Czytaj książkę: «Das Buch der Gaben», strona 10

Czcionka:

Verwünscht

Das erste, was ich spürte, war die Veränderung der Temperatur. Als ich raus kam, war es deutlich kühler. Ich fing an zu frösteln, und meinen gesamten Körper erfasste eine Gänsehaut. Immer noch hielt ich die Augen geschlossen, alle Sinne bis zum Äußersten angespannt. Ich wartete darauf, dass die anderen endlich auftauchten. Die zwei, drei Sekunden, die es dauerte, dehnten sich qualvoll. Ein tapsendes Geräusch verriet mir, dass Jever irgendwo in meiner Nähe rumgeisterte.

„Es ist stockdunkel“, flüsterte jemand neben mir. Zu Tode erschrocken riss ich die Augen auf. Es musste Janine sein, die neben mich getreten war. Ich erkannte sie nur an ihrer Stimme, denn zuerst sah ich wirklich rein gar nichts.

„Das war das letzte Mal, dass ich vorgegangen bin“, sagte ich. „Wo sind die anderen?“

„Hier“, kam es links von mir von Tommy, und schon spürte ich auch Sanne neben mich treten. Vorsichtig setzte ich Lazy ab und merkte dabei, dass der Boden aus Sand bestehen musste. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich konnte schemenhafte Umrisse in der Umgebung ausmachen. Wieder einmal spürte ich, wie sich mein Magen zusammenzog. Wo waren wir?

„Ist das wieder eine Prüfung?“

„Das glaube ich nicht, Sanne.“ Tommys Stimme klang ruhig wie immer. „Ich bin sicher, dass die Kammer der letzte Ort in dieser anderen Welt war. Wir sind wieder draußen. Das merkst du schon an der Temperatur. Außerdem ist es dunkel, und das war es die ganze Zeit über da drin nicht. Und es riecht anders.“

„Ja“, kam es von Janine. „Und wisst ihr was? Ich glaube, ich weiß, wonach es riecht!“

Angestrengt versuchten wir, die Gerüche um uns herum zu deuten. Und auch mir dämmerte es langsam.

„Es riecht nach Wiese und Wald. Und nach Sommer. Wie zu Hause!“

„Wir sind auf dem Grundstück!“, rief Tommy. „Dreht euch doch mal um! Hinter euch ist das Haus!“

Wir drehten uns nicht um, wir fuhren herum! Zwei Schritte entfernt sah ich im fahlen Licht der Nacht eine Wand vor mir, dunkel und furchteinflößend. Hastig blickte ich nach rechts und nach links. Obwohl es noch immer sehr dunkel war, erkannte ich das Ende der Hauswand deutlich. Kein Zweifel, das musste unser geheimnisvolles Haus in der Welfenallee sein!

„Du hast Recht, wir sind wieder draußen“, sagte ich langsam. „Und ich glaube, wir sind auf der Rückseite.“

„Wartet!“ An den Geräuschen, die Tommy jetzt verursachte, hörte ich, dass er seinen Rucksack von der Schulter nahm, ihn auf dem Boden absetzte und die Schnalle des Verschlusses öffnete. Dann wusste ich, wonach er suchte.

„Pass auf, wenn du die Taschenlampe anmachst! Am besten hältst du die Hand davor.“

Ob Tommy nickte, konnte ich nicht sehen, aber als das Klicken des Schalters ertönte, sahen wir nur einen gedämpften Lichtschimmer ein Gebüsch genau vor uns erleuchten. Jetzt hatten wir den endgültigen Beweis, dass wir wieder draußen waren.

„Nimm du mal den Rucksack“, sagte Tommy zu mir. „Ich geh vor. An der Wand lang können wir ja nicht wegen der Brombeeren.“

Einer nach dem anderen folgten wir Tommy und tasteten uns den schmalen Pfad entlang. Über die Wiese gingen wir langsam und vorsichtig, um nicht über irgendetwas zu stolpern. Als wir die andere Seite erreichten, tauchte auf einmal ein Licht auf.

„Eine Laterne!“, rief Sanne gedämpft. „Da ist die Straße!“

Tommy machte seine Lampe wieder aus, denn jetzt hatten wir genug Licht, um unsere Umgebung zu erkennen. Außerdem könnte es mehr als unangenehm werden, wenn uns ein Nachbar hier entdecken und für Einbrecher halten würde. Erleichterung durchflutete mich. Wir waren wieder zu Hause! Doch gleich bekam ich einen herben Dämpfer.

