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Jüdisches Biel
Ein Porträtbuch
Melissa Flück
Vorwort
Einleitung
Joke Mollet (1936)
«Meinen religiösen Weg machte ich für mich selbst.»
Georges Rosenfeld (1931)
«Die Begegnung auf dem Zentralplatz liess mich nicht mehr los.»
Haim Madjar (1935)
«Religiös bin ich nicht. Ich bin lediglich, sagen wir, traditionell.»
Ofer Fritz (1977)
«Es sind die Traditionen, die ich pflegen möchte.»
Charlotte Schnegg (1950)
«Schön an der jüdischen Religion ist, dass man über alles diskutieren kann.»
Avinoam Levy (1952)
«Die Juden haben in der Stadt Biel viele Spuren hinterlassen.»
Yona Fritz (1949)
«Man weiss nie, was kommt.»
Yaron Maor (1976)
«Biel mag ich nicht so, Zürich ist eher meine Stadt.»
Simon Lauer (1929)
«Es war schön, in Erinnerungen zu schwelgen.»
Porträtbilder
Die Jüdische Gemeinde Biel im Kontext Von Stefanie Mahrer
Glossar
Autorin
Vorwort
Zachar – hebräisch für «erinnern». Das Judentum kennt viele Rituale des Erinnerns. Das Verb «erinnern», so habe ich nachgelesen, kommt im Alten Testament 169-mal vor. Und nun liegt ein Porträtband über Bielerinnen und Bieler jüdischen Glaubens vor. Darüber freue ich mich sehr.
Nur wer die Erinnerung pflegt, kann die Gegenwart verstehen und die Weichen für die Zukunft stellen. Dieses Buch trägt dazu bei, die reiche Geschichte jüdischen Lebens in Biel in ihrer ganzen Vielfalt zur Sprache zu bringen und unterschiedliche Personen jüdischen Glaubens in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Auf diese Weise entsteht ein höchst vielschichtiges Bild der Entwicklung jüdischen Lebens in Biel. Und was ich an dieser Stelle besonders hervorheben will: Im öffentlichen Raum ist die reiche Geschichte der Jüdischen Gemeinde Biel heute kaum noch sichtbar. Dabei erlebte das Bieler Judentum ab Ende des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Blütezeit. Das Gemeindeleben wurde rege gepflegt, und auch wirtschaftlich haben Jüdinnen und Juden vieles zur Entwicklung der Stadt beigetragen. Auch wird sichtbar, wie vielfältig Jüdinnen und Juden im Laufe der Geschichte ihr Leben gestalteten und ihren Glauben lebten – so wie dies auch heute der Fall ist. Dies führt den Leserinnen und Lesern einmal mehr vor Augen, dass das Judentum – allen Vorurteilen zum Trotz – so nicht existiert, so wenig wie es die Christen, die Buddhisten oder die Moslems gibt.
Und doch gibt es im Judentum eine einigende Erfahrung jenseits aller kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede: jene des jahrhundertealten Antisemitismus, der letztendlich in die Shoah mündete. Auch unsere Stadt war und ist davor leider nicht gefeit. Umso mehr sehen wir hier die Verpflichtung der heutigen und künftigen Generationen, die sprichwörtliche Toleranz unserer Stadt hochzuhalten und jeglicher Diskriminierung – gegenüber welchen Gruppen oder Religionen auch immer – eine unmissverständlich klare Absage zu erteilen.
Erich Fehr, Stadtpräsident von Biel
Einleitung
Die Idee, Zeugnisse des jüdischen Lebens in Biel sichtbar zu machen, stand am Anfang. Entstanden ist ein Buch, das Erinnerungen, Meinungen und Anekdoten jüdischer Bielerinnen und Bieler versammelt.
Einst sehr bedeutend, umfasst die Jüdische Gemeinde Biel heute nur noch eine Handvoll Mitglieder, umso mehr kommt diesem Buch eine wichtige kulturhistorische Bedeutung zu. Die historische Dimension der Jüdischen Gemeinde Biel bis 1945 legte Annette Brunschwig in der Publikation «Heimat Biel» 2011 umfassend dar. Im Gegensatz dazu soll im vorliegenden Porträtbuch auf die Lebenswelt der gegenwärtigen Gemeindemitglieder fokussiert werden. Meine Absicht war es, die Akteurinnen und Akteure selbst zu Wort kommen zu lassen.
