester.

„Wie meinst du das?“, fragte Tommy, und in seinem Kopf arbeitete es. Ich sah hilflos von einem zum anderen.

„Ach nichts. Ich dachte nur gerade, dass Joe als einziger nicht durch das Wasser möchte, aber als einziger einen Weg sehen kann...“

Sie stockte, als Tommy bei ihren Worten die Arme vor der Brust verschränkte.

„Du meinst ... “, murmelte Tommy, „ ... er soll zuerst durchs Wasser?“

Ich bekam weiche Knie. Niemals! Mit ganz anderen Augen schaute ich jetzt wieder hinüber und hoffte auf ein Wunder.

Der Weg war noch da.

„Tja, Josef ... “, machte Tommy, „dieser Einfall von Sanne ist nicht von der Hand zu weisen.“

Fieberhaft überlegte ich, was ich alles für Argumente anbringen konnte, um die anderen von dieser Idee abzubringen. Wir könnten zurückgehen. Wir könnten versuchen, einen Weg über die Berge zu finden. Wir könnten ...

„Zurück können wir nicht“, sagte Janine, „wir würden nicht einmal annähernd die Richtung finden.“

„Und die Berge verstellen uns die anderen beiden Seiten. Außerdem sind ihre Wände so glatt, dass wir niemals Halt finden würden“, ergänzte Tommy.

Na toll. Einen Weg konnten sie nicht sehen, aber Gedankenlesen, das konnten sie!

„Ich habe Angst, da durch zu müssen“, murmelte ich.

„Hast du auch Angst davor, nur mit den Füßen ins Wasser zu gehen? So wie vorhin?“, fragte Tommy.

Was für eine harmlose Frage, und doch war es in diesem Moment die grausamste auf der Welt. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Natürlich würde ich mit den Füßen reingehen.

„Pass auf“, sagte Tommy, „ich mach’ dir einen Vorschlag. Wir gehen wieder mit den Füßen ins Wasser und warten ab, was passiert. Wir bleiben dicht zusammen. Wenn du Panik kriegst, rennen wir mit dir zurück ans Ufer.“

„Nur mit den Füßen im Wasser kann ich ja wohl noch alleine raushüpfen“, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. Im gleichen Augenblick merkte ich, dass ich mich selbst reingelegt hatte. Schon hatte ich zugestimmt, wieder in den See zu gehen! Verdammt.

„Gut, egal. Trotzdem kann ich ja dicht bei dir bleiben.“

Ich dachte, das kann ich machen. Ich geh ein kleines Stück rein und wieder raus, und das war’s dann. Es ist nichts dabei. Es ist nichts dabei. Ich traf eine Entscheidung.

„Gut. Ich mach’s!“

Ich tat drei energische Schritte und stand mit beiden Füßen bis zu den Knöcheln im Wasser.

„Halt!“, rief Tommy lachend. „Wir müssen erst noch unsere Sachen packen!“

Sofort begann er, unsere Jeans schön sorgfältig zu falten und im Rucksack zu verstauen. Die Schuhe passten beim besten Willen nicht mehr rein, und nach ein paar Sekunden Nachdenken verknotete Tommy die Schnürsenkel, hängte sich sein Paar um den Hals und reichte uns unsere Schuhe.

„So kriegen wir sie vielleicht rüber, ohne dass sie nass werden.“

Als Letztes nahm Tommy die Machete auf. Dann blickte er mir in die Augen.

„Und? Bist du soweit?“

Ich hatte mich da reingerannt, was blieb mir jetzt noch anderes übrig? Ich fühlte mich so allein wie noch nie zuvor in meinem Leben. Doch meine Freunde blickten mich voller Erwartung an, und Janine hielt mir ihre gedrückten Daumen hin. Ein letztes Mal sah ich hinüber ans andere Ufer. Der Weg war noch da. Und vielleicht führte er uns hier hinaus.

Ich bekam einen trockenen Mund, aber ich nickte. Dann kamen die anderen zu mir ins Wasser, und wir nahmen uns alle an den Händen. Ich hielt die Luft an und schloss die Augen. Ich dachte, mit geschlossen Augen brauchte ich das Wasser wenigstens nicht sehen. Ich hörte, wie das Blut in meinen Adern an den Schläfen pulsierte, nahm Tommys Atemzüge neben mir wahr und das Hecheln von Jever und Lazy. Krampfhaft versuchte ich, mich auf meine Füße zu konzentrieren. Weitere Sekunden vergingen, und ich spürte, wie sich meine Zehen in den weichen Sand krallten. Dann gingen wir langsam los und setzten in Zeitlupe einen Fuß vor den anderen.

Ich machte langsame Schritte, das heißt, eigentlich schlurfte ich auf dem Sandboden entlang, um ja nicht den Halt zu verlieren. Fuß um Fuß setzte ich voraus, und immer weiter stieg mir das Wasser am Körper empor. Ich dachte nur an meine Freunde. Und an mich. An den Augenblick, bevor mich damals die Jungs unter Wasser gedrückt hatten. Sanne und ich hatten so viel Spaß gehabt in dem Becken. Nur daran wollte ich denken. Wasser ist gut. Wasser ist gut. Wasser ist gut...

Und dann tat ich etwas, das ich bis heute nicht verstehe. Ich machte die Augen auf, fixierte den drüben aus dem dichten Wald tretenden Pfad und ging Schritt für Schritt, Tommy an der einen, Janine an der anderen Hand, auf das gegenüberliegende Ufer zu. Das Wasser stieg an meinem Körper immer höher, aber ich bemerkte es nicht.