„Es ist mitten in der Nacht!“ Janine klang verzweifelt. „Wir werden fürchterlichen Ärger bekommen!“

Ich sah nach oben und erblickte einen Sternenhimmel. Es musste mehr als spät sein, denn im Juli war es manchmal bis elf Uhr hell. Unwillkürlich sah ich auf die Uhr. Ich konnte das Leuchtzifferblatt ganz deutlich ablesen und bekam große Augen.

„Nach Mitternacht!“, rief ich aufgeregt. „Meine Uhr geht wieder!“

„Meine auch!“, sagte Janine verblüfft. „Genau fünf nach zwölf!“

„Dann haben wir ein Problem“, sagte Tommy ernst. „Unsere Eltern werden sterben vor Angst. Und wenn sie schon die Polizei gerufen haben ... “

„Was machen wir denn jetzt?“ Ich merkte Sanne ihre Verzweiflung an, und auch ich mochte gar nicht daran denken, wie meine Mutter mich wohl ansehen und was unser Vater wohl sagen würde.

„Wir haben keine Wahl“, sagte Tommy ruhig. „Wenn wir hier stehen bleiben, wird es nur noch später. Wir müssen sofort nach Hause. Vielleicht fällt uns noch was ein, was wir unseren Eltern erzählen. Denn dass wir in einer anderen Dimension waren, glauben die uns niemals!“

Au verdammt! Für einen kurzen Moment überkam mich das unbändige Gefühl, doch lieber wieder in der Welt zu sein, aus der wir gerade gekommen waren. Meiner Mutter gegenübertreten zu müssen und ihr zu erklären, wo wir denn mitten in der Nacht herkamen, war noch schlimmer als in einen unheimlichen See zu steigen. Doch natürlich war mir klar, dass ich das damit nur aufschieben würde. Ich würde nicht darum herumkommen.

Ich hörte leise jemanden schluchzen. Janine! Wir anderen kannten ja ihre Eltern nicht, und vielleicht hatte sie einen noch viel strengeren Vater als ich.

„Wenn du willst, komme ich mit zu dir und nehme alle Schuld auf mich“, sagte Tommy leise.

„Nein, nein“, wehrte Janine ab. „Das schaffe ich schon. Ich will nur nicht lügen!“

„Vielleicht kannst du sagen, dass wir uns verlaufen haben“, murmelte Sanne. „Das stimmt ja auch irgendwie, und du brauchst nicht lügen. Der Wald hier ist doch ziemlich groß.“

„Das glauben sie bestimmt nicht.“

„Jetzt lasst uns erstmal hier raus gehen“, drängte ich.

Und das taten wir dann auch. Das Loch in der Hecke befand sich ja an der Seite zum Wald hin, und dort war es wieder stockfinster, da das Licht der Laterne nicht bis hierhin reichte. Tommy musste wieder die Taschenlampe einschalten, damit wir uns nicht halb blind an der Hecke entlang tasten mussten. Trotzdem holten wir uns den einen oder anderen Kratzer. Außerdem war ich mir sicher, dass unsere Klamotten und auch wir selbst reichlich schmuddelig sein mussten. Noch ein Problem mehr, wenn wir unseren Eltern gegenüberstehen würden.

Doch Jever und Lazy halfen uns, die Lücke zwischen den Buchsbäumen wiederzufinden. Vielleicht witterten sie noch unsere Spur vom Hinweg, auf jeden Fall hörten wir sie bald von der anderen Seite her hecheln und Jever kläffte einmal kurz auf. Ein paar Sekunden später fand Tommy den Durchgang und machte uns mit der Lampe ein Zeichen.

„Hier geht’s raus. Passt auf, hier liegt ein großer Stein!“

Es war nicht weiter schwierig, sich durch die Hecke zu schlängeln, und kurze Zeit später hatten wir auch die Straße erreicht. Die Welfenalle lag einsam und verlassen vor uns. An der ersten Kreuzung etwa hundert Meter von uns entfernt fuhr ein Taxi vorbei. Sonst rührte sich nichts.

„Morgen ist Montag“, entfuhr es Sanne. „Die schlafen alle schon!“

„Ihr habt’s gut“, schniefte Janine. „Ihr könnt alle zusammen bleiben. Aber ich muss alleine nach Hause.“

Betroffen standen wir um sie herum. Sie hatte Recht. Sanne und ich waren am besten dran. Schließlich waren wir zu zweit. Und Tommy wohnte gleich über uns. Außerdem dachte jeder von uns, dass Tommy es noch am ehesten durchstehen konnte. Sanne fasste einen Entschluss.

