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Max Weber
Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland – gelbe Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski
Band 188e in der gelben Buchreihe
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
Der Autor Max Weber
Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland
Vorbemerkung
Kapitel I. – Die Erbschaft Bismarcks
Kapitel II. – Beamtenherrschaft und politisches Führertum
Kapitel III. – Verwaltungsöffentlichkeit und Auslese der politischen Führer
Kapitel IV. – Die Beamtenschaft in der auswärtigen Politik
Kapitel V. – Parlamentisierung und Demokratisierung
Kapitel VI. – Parlamentisierung und Föderalismus
Die maritime gelbe Buchreihe
Impressum neobooks
Vorwort des Herausgebers
Vorwort des Herausgebers
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.
Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktionen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere.
Während meines Studiums machte uns unser Dozent im Fach Sozialpolitik mit den Erkenntnissen Max Webers bekannt, dass die Reformatoren Luther und Zwingli erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung hatten, dass sich der Kapitalismus besonders in den reformierten Ländern (bergisches Land, Niederlande, England, USA) entwickeln konnte.
Hamburg, 2022 Jürgen Ruszkowski
Ruhestands-Arbeitsplatz
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Der Autor Max Weber
Der Autor Max Weber
Maximilian Carl Emil Weber wurde am 21. April 1864 in Erfurt geboren und starb am 14. Juni 1920 in München. Er war ein deutscher Soziologe, Jurist und Nationalökonom. Er gilt als einer der Klassiker der Soziologie sowie der gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften.
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Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland
Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland
Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens
Mai 1918
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Vorbemerkung
Vorbemerkung
Diese politische Abhandlung ist eine Umgestaltung und Erweiterung von Artikeln, welche im Sommer 1917 in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlicht wurden. Sie sagt keinem staatsrechtlichen Fachmann etwas Neues, deckt sich aber auch nicht mit der Autorität einer Wissenschaft. Denn die letzten Stellungnahmen des Wollens können mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden. Wem die geschichtlichen Aufgaben der deutschen Nation nicht grundsätzlich über allen Fragen ihrer Staatsform stehen, oder wer jene Aufgaben grundsätzlich anders ansieht, auf den wirken die vorgebrachten Argumente nicht. Denn in dieser Hinsicht gehen sie von bestimmten Voraussetzungen aus. Von ihnen aus wenden sie sich gegen diejenigen, welche die Zeitlage auch jetzt noch für geeignet halten, zugunsten anderer politischer Gewalten gerade die Volksvertretung zu diskreditieren. Dies ist leider namentlich in ziemlich breiten akademischen und akademisch gebildeten Literatenkreisen seit nun 40 Jahren und noch während des Krieges geschehen. Sehr oft in der überheblichsten und maßlosesten Form, mit wegwerfender Gehässigkeit und ohne jede Spur von gutem Willen, die Existenzbedingungen leistungsfähiger Parlamente überhaupt auch nur verstehen zu wollen. In ihren politischen Leistungen sind die deutschen Volksvertretungen ganz gewiss nicht über die Kritik erhaben. Aber: was dem Reichstag recht ist, ist anderen Staatsorganen billig, welche von jenen Literaten stets sorgsam geschont und oft geradezu umschmeichelt worden sind. Wenn es aber von Dilettanten zum wohlfeilen Sport gemacht wird, eine Lanze gegen den Parlamentarismus zu brechen, so ist es füglich an der Zeit, auch einmal ohne besondere Schonung die politische Einsicht dieser Kritiker zu prüfen. Mit sachlichen und vornehmen Gegnern – und auch solche gibt es zweifellos – wäre es gewiss eine Freude, sachlich zu streiten. Aber es widerspräche deutscher Ehrlichkeit, Respekt zu bekunden vor Kreisen, aus deren Mitte ebenso wie viele andere auch der Verfasser wieder und wieder bald als „Demagoge“, bald als „undeutsch“ oder als „Agent des Auslandes“ verlästert wurde. Die zweifellose Gutgläubigkeit der meisten daran beteiligten Literaten war vielleicht das Beschämendste an solchen Exzessen.
Man hat gesagt: es sei jetzt nicht die Zeit, innerpolitische Probleme anzurühren, wir hätten jetzt anderes zu tun. „Wir?“ – Wer? Doch wohl: die Daheimgebliebenen. Und was hätten diese zu tun? Auf die Feinde zu schelten? Damit gewinnt man keinen Krieg.