Neun Personen haben sich bereit erklärt, mir aus ihren Leben zu erzählen. Einige weitere haben aus verständlichen und leider sehr realen Bedenken abgesagt. Die Gefahr, die mit der Exponierung als Jüdin oder Jude einhergeht, war ihnen aufgrund zunehmender antisemitischer Tendenzen in der Schweiz zu gross.
Die Menschen in diesem Buch vereint ein Bezug zu Biel und zum Judentum. Im Fokus der Porträts stehen Wahrnehmungen und Erinnerungen zur Entwicklung des Bieler Judentums im 20. und 21. Jahrhundert, das persönliche Verständnis von Judentum und Religion sowie auch Geschichten aus dem Leben allgemein. Welche Bedeutung das Jüdische in ihrem Leben hat oder in der Vergangenheit hatte, ist jedoch so individuell wie die Porträtierten selbst.
Jedes Porträt steht exemplarisch für sich alleine, im Zusammenspiel mit den anderen Lebensgeschichten erschliessen sich der Leserin und dem Leser aber auch offensichtliche und subtile Bezüge. In der Summe ergibt sich eine bereichernde Vielzahl von Blickwinkeln.
Die Gespräche sind Momentaufnahmen, die zwischen Juli 2017 und September 2019 entstanden sind. Während die Erzählung in den Porträts an einigen Stellen ausführlich ist, bleibt sie an anderen unvollständig und lückenhaft. Die Erinnerung an gewisse Geschehnisse ist im Laufe der Zeit verblasst. Nicht geschichtliche Ereignisse, sondern die individuelle Wahrheit der jeweiligen Person steht im Zentrum.
Die Porträtierten, sechs Männer und drei Frauen, waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 41 und 90 Jahre alt. Ihre Wohnorte liegen zwischen Zürich und Neuenburg. Die Synagoge besuchen sie an ihrem Wohnort, in Bern, in Biel – oder auch gar nicht.
Wie uns die Menschen in diesem Buch zeigen, kann das Judentum ebenso wie jede andere Religion für das persönliche Leben von Bedeutung sein – oder eben auch nicht.
Gerade in einer Stadt wie Biel mit ihren unterschiedlichsten Einflüssen und Bewohnern scheint es mir wichtig, diese vielfältigen und individuellen Möglichkeiten aufzuzeigen, Judentum zu leben oder zu definieren. Diese Erkenntnis kann dazu beitragen, Stereotype oder Vorurteile abzubauen, auch gegenüber Mitgliedern anderer Religions- oder sonstigen Gemeinschaften.
So gibt es vielleicht dank diesem Buch ein paar stereotype Vorstellungen und Vorurteile weniger und ein paar ganzheitliche Bilder von Jüdinnen und Juden – nämlich als selbstverständlicher Teil der Schweizer Bevölkerung – mehr. Denn ich meine, mit den Worten meines Gesprächspartners Haim Madjar: «Jeder hat seinen eigenen Weg.»
Von Herzen danke ich den Menschen, die sich bereit erklärten, mir ihre Geschichte zu erzählen, die mich an ihrem Leben teilhaben liessen, sich mir bereitwillig öffneten und die Erinnerungen an Freud und Leid mit mir teilten: Ofer Fritz, Yona Fritz, Simon Lauer, Avinoam Levy, Haim Madjar, Yaron Maor, Joke Mollet, Georges Rosenfeld und Charlotte Schnegg.
Gabriela Dömötör, Catherine Fellmann, Vera Gerz und Katharina Stöckli vom Verein Kulturigunden sowie Esther Hörnlimann danke ich für den Austausch und ihr kritisches Gegenlesen. Marina Tardin danke ich für die wunderbaren Porträtfotografien, der Historikerin Stefanie Mahrer und dem Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr für die ergänzenden Texte. Meiner Familie danke ich aus vollem Herzen für ihre Unterstützung und ihr Dasein an meiner Seite.
Joke Mollet
(1936)
Meinen religiösen Weg machte ich für mich selbst.
Oh, ich habe Sie für morgen erwartet. Aber kein Problem, kommen Sie rein. Möchten Sie einen Tee? Im Moment bin ich nicht so wendig mit meinen Krücken. Vor zwei Tagen bin ich auf dem Trottoir gestürzt. Ich bin wohl über einen kleinen Stein gestolpert und habe mir ein Mittelfussknöchelchen gebrochen. Das kann man nicht eingipsen, der Fuss ist einfach geschwollen und blau. Ich nenne das jetzt «Ferien» und liege auf dem Bett und lese. Sechs Wochen lang. Ja, so ist das Leben.