„Du wohnst doch nur zwei Straßen von hier. Wir bringen zuerst dich nach Hause, und wenn du willst, kommen wir mit rein.“

Janine nickte nur. Wir atmeten tief durch und machten uns auf den Weg. Nicht ein einziges Mal blickten wir zurück. Das Haus hatte uns wieder ausgespuckt. Krampfhaft hielt ich die Holografie in der Hand, und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass auch Janine und Sanne ihre Kugeln noch fest umschlossen. Tommy hingegen hatte das Buch der Gaben zwischen Bauch und Hose gesteckt und sein T-Shirt drüber gezogen, um die Hände frei zu behalten.

Wir brauchten etwa zehn Minuten, um das Haus von Janines Eltern zu erreichen. Im Gegensatz zu uns anderen wohnten sie nicht in einer Mietwohnung, sondern hatten einen hübschen, kleinen Bungalow. Als wir ankamen, sahen wir sofort, dass im ganzen Erdgeschoss Licht brannte. Mich übermannte ein Schwächegefühl, als ich daran dachte, was Janine bevorstand.

Wir sahen uns an, und ich erkannte genau, wie es in Janine arbeitete.

„Sollen wir mit reinkommen?“, fragte Tommy leise.

„Nein“, sagte Janine und lächelte zaghaft. „Ich schaff das schon.“

„Ich will nicht, dass du Ärger kriegst! Ich will einfach nicht, dass du Ärger kriegst!“, wiederholte Sanne verzweifelt. „Ach, ich wünsch mir so doll, dass alles gut ausgeht!“

„Das wird’s schon“, sagte ich hilflos. „Heute in einem Jahr werden wir darüber lachen!“

Noch ehe ich ausgesprochen hatte, bekam Sanne auf einmal große Augen. Verwundert schauten wir sie an. Plötzlich schoss ihre Hand vor. Langsam öffnete sie die Faust, und was wir dann sahen, ließ uns den Atem anhalten. Eine von den Kugeln glühte in einem warmen Rot! Und nicht nur das: Rauch kräuselte sich von ihr auf und verlor sich ein paar Zentimeter über Sannes Handfläche.

„Pass auf! Du verbrennst dich!“, rief Tommy. Doch Sanne schüttelte den Kopf.

„Ich habe nur gemerkt, dass es warm wurde. Es tut nicht weh. Schaut doch nur, die Kugel löst sich auf!“

Immer mehr fahlroter Rauch bildete sich, und die Schale der kleinen Kugel wurde durchsichtig. Dann vernahmen wir ein kaum wahrnehmbares leises Zischen, und von einer Sekunde zur anderen fiel die Kugel in sich zusammen. Das Glühen war verloschen, und zurück blieb nur ein winziges Häufchen weißer Asche.

Völlig überwältigt von der Erscheinung starrten wir auf Sannes Hand. Die Zeit schien stillzustehen. Dann tat Tommy etwas, das die Starre löste. Er beugte sich über Sannes Hand und pustete die feine Asche davon.

„Was machst du?“, fragte ich verblüfft. „Du kannst das doch nicht einfach wegpusten! Wer weiß, was dann passiert!“

„Weg ist weg“, sagte Tommy ungerührt. „Jetzt haben wir eine weniger. Was auch immer jetzt passiert, an der Asche liegt’s nicht.“

„Und was passiert jetzt?“, fragte Sanne unsicher. Vorsichtig schloss sie ihre Faust wieder um die verbliebenen Kugeln.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Wir müssen jetzt endlich nach Hause! Was ist jetzt, Janine, sollen wir mit reinkommen oder nicht?“

„Nein“, sagte Janine tapfer. „Ich geh schon. Aber wartet einen Moment, wenn ich drin bin. Wenn mein Vater anfängt zu schreien, wär’s vielleicht doch nicht schlecht, wenn ihr mir helft.“

Der Abschied fiel uns schwer. Die Erlebnisse hatten uns zusammengeschweißt. Wir fühlten uns, als wären wir bereits Jahre miteinander befreundet und nichts könnte uns trennen. Jeder nahm Janine kurz in den Arm und drückte sie. Dann sahen wir zu, wie sie sich umdrehte, die Gartentür öffnete und den kurzen Weg bis zur Haustür zurücklegte. Sie hatte einen Schlüssel dabei, fingerte ihn aus der Jeans hervor und schloss die Tür auf. Dann drehte sie sich noch einmal kurz zu uns um.