Die Krieger draußen tun es nicht, und dies mit zunehmender Entfernung von den Schützengräben sich steigernde Schelten ist einer stolzen Nation schwerlich würdig. Oder: Reden und Resolutionen über das, was „wir“ zuerst alles annektieren müssen, ehe „wir“ Frieden schließen können? Dazu sei grundsätzlich bemerkt: Würde das Heer, welches die deutschen Schlachten schlägt, sich auf den Standpunkt stellen: „Was wir mit unserem Blut gewonnen haben, soll deutsch bleiben“, – nun, so würden „wir“, die Daheimgebliebenen, wohl noch das Recht haben, zu sagen: „Bedenkt, das wäre vielleicht politisch nicht klug.“ Aber blieben sie trotzdem dabei, dann hätten „wir“ zu schweigen. Dass jedoch „wir“, die Daheimgebliebenen, uns nicht scheuen, unseren Kriegern die Freude an ihren Leistungen zu vergiften, indem wir wie es wieder und wieder geschehen ist – ihnen zurufen: „Wenn das und das von uns ausgedachte Kriegsziel nicht erreicht wird, dann habt ihr umsonst geblutet“, – das scheint mir schon rein menschlich schlechthin unerträglich, für den Willen zum Durchhalten aber ausschließlich schädlich. Dafür wäre es besser, stets erneut nichts anderes zu sagen als: dass Deutschland nach wie vor für seine Existenz ficht gegen ein Heer, in welchem Neger, Ghurkas und allerhand andere Barbaren aus allen Schlupfwinkeln der Erde an der Grenze bereitstehen, unser Land zur Wüste zu machen. Das ist die Wahrheit, das versteht jeder und das hätte die Einigkeit erhalten. Stattdessen haben es sich die Literaten zum Geschäft gemacht, allerhand „Ideen“ zu fabrizieren, für welche, ihrer Ansicht nach, die Männer da draußen bluten und sterben. Ich glaube nicht, dass dies eitle Treiben irgendeinem unserer Kämpfer seine schwere Pflicht erleichtert hat. Der Sachlichkeit der politischen Erörterung hat es schwer geschadet.
Mir scheint, unsere Aufgabe daheim ist vor allem die: dafür zu sorgen, dass die heimkehrenden Krieger die Möglichkeit vorfinden, ihrerseits mit dem Stimmzettel in der Hand durch ihre gewählten Vertreter jenes Deutschland neu aufzubauen, dessen Bestand sie gerettet haben, und also: die Hindernisse, welche die jetzigen Zustände ihnen dabei in den Weg stellen, fortzuräumen, damit sie nicht nach der Heimkehr, statt an den Aufbau zu gehen, zunächst gegen jene Hemmnisse sterile Kämpfe zu führen haben. Wahlrecht und Parlamentsmacht sind dafür aber nun einmal – das kann keine Sophistik fortdisputieren – die einzigen Mittel, und es ist wenig offen und ein starkes Stück, wenn man allen Ernstes geklagt hat: eine Reform, welche den Kriegern überhaupt erst die Möglichkeit entscheidender Mitbestimmung gibt, werde „ohne ihre Befragung“ gemacht.
Man sagt ferner: jede Kritik an unserer Staatsform liefere den Feinden Waffen. Damit hat man uns 20 Jahre lang den Mund verbunden, bis es zu spät war. Was haben wir jetzt noch durch solche Kritik im Ausland zu verlieren? Die Feinde könnten sich beglückwünschen, wenn die alten schweren Schäden auch weiter bestehen blieben! Und gerade jetzt, wo der große Krieg in das Stadium getreten ist, in welchem wieder die Diplomatie das Wort ergreift, ist es hohe Zeit, alles dafür zu tun, dass nicht abermals die alten Fehler begangen werden. Dafür spricht vorerst leider wenig. Dass die deutsche Demokratie, wenn sie nicht ihre Zukunft verscherzen will, keinen schlechten Frieden schließt, wissen die Feinde, oder sie werden es erfahren.