Das hier sind Alterswohnungen. Aber man macht alles selbst, es gibt keine Betreuung. Ich schaute auch mal eine Einzimmerwohnung an und merkte dann, dass das gar nichts für mich ist. Ich brauche ein bisschen Ellenbogenplatz. Ich habe viele Bücher. Seit acht Jahren bin ich hier, vorher wohnte ich fünf Jahre bei meiner Schwiegertochter, etwas weiter oben am Jura. Nachdem mein Sohn gestorben war, musste ich ihr helfen. Ihre Zwillinge waren damals erst eineinhalbjährig.
Das war auch der Grund, weshalb ich meine Funktion als Präsidentin der Jüdischen Gemeinde 2004 aufgab. Vier Jahre lang hatte ich das gemacht.
Ich bin seit bald zwanzig Jahren pensioniert, mit 62 Jahren konnte ich damals aufhören. Ich arbeitete gerne. Nach der Scheidung fing ich wieder an, in dem Beruf zu arbeiten. Damals war ich 48 Jahre alt und es war gerade Rezession. Ich erkundigte mich, ob es etwas gäbe als Sekretärin. Da gab es aber keine freien Stellen, weil viele Leute aus der Uhrenbranche so untergekommen waren. Ich fand dann etwas in der Pflege, meinem ersten Beruf, den ich als junge Frau in Amsterdam gelernt hatte.
Mit 19 Jahren hatte ich mitten in der Ausbildung eine schwere Lungenentzündung gehabt, an der ich beinahe gestorben wäre. Auf Penicillin sprach ich nicht an. Damals gab es noch nicht so viele verschiedene Medikamente. Der Arzt brachte mir eine grosse Tablette und meinte, das sei seine letzte Hoffnung für mich: «Entweder du bist morgen tot oder es geht dir besser.» Und dann ging es mir besser. So überlebte ich diese Krankheit.
Ich ass 14 Tage lang nichts, verlor alle Haare und musste nach sechs Wochen liegen wieder lernen, zu gehen. Nach meiner Genesung musste ich aber gleich wieder voll einsteigen. Damals, in den 1960er-Jahren, sprach noch niemand von Halbtagsarbeit. Als ich schliesslich aber während einer Nachtwache zusammenbrach, liess ich mich zur Sekretärin umschulen. Auf diesem Beruf arbeitete ich dann in Holland und später auch in der Schweiz.
Meinen Mann lernte ich in Hamburg kennen, in einem Ferienlager. Wir hatten zunächst jahrelang Briefkontakt. Ein anderer Schweizer, ein Bekannter meines späteren Mannes, war mein damaliger Freund. Da er katholisch war, liess ich mich in Amsterdam zwei Jahre lang von einem Jesuitenpater unterrichten. 1956 reiste ich in die Schweiz, um die Beziehung zu diesem Schweizer auf ihre Ernsthaftigkeit zu prüfen und arbeitete für drei Monate in einem Kinderheim in Wildhaus. Ich sagte diesem Mann dann aber schweren Herzens ab. Er war wirklich sehr katholisch, das hätte nie funktioniert mit uns.
In diesem Kinderheim waren wir nur zu dritt: eine Krankenschwester, die das Heim führte, ein Mädchen aus dem Dorf für die Küche und ich. Ich war für die Kinder zuständig und nahm auch das Telefon ab. Mein Mann, der ja damals noch nicht mein Mann war, kam gerade aus Ungarn zurück, wo er nach dem Ungarn-Aufstand als Rotkreuzhelfer tätig gewesen war, und rief in diesem Kinderheim an, um mit mir zu sprechen. Er glaubte mir nicht, als ich sagte, ich sei bereits selbst am Apparat: «Das kann nicht sein, sie spricht kein Schweizerdeutsch.» Die kleinen Kinder hatten mein schönes Schulhochdeutsch nicht verstanden, das ich am Gymnasium in Amsterdam gelernt hatte. Da musste ich eben sehr schnell Schweizerdeutsch lernen.
Einmal spazierte ich mit einer Gruppe Kinder an vier holländischen Touristen vorbei, die sich über mich mokierten. Erst als wir beinahe vorbei waren, gab ich ihnen auf Holländisch Antwort. Das war ihnen natürlich sehr peinlich.
Ich bin von Haus aus überhaupt keiner Religion zugehörig. Ich wurde atheistisch erzogen, meine Eltern waren Sozialisten. Mein Vater war christlich, meine Mutter getauft und nur – sagen wir der Herkunft nach – jüdisch. Sie waren aber beide nicht praktizierend, im Gegenteil.