„Nur Mut!“, sagte Tommy. Janine lächelte gequält, doch dann betrat sie den Flur, und die Tür schloss sich leise hinter ihr.

Mindestens drei Minuten standen wir vor ihrem Haus und lauschten. Aber nicht das Geringste drang nach außen. Dann auf einmal erschienen im Wohnzimmerfenster die Silhouetten zweier Menschen.

„Da ist Janine!“, rief Sanne.

„Und ihr Vater!“ Es musste ihr Vater sein, denn von einem Bruder hatte sie nie erzählt. Und was wir dann sahen, sorgte dafür, dass wir einen Teil unserer Sorgen verloren. Janines Vater legte einen Arm um sie, und beide schienen sich angeregt zu unterhalten. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

„Sieht nicht danach aus, als müssten wir ihr beistehen“, sagte Tommy, „Kommt, lasst uns gehen!“

Mit einem letzten Blick überzeugten wir uns davon, dass alles in Ordnung war. Dann machten wir uns endgültig auf den Weg zu unserem eigenen Zuhause.

Während wir wieder in die Welfenallee einbogen und die letzten zweihundert Meter bis zu unserem Haus zurücklegten, sagte niemand von uns ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich spürte die Holografie in der Hand. Wenn sie nicht gewesen wäre und ich nicht dauernd ihr fremdartiges Material gefühlt hätte, ich hätte gar nicht mehr daran geglaubt, dass all die Abenteuer, die gerade erst hinter uns lagen, tatsächlich geschehen waren.

Doch dann standen wir vor unserer eigenen Haustür, und jetzt hatte mich die Realität endgültig eingeholt. Wir schauten uns an, aber jetzt zögerten wir nicht mehr. Gemeinsam stiegen wir die drei Etagen bis zu unserer Wohnung hoch. Vor unserer Wohnungstür blieben wir nochmal kurz stehen. Tommy musste ja noch eine Treppe höher.

„Okay“, sagte er nur kurz. „Wir sehen uns morgen.“

„Hoffentlich“, murmelte ich. „Wenn wir keinen Stubenarrest haben.“

Sanne drückte Tommy kurz an sich, und wir Jungs verständigten uns mit Blicken. Dann sahen wir zu, wie er entschlossen die Treppe hochstapfte. Als ich hörte, wie er oben an seiner Wohnungstür klingelte, drückte auch ich auf den Knopf. Einen Schlüssel hatten wir beide nicht mitgenommen. Angsterfüllt warteten wir darauf, dass die Tür aufgehen würde.

Es dauerte nicht lange, und unsere Mutter öffnete. Und was dann geschah, konnten wir nicht fassen. Mutter sah von Sanne zu mir und wieder zurück. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht!

„Hey, da seid ihr ja! Und, wie war’s? Kommt doch rein!“

Wie vom Donner gerührt stand ich da und begriff einfach nicht, was los war. Was war in meine Mutter gefahren? Ich hatte das Strafgericht für mein Zeugnis noch gar nicht hinter mir, und dann kamen wir um halb eins in der Nacht nach Hause, und meine Mutter lachte mich an! Ich verstand die Welt nicht mehr.

Sanne stupste mich an. „Komm schon“, flüsterte sie. „Ehe sie sich’s anders überlegt.“

„Und was ist mit Vati?“, flüsterte ich zurück.

Sanne zuckte nur mit den Schultern. Sprachlos folgten wir unserer Mutter in die Küche. Egal, was hier vor sich ging, Durst hatte ich jedenfalls wie verrückt.

„Ich habe euch ein paar Brote gemacht. Sie stehen im Kühlschrank.“

Ich sah, wie Sanne bald die Augen zufallen würden und winkte ab. Ich war selber todmüde und konnte auf einmal kaum noch stehen. Jetzt fiel die ganze Anspannung mit aller Macht von uns ab. Endlich waren wir wieder zu Hause und in Sicherheit. Ich gähnte herzhaft.