Mein Urgrossvater mütterlicherseits – das Jüdisch-Sein wird immer von der Mutter an die Kinder weitergegeben – wurde im Dienst als Adjutant eines Generals auf einer Russlandreise von diesem zum Christentum bekehrt und konvertierte mit der ganzen Familie. Die ersten beiden Söhne hiessen noch Moses und Samuel, die folgenden acht Kinder erhielten jedoch holländische Namen. Meine Grossmutter hiess Wilhelmina.
Sie waren ein lustiges Paar, meine Grosseltern. Bei der Hochzeit war er 19- und sie 23-jährig. Erst beim Eintrag für die Heirat erfuhr sie sein junges Alter, vorher hatte er sich als älter ausgegeben. Die Grosseltern hatten einander sehr gern, das merkte man. Sie hielten immer Händchen, das war wirklich herzig. Und er verwöhnte sie sehr. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Galle. Holländisches Essen ist ziemlich fettig. Heute besteht eine solche Operation aus drei kleinen Löchern, aber zu dieser Zeit hätte man noch einen riesigen Schnitt an der Seite machen müssen, was gefährlich gewesen war. So war meinem «Grossmüeti» das Leben lang immer ein bisschen übel. Ich habe sie nie anders gekannt, als im Lehnstuhl sitzend.
Obschon meine Grossmutter getauft und mit einem christlichen Mann verheiratet war, galt sie mit vier jüdischen Grosseltern im Krieg als jüdisch und wurde zur Deportation aufgeboten. Meine Mutter aber hatte ziemlich Chuzpe, Mut. Sie ging ins Hauptquartier der Gestapo und sagte mit ihrer lauten Stimme: «Das könnt ihr nicht machen.» – In der Schule, in der sie arbeitete, sagte man immer, wenn sie im dritten Stock oben rede, höre man das bis ins Parterre. – «Ihr habt Regeln, also haltet euch daran.» Und diese Regeln waren: Jemand, der christlich getauft, christlich verheiratet oder über 63 Jahre alt war, konnte nicht zur Deportation aufgeboten werden. Die ganze Familie sass zu Hause, und wir wussten nicht, ob die Mutter überhaupt wieder zurückkommt. Für die Unterstützung von Juden konnte man auch bestraft werden. Mit ihrer unerschrockenen Art konnte meine Mutter aber die Deportation der Grossmutter verhindern.
Mein Vater arbeitete als Diamantsäger, schon sein Vater war Diamantschleifer gewesen. Diese Diamantfirmen wurden meistens von Juden geführt. Als Kind sang mein Vater mir manchmal ein jiddisches Wiegenlied, das er von seinen jüdischen Mitarbeitern gelernt hatte. Im Krieg wurden sie alle deportiert, der Betrieb wurde aufgehoben, und mein Vater hatte keine Arbeit mehr. So war er zu Hause und führte den Haushalt. Draussen durfte er sich nicht mehr zeigen, sonst wäre er Gefahr gelaufen, nach Deutschland deportiert zu werden. Meine Mutter war Lehrerin und Schulvorsteherin einer Mädchen-Sekundarschule. Dass eine verheiratete Frau als Lehrerin arbeitete, war damals sowohl in Holland wie auch in der Schweiz noch sehr aussergewöhlich.
Sie war mir keine besonders zärtliche Mutter. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, als sie mich in den Arm nahm: während des Kriegs, als ich einmal beim Holen von Lebensmittelmarken mit meinem Bruder beinahe erfroren wäre. Trotzdem fühlte ich mich unterstützt von ihr. Wenn es darauf ankam, setzte sie sich für mich ein.
Für mich als Kind war es schön, dass mein Vater während des Kriegs mit mir zu Hause war. Vorher, seit meine Mutter wieder angefangen hatte, zu arbeiten, hatte ich als Zweieinhalbjährige eine Kindertagesstätte besucht. Damals gab es noch praktisch keine Angebote für Fremdbetreuung. Meine drei Geschwister waren viel älter als ich, der Bruder zehn Jahre und die Schwestern sieben und siebeneinhalb Jahre. Meine Mutter hatte ein Kind, mein Vater zwei Kinder mit in die Ehe gebracht. Ich war als einziges gemeinsames Kind eine Nachzüglerin. Heute würde man sagen, wir waren eine Patchworkfamilie. Als Kind war ich oft alleine, was ich aber nicht schlimm fand. Ich bin heute noch gerne alleine.
Nach dem Krieg bekam meine Mutter als eines der neuen Bücher für die Schulbibliothek eine Kinderbibel, die sie mir zur Allgemeinbildung zu lesen gab. Während des Kriegs hatte man ja keine Bücher. Ich las sehr gerne. Märchen mochte ich nicht nach all dem, was wir durchgemacht hatten. Die biblischen Geschichten empfand ich damals allerdings als relativ real. Heute nicht mehr, heute sehe ich sie als Geschichten, die sich die Leute erzählten, um ihrem Leben Sinn zu geben. Ich bin ein bisschen eine Ketzerin, auch heute noch.
Während der schweren Krankheit in meiner Jugend gab es ein Erlebnis, das mein weiteres Leben massgeblich beeinflusste. Eines Tages konnte ich plötzlich meinen schmerzenden Körper verlassen und sah mich unter mir im Bett liegen. Ich hatte keine Schmerzen mehr und konnte fliegen. Es war wunderschön, und ich sah das berühmte goldene Licht, das auch andere Personen, die Ähnliches erlebten, beschrieben haben. Ich wollte dahin, jemand hielt mich aber zurück: «Du darfst noch nicht, du hast noch eine Aufgabe.» So kehrte ich halt wieder zurück. Daraufhin kam dieser Arzt mit seiner Tablette. Ich schlief wunderbar, und am nächsten Morgen hatte ich kein hohes Fieber mehr. Seither bin ich gläubig.
Dieses Erlebnis hat mich sehr bewegt und geprägt. Ich spreche heute nicht mehr vom Himmel, sondern von der Ewigkeit. Gott ist für mich reine Energie und das, was wir hier leben, ist ein kleiner Teil davon. Das kann ich auch mit den Erkenntnissen der Wissenschaft vereinbaren. Jemand, der stirbt, geht für mich wieder zurück in die Ewigkeit. Was danach geschieht, weiss ich nicht. Ich durfte ja nicht rein.
Mein Mann war zwar reformiert, aber nicht praktizierend. Ich wollte nicht nur auf dem Standesamt heiraten. So liess ich mich mit 22 Jahren in der Bieler Stadtkirche taufen. Und ich war nachher die, die in die Kirche ging.
Irgendwann merkte ich, dass ich mit dem Christentum bis zu einem gewissen Punkt mitgehen kann, dass es aber Dinge gibt, die für mich so nicht stimmen. Ich begann mich daher intensiv mit dem Judentum auseinanderzusetzen, ging in die Synagoge und las viel. Hebräisch zu lernen, hatte ich bereits vorher begonnen. Der Bieler Rabbiner befürchtete, eine Familie zu spalten, und war zunächst nicht sehr begeistert von meinem Vorhaben, Jüdin zu werden. Er riet mir jedoch, einen Nachweis der jüdischen Herkunft meiner Mutter und Grossmutter zu erbringen, da ich so nicht offiziell konvertieren müsste.
Aber das war nicht so einfach. Zuerst erkundigte ich mich bei der jüdischen Gemeinde in Amsterdam nach einem Register. Sie hätten keines, meinten sie. Und der alte jüdische Friedhof war nicht frei zugänglich. Als wir nach langer Suche den Schlüssel ausfindig machen konnten, schrieb ich meiner Schwester fein säuberlich die Namen aller Vorfahren in Holländisch und Hebräisch auf, damit sie die Gräber suchen konnte.
Aber da wurde es meiner Mutter zu viel. Sie rief den Oberrabbiner Amsterdams an und fragte: «Warum tut ihr so schwierig, wenn jemand zurückwill?», erzählte die ganze Geschichte und erfuhr, dass es doch ein Register gab. Das war allerdings von den Deutschen erstellt worden und wurde von der jüdischen Gemeinde nicht gerne genutzt. Dort waren bis und mit meiner Mutter alle erfasst. So musste ich nur noch einen Geburtsschein mitbringen, um darzulegen, dass ich von meiner Mutter abstamme, und brauchte keine Examen mehr zu machen. Ich konnte ins Tauchbad, die Mikwe, und es war besiegelt. Mit vierzig Jahren war ich nun auch auf dem Papier Jüdin.
Unsere zwei Söhne wurden konfirmiert. Die Tochter, die Jüngste, wollte das nicht. Mein Mann und ich beschlossen, dass sie zumindest den Konfirmationsunterricht besuchen sollte, damit sie wusste, was sie ablehnte. Das tat sie, nun ist sie Buddhistin. Das geht auch.