„Lass mal, ich will nur was trinken und dann geh ich ins Bett.“

„Ich auch“, murmelte Sanne. „Wenn ich doch bloß schon Zähne geputzt hätte und im Bett liegen würde!“

„Na gut“, sagte Mutter. „Ich hol euch nur noch ein Glas Mineralwasser und dann ab mit euch ins Bett.“

Sie öffnete die kleine Speisekammer, die an unsere Küche angrenzte und suchte in der Kiste nach einer noch vollen Flasche. In diesem Augenblick hörte ich einen leisen Aufschrei von meiner Schwester. Überrascht wandte ich mich zu ihr um und erstarrte. Eben noch hatte sie hinter mir gestanden, und jetzt war sie weg! Ich zwinkerte ein paar Mal mit den Augen. War ich denn schon so müde, dass ich gar nichts mehr mitbekam? Dann entdeckte ich auf unserem dunkelbraunen Parkett einen kleinen Fleck. Ich bekam auf einmal eine ganz seltsame Ahnung, was das sein konnte und bückte mich, um es genauer anzusehen. Und ich sollte mich nicht irren. Dort unten lag ein kleines Häufchen weißer Asche!

„Wo ist Sanne denn hin?“, fragte meine Mutter hinter meinem Rücken. „Sie wollte doch auch noch was trinken! Und was ist mit dir? Hast du was verloren?“

Ich kam wieder hoch und versuchte, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen.

„Sie war so müde, sie musste einfach ins Bett“, sagte ich und versuchte dabei unauffällig, das kleine weiße Häufchen mit dem Schuh zu verteilen. Meine Mutter nickte verständnisvoll und reichte mir ein Glas mit Wasser, das sie inzwischen eingegossen hatte.

„Na, dann mach dich mal auch fertig. Ihr habt ja Ferien und könnt euch morgen wieder treffen. Ich muss jetzt auch endlich schlafen. Papa liegt schon seit neun im Bett.“ Über Mutters Gesicht stahl sich ein Anflug von Traurigkeit. „Ihr wisst ja, wie er in letzter Zeit ist. Aber morgen muss er ja auch früh raus.“

Richtig nachdenken konnte ich schon nicht mehr. Ich nahm das Glas Wasser und trank es aus. Es schmeckte unvergleichlich gut. Jetzt erst merkte ich, wie durstig ich wirklich war. Dann murmelte ich „Gute Nacht!“ und verschwand so schnell wie möglich aus der Küche.

Eine Sache allerdings hatte ich noch zu erledigen. Ich war gespannt wie ein Flitzbogen, als ich die Tür zu Sannes Zimmer leise aufmachte und vorsichtig einen Blick hinein warf.

Sanne lag im Bett, hatte schon den Schlafanzug an und sah aus wie geschniegelt und gebügelt. Mit großen Augen schaute sie mich an.

„Ich wollte das nicht ... “, flüsterte sie mir zu, „ ... ich hab doch nur gesagt, dass ich am liebsten schon im Bett wäre, und dann war ich’s auf einmal!“

Ich nickte. Jetzt war es endgültig klar.

„Jetzt hast du nur noch vier“, sagte ich bedauernd. „Du solltest besser aufpassen, was du sagst!“

„Ich hab sie in den Nachttisch getan“, Sanne zog sich die Decke bis zum Kinn. „Heute Nacht passiert mir das nicht noch mal.“

„Wir werden morgen aufpassen müssen, dass wir uns nicht noch mal verwünschen. Ich geh jetzt auch schlafen. Wer weiß, wie lange Mutti so bleibt.“

„Ich hab mich verwünscht ... ich hab mich verwünscht ... “, murmelte Sanne immer wieder. Während ihr schon die Augen zufielen, hörte ich, wie meine Mutter aus dem Bad kam. Bevor ich leise Sannes Tür zumachte, raunte ich ihr noch etwas zu.

„Du hast dich nur einmal verwünscht! Der erste Wunsch war klasse!“

Und das war er ja auch wirklich. Hätte sich Sanne nicht vor Janines Haus gewünscht, dass alles gut ausgehen soll, hätte uns ganz bestimmt fürchterlicher Ärger erwartet. Stattdessen erwarteten uns fröhliche Eltern, und mein Vater war sogar sorglos ins Bett gegangen!

Ich schaffte es gerade noch bis ins Bad und fiel danach hundemüde ins Bett. Das war vielleicht ein Ding. Es hatte funktioniert! Was würden wir uns morgen alles zu erzählen haben! Ich legte die Holografie unter mein Kopfkissen. Da würde sie ja wohl nichts anstellen. Dann dachte ich noch kurz an den See, den Urwald und all die Dinge, die uns begegnet waren und die wir erlebt hatten. Aber schließlich konnte ich nicht mehr und tat es meinem alten Lazy nach, der neben meinem Bett lag und reichlich laut vor sich hin schnarchte. Ich machte die Augen zu und schlief diese Nacht durch wie ein Stein.

*

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien mir die Sonne geradewegs ins Gesicht. Die richtige Sonne! Wir waren ja während unserer Abenteuer die ganze Zeit über von einem geheimnisvollen, aus dem Raum kommenden Leuchten begleitet worden. Aber wenn ich ehrlich bin, so ist mir die echte Sonne doch weitaus lieber. Ich brauchte nicht lange, um richtig wach zu werden, denn ich war verdammt aufgeregt. Schließlich besaßen wir jetzt Dinge, die kein Mensch außer uns hatte. Ich muss zugeben, ich war an diesem Morgen etwas übermütig, malte ich mir doch in allen Farben aus, was wir denn im Laufe unserer Ferien so alles anstellen würden mit den Wunschkugeln, dem Buch der Gaben und nicht zuletzt mit meiner Holografie.

Ich fühlte unter dem Kopfkissen nach der Kugel, nahm sie in die Hand und sprang aus dem Bett. Ich schwor mir, sie von jetzt an nicht mehr aus den Augen zu lassen. Ich ging ins Bad, schloss die Tür ab, damit mir ja niemand die Holografie klauen konnte, solange ich unter der Dusche stand und machte mich erstmal so richtig sauber. Ich sah aus wie ein Landstreicher mit dreckigen Knien, Kratzer an Armen und Beinen und verfilzten Haaren. Aber mehr als zehn Minuten brauchte ich nicht, und meine Mutter zufrieden zu stellen.

Als ich fertig war, fand ich in der Küche einen Zettel. Mutter war einkaufen gegangen und hatte unser Frühstück in den Kühlschrank gestellt. Mein Vater war sowieso zur Arbeit, also waren Sanne und ich allein. Ich machte sofort Pläne. Da konnten wir Tommy und Janine Bescheid sagen und uns in Ruhe bei uns treffen. Schließlich hatten wir ja noch eine ganze Menge zu verarbeiten. Und dann kam mir eine dumme Idee.

Ich ging den Flur runter und klopfte leise an Sannes Tür. Zur Antwort bekam ich undeutliches Gemurmel.

„Bist du schon wach?“, fragte ich.

„Hmmm“, kam es von drinnen. Also noch nicht so ganz wach.

„Bleib noch einen Moment im Bett“, rief ich etwas lauter. „Ich will noch was ausprobieren.“

Mit einem schelmischen Grinsen ging ich rüber ins Wohnzimmer, das direkt neben Sannes Zimmer lag und stellte mich vor die Zwischenwand. Dann holte ich die Holografie aus meiner Hosentasche. Die machte eine ganz schöne Beule in der Jeans, aber ich konnte sie nicht die ganze Zeit über in der Hand behalten. Ich warf sie ein paar Mal mit der rechten Hand in die Luft und sagte leise, aber energisch: „Ich will da durch, ich will da durch!“

Und dann geschah es. Wie in der Kammer des Wissens leuchtete die Kugel auf einmal hellgrün auf und wurde durchsichtig. Mitten in einem Wurf blieb sie in der Luft stehen und fing an zu rotieren. Gespannt sah ich zu, wie sie sich der Wand näherte und schließlich in ihr verschwand. Ich zögerte keine Sekunde, schließlich hatte ich ja bereits Übung, und trat beherzt auf die Wand zu. Als bestände die Mauer aus Luft, schritt ich durch sie hindurch und stand direkt vor Sannes Bett!

Meine Schwester bekam den Schreck ihres Lebens. Mit einem Aufschrei flog die Bettdecke hoch und dann wieder runter, und Sanne rollte sich unter ihrer Decke zusammen und machte sich so klein, dass ich nichts mehr von ihr sah.

Ich fing an zu lachen, und dann lachte ich mir die Seele aus dem Leib, dass ich mich auf einmal verschluckte und anfing zu husten. Mit hochrotem Gesicht lehnte ich mich an die Wand, die jetzt wieder so stabil wie immer war, und schnappte nach Luft.

Mit tränenverschleierten Augen sah ich, wie Sannes Kopf wieder aus der Bettdecke hervorlugte und meine Schwester mich total wütend ansah.

„Wie kannst du mich so erschrecken!“, fauchte sie. „Wenn du das noch mal machst, sag ich Mutti, dass du eine Holografie hast!“

„Dann sag ich ihr, dass du Wunschkugeln hast!“ So langsam beruhigte ich mich wieder. Das war vielleicht ein Spaß gewesen!

„Es hätte nicht viel gefehlt, und du wärst aus dem Bett gefallen!“, hustete ich.