Bis die Kinder sechs, sieben und acht Jahre alt waren, lebten wir in Zürich. Nach Biel kamen wir, um dem kranken Schwiegervater beizustehen. Am Anfang war es für die Kinder etwas schwierig, weil sie Zürichdeutsch sprachen.
In der jüdischen Gemeinde wurde ich am Anfang nicht so herzlich aufgenommen, es gab böse Zungen. Heute bin ich aber gut integriert. Damals, in den 1970er-Jahren, war die Synagoge noch voll. Heute sind wir nur noch etwa 45 Leute. Die zehn Männer für einen Gottesdienst bringen wir selten zusammen, vielleicht an hohen Feiertagen wie Rosch ha-Schana oder Jom Kippur. Meistens kommen nur sechs, sieben Leute in einen Gottesdienst. Ich gehe eigentlich immer hin.
Die Gemeinde stirbt langsam aus. Viele der älteren Generation sind bereits gestorben oder sind im Alter nach Israel gegangen, um dort zu sterben und beerdigt zu werden. Junge mit Kindern gibt es nicht mehr viele. Sie bleiben entweder in den Universitätsstädten Bern, Genf oder Zürich hängen oder gehen nach Israel. Wenn jemand religiös leben will, geht das in Biel nicht. Wir haben keine streng Religiösen hier.
Es findet ähnlich wie in der Kirche eine allgemeine Abwendung vom Religiösen statt. In einem Gottesdienst in der Kirche sind jeweils sechs, sieben Leute. Einmal waren wir zu dritt an einem Orgelkonzert. Ich gehe oft in die Kirche, wenn wir in der Synagoge keinen Gottesdienst haben. Einfach rein meditativ. Und wenn mich dann etwas stört, höre ich einfach ein wenig weg, das merkt ja niemand.
Die reformierte Kirche initiierte auch einen Diskussionskreis, eine lustige und sehr reflektierte Runde, an der ich einmal wöchentlich teilnehme. Wir organisieren uns selbst und pflegen eine gute Diskussionskultur. Abwechselnd präsentiert jemand ein Thema, das wir anschliessend in der Gruppe diskutieren, auf eine Weise, bei der unterschiedliche Perspektiven respektiert werden.
Den Jüdischen Frauenverein gibt es nicht mehr, es waren zu wenig Leute. Wir haben uns mit den Männern zusammengeschlossen und nennen uns nun «Begräbnisverein». Das Einsargen, die verstorbene Person zu waschen und ihr das Sterbekleid anzuziehen, ist bei uns aber je nach Geschlecht des Verstorbenen nach wie vor reine Frauen- oder Männersache. Wir Frauen haben untereinander abgemacht, dass wir zu zweit vorbeigehen, wenn jemand stirbt.
Dass ich zum Judentum kam, hängt wahrscheinlich auch mit meinen Erlebnissen im Krieg zusammen. Noch jahrelang hatte ich Albträume. Meinen religiösen Weg machte ich für mich selbst. Mein Mann war diesbezüglich relativ grosszügig. Nur einmal, als ich für den Schabbat Kerzen anzündete, blies er sie mir aus. Für nach dem Gottesdienst backe ich meistens etwas, weil es sonst niemand mehr macht. Wir essen jeweils noch Challe und Kuchen und trinken etwas Wein. Challot sind spezielle Zöpfe, nicht mit Butter gemacht, sondern mit Öl, weil sie zu Milchigem und Fleischigem passen müssen. Die meisten essen danach zu Hause Znacht, und am Freitagabend gibt es vielleicht ein Gericht mit Fleisch. Ich halte mich nicht an die Speisegesetze, ich esse einfach. Zopf ist bei mir Zopf. Für jüdische Gäste backe ich selbst, aber sonst hole ich einen Zopf in der Migros. Ich bin in dieser Beziehung relativ unkompliziert.
Nur beim Schweinefleisch halte ich mich mehr oder weniger daran. Ich bin aber überzeugt, dass die Menschen im Altertum merkten, dass Schweinefleisch krank machen kann. Die Schweine hatten ja Trichinen. Heute ist das nicht mehr der Fall, daher darf man sich das ruhig erlauben. Es ist einfach eine Tradition geworden. Wenn ich aber eingeladen bin, esse ich auch Schweinefleisch, keine Frage. Man muss die Relationen sehen. Freundschaft ist mir wichtiger als bestimmte Prinzipien.
Darmowy fragment się skończył.