„Tommy hätte das gar nicht gefallen, wie du mit der Holografie umgehst.“

Sanne war jetzt richtig böse, und das brachte mich langsam wieder zur Besinnung. Sie hatte ja Recht. Ich wollte nur einen Spaß machen, aber dafür waren die Sachen bestimmt nicht an uns vergeben worden. Ich schaute sie verlegen an.

„Entschuldige, Sanne. Aber es hat mich so gereizt, die Holografie auszuprobieren. Ich versprech dir, ich mach es nicht nochmal.“

Sanne grummelte noch etwas vor sich hin, aber ich sah an ihren Augen, dass sie mir verziehen hatte. Ich suchte nach der Holografie und entdeckte sie an Sannes Schreibtischstuhl auf dem Boden liegend. Sie wirkte wieder klein und unscheinbar, und ihr Glühen war erloschen. Ich ging hin und hob sie auf.

„Auuu!“ Mit einem Schmerzensschrei ließ ich sie wieder fallen. „Die ist total heiß!“, jammerte ich.

„Da brauchst du dich gar nicht drüber zu wundern“, sagte Sanne altklug und erinnerte mich wieder mal an meine Mutter. „Du hast sie für einen Scherz benutzt, und das war bestimmt nicht so gewollt.“

Plötzlich erinnerte ich mich an das Buch der Gaben. Was hatte dort am Schluss gestanden? Feuer umgibt den, der sie missbraucht ... Ich rieb meine schmerzende Hand und schaute verlegen zu Boden. Ich schämte mich richtig für meine Dummheit. Und das Schlimmste war, Tommy hätte solch einen Unfug sicher nicht getrieben.

Sanne schlug ihre Decke zurück und stand auf.

„Na komm schon“, munterte sie mich auf. „Der Blitz hat dich ja nicht erschlagen. Und ich hab gestern ja auch einfach so losgewünscht, ohne mir dabei etwas zu denken. Wir müssen einfach vorsichtiger sein.“

Dann warf sie einen Blick auf ihren Wecker.

„Halb elf!“, rief sie überrascht. „Los, ruf die anderen an! Vielleicht können wir gemeinsam frühstücken. Janines Nummer kann ich dir geben.“

Das war keine schlechte Idee. Ich hatte noch gar nicht auf die Uhr gesehen. Da hatten wir geschlagene zehn Stunden geschlafen! Kein Wunder, bei dem, was wir hinter uns hatten.

„Hoffentlich hat sie keinen Ärger bekommen und darf nicht raus“, wandte ich ein.

„Denk an die Wunschkugel!“, sagte Sanne lachend und holte ihr Notizbuch aus der Nachttischschublade, um mir Janines Nummer zu geben.

„Ach ja.“

Während Sanne ins Bad ging und sich fertig machte, bückte ich mich und berührte ganz vorsichtig die Holografie, die da immer noch so unscheinbar auf dem Fußboden lag. Doch jetzt war sie kühl und harmlos. Vorsichtig steckte ich sie zurück in meine Hose. Ich hoffte inbrünstig, dass Sanne den anderen nichts von meinem Unfug erzählte. Aber dann merkte ich, dass das feige von mir war und beschloss, Tommy den Streich gleich als erstes zu beichten.

Ich ging in den Flur, griff mir das Telefon und rief Janine an. Die war schon länger wach, stimmte aber sofort begeistert zu, als ich ihr den Vorschlag mit dem Frühstück machte. Zu Tommy nach oben konnte ich immer noch gehen. Also bereitete ich erstmal in aller Ruhe das Frühstück vor und deckte den Küchentisch. Meine Mutter schien heute Morgen sogar schon Brötchen besorgt zu haben. Fehlte eigentlich nur noch Tommy.

Als ich nach oben ging, um ihn abzuholen, war mir völlig klar, dass er schon auf mich wartete. Schließlich konnte er ja jetzt Gedankenlesen, oder nicht?

*

„Mann, ein Leberwurstbrötchen! Tut das gut!“, grummelte Tommy und biss herzhaft in seine Brötchenhälfte. Wir lümmelten uns alle um den Küchentisch, Lazy und Jever hockten mit bettelnden Augen neben uns und versuchten, etwas abzustauben, und ich fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr. Meine Mutter machte wohl einen Großeinkauf, denn sie war immer noch nicht zurück. Und so hatten wir Zeit, es uns gemütlich zu machen. Wir plapperten in einer Tour vor uns hin und erlebten all die Abenteuer noch einmal, während wir die Leckereien unseres Frühstücks genossen. Vor allem schüttelten wir immer wieder den Kopf über Sannes Wünsche, die in Erfüllung gegangen waren. Auch Tommy und Janine waren von ihren Eltern fröhlich begrüßt worden. Anstelle einer Standpauke hatte es nur liebevolles Schulterklopfen gegeben. Unglaublich!

„Eins ist klar“, sagte ich und nahm einen Schluck Vanilletee, „wir haben etwas durchgemacht, das noch niemand zuvor erlebt hat. Wenn wir die Sachen hier nicht hätten, würde ich es selber gar nicht glauben.“

Wir hatten all unsere Schätze auf dem Küchentisch ausgebreitet. Das Buch der Gaben, die verbliebenen Wunschkugeln und meine Holografie lagen mitten zwischen Brötchen und Marmeladegläsern.

„Und wir dürfen niemandem davon erzählen“, meinte Tommy ernst. „Man würde uns für verrückt halten. Ich glaube, man würde sogar versuchen, uns zu trennen, und das darf auf keinen Fall passieren.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Janine ängstlich.

„Schon möglich“, bestätigte ich. „Was würdest du denn denken, wenn dein Vater zu dir käme und sagen würde: Hey, ich kann durch Wände laufen! Also ich weiß nicht. Ich glaube, ich würde ihn nur auslachen, und meine Mutter würde ihn zum Arzt schleifen.“

„Genau deshalb muss es unter uns bleiben.“ Tommy stopfte den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund und wurde ernst. „Es muss unter uns bleiben, und wir müssen aufpassen, was wir sagen und vor allem, was wir mit den Sachen da tun.“

Wie auf Kommando schauten wir alle auf die wie verloren daliegenden Dinge aus der fremden Welt. Ich wusste, dass Tommy mich mit dem meinte, was er gerade gesagt hatte und schwor mir, immer daran zu denken, keinen unüberlegten Wunsch zu äußern oder durch Wände gehen zu wollen. Ich hatte ihm schon im Treppenflur von meinem Streich mit Sanne erzählt, und die darauf folgenden mahnenden Worte von Tommy waren mir noch schlimmer vorgekommen als die meines Vaters, wenn ich was angestellt hatte. Aber dann hatte er mir doch auf die Schulter geklopft und gelacht, als er sich das Gesicht von Sanne vorstellte, wie ich aus der Wand in ihr Zimmer gekommen war!

„Tommy“, sagte Janine beiläufig, „hast du dein Buch schon ausprobiert?“

Plötzlich wurde es still im Raum. Unsere Blicke hefteten sich auf das Buch der Gaben und seinen unscheinbaren Einband. Würde es in unserer Welt funktionieren? Ich überlegte krampfhaft, woran ich jetzt denken sollte, falls Tommy ausprobieren würde, ob er Gedankenlesen konnte. Aber dann fiel mir ein, dass es ja noch gar nicht sicher war, ob es nun genau diese Gabe war, die ihm gegeben wurde.

„Ich weiß nicht, ob das Buch meinen ersten Einfall aufgenommen hat“, bestätigte Tommy meine Gedanken. „Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, was für eine Gabe ich wählen sollte.“

„Au ja!“ rief Sanne. „Vielleicht unsichtbar sein oder wahrsagen oder hellsehen oder ... “

„Halt, halt!“, sagte Tommy schmunzelnd. „Es sollte etwas sein, womit wir etwas Sinnvolles tun können. Zum Spielen hat man uns dieses Buch nicht mitgegeben.“

„Aber Hellsehen kann doch was Gutes sein“, wandte Sanne ein. „Zum Beispiel könnte man voraussagen, ob jemand morgen einen Unfall hat. Und dann könnten wir das verhindern!“

Janine schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Damit würden wir Schicksal spielen. Das dürfen wir nicht.“

„Aber ich könnte als Wahrsagerin beim Zirkus auftreten!“ Sanne war total begeistert von ihrer Idee.

„Aber du müsstest auch Schlechtes vorhersagen. Willst du das denn wirklich?“, fragte Tommy ernst.

Doch ehe wir darüber nachdenken konnten, ging der Schlüssel in der Wohnungstür, und meine Mutter kam vollbeladen mit Tüten vom Einkauf zurück. Wir halfen ihr, alles auszupacken, und ich stellte eine weitere Tasse auf den Tisch. Schließlich setzte sich meine Mutter mit zu uns und fragte uns aus.