Wer aus letzten Gründen des Glaubens jede Form autoritativer Herrschaft um ihrer selbst willen über alle politischen Interessen der Nation stellt, der mag sich dazu bekennen. Er ist unwiderlegbar. Aber man komme uns stattdessen nicht mit dem eitlen Gerede von dem Gegensatz der „westeuropäischen“ und der „deutschen Staatsidee“. In den einfachen Fragen der Technik der Bildung des Staatswillens, von denen hier gehandelt wird, gibt es nicht beliebig viele, sondern, für einen Massenstaat, nur eine begrenzte Zahl von Formen. Für einen sachlichen Politiker ist es eine sachliche, je nach den politischen Aufgaben der Nation zu beantwortende Frage: welche davon für seinen Staat jeweils zweckmäßig ist. Nur ein beklagenswerter Kleinglaube an die Eigenkraft des Deutschtums kann vermeinen, das deutsche Wesen werde in Frage gestellt, wenn wir zweckmäßige staatstechnische Institutionen mit anderen Völkern teilen. Ganz abgesehen davon, dass weder der Parlamentarismus der deutschen Geschichte fremd, noch irgendeines der ihm entgegengesetzten Systeme nur Deutschland eigen gewesen ist. Dass auch ein parlamentarisierter deutscher Staat anders aussehen wird als jeder andere, dafür sorgen völlig zwingende sachliche Umstände. Daraus aber einen Gegenstand der Eitelkeit für die Nation zu machen, wäre nicht sachliche, sondern eben: Literatenpolitik. Ob eine wirklich brauchbare parlamentarische Neuordnung in Deutschland kommt, wissen wir heute nicht. Sie kann sowohl von rechts her hintertrieben wie von links her verscherzt werden. Auch das letztere. Denn auch über Demokratie und Parlamentarismus stehen selbstverständlich die Lebensinteressen der Nation. Würde aber das Parlament versagen und käme infolgedessen das alte System wieder, so hätte das allerdings weittragende Folgen. Auch dann würde man das Schicksal dafür segnen dürfen, ein Deutscher zu sein. Aber auf große Hoffnungen für Deutschlands Zukunft würde man dann endgültig verzichten müssen, ganz einerlei, wie der Frieden aussieht.
Der Verfasser, der vor bald drei Jahrzehnten konservativ wählte und später demokratisch, dem damals die „Kreuzzeitung“ und jetzt liberale Blätter Gastrecht gewährten, ist weder aktiver Politiker, noch wird er es sein. Er verfügt – auch das sei vorsichtshalber bemerkt – über keinerlei Beziehungen gleichviel welcher Art zu irgendwelchen deutschen Staatsmännern. Er hat allen Anlass zu dem Glauben, dass keine Partei, auch nicht auf der Linken, sich mit dem, was er sagt, identifizieren werde, vor allem mit dem ihm persönlich Wichtigsten (Kap. IV), welches zugleich das ist, worüber parteipolitische Meinungsverschiedenheiten überhaupt nicht bestehen. Er hat seinen politischen Standpunkt so wie jetzt gewählt deshalb, weil die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ihn seit langem zu der festen Überzeugung gebracht hatten: dass die bisherige Art der staatlichen Willensbildung und des politischen Betriebes bei uns jede deutsche Politik, gleichviel welches ihre Ziele seien, zum Scheitern verurteilen müsse, dass dies bei gleichbleibenden Verhältnissen künftig immer wieder genau so sein werde, und dass keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass auch dann immer wieder Heerführer erstehen werden, die unter unerhörten Blutopfern der Nation uns aus der politischen Katastrophe militärisch heraushauen können.
Staatstechnische Änderungen machen an sich eine Nation weder tüchtig, noch glücklich, noch wertvoll. Sie können nur mechanische Hemmnisse dafür forträumen und sind also lediglich Mittel zum Zweck. Und man mag es vielleicht beklagen, dass so bürgerlich nüchterne Dinge, wie sie hier, unter absichtlicher Selbstbescheidung und Ausschaltung aller der großen inhaltlichen Kulturprobleme, die uns bevorstehen, erörtert werden, überhaupt wichtig sein können. Aber es ist nun einmal so. Im Großen lehrt es die Politik der letzten Jahrzehnte. Im Kleinen war in allerjüngster Zeit das völlige Scheitern der politischen Leitung des Reichs durch einen selten tüchtigen und sympathischen Beamten eine Art von Probe auf die in den kurz vorher publizierten Artikeln aufgemachte Rechnung. Wem alle diese Erfahrungen nicht genügen, dem genügt überhaupt kein Beweis. Der Politiker rechnet bei staatstechnischen Fragen mit den nächsten Generationen. Und diese kleine Gelegenheitsschrift will durchaus nur „der Zeit dienen“.
Die lange Verzögerung der von ähnlich gesinnten Freunden angeregten Veröffentlichung in dieser Form hatte zunächst in anderweitiger Inanspruchnahme, dann, seit November, in den üblichen technischen Schwierigkeiten des Drucks ihren Grund.
Der Verfasser
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Kapitel I. – Die Erbschaft Bismarcks
Kapitel I. – Die Erbschaft Bismarcks
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Die heutige Lage unseres parlamentarischen Lebens ist eine Hinterlassenschaft der langjährigen Herrschaft des Fürsten Bismarck in Deutschland und jener inneren Stellung, welche die Nation seit dem letzten Jahrzehnt seiner Reichskanzlerschaft zu ihm einnahm. Diese Stellungnahme findet kein Beispiel in der Haltung irgendeines anderen großen Volkes zu einem Staatsmann von dieser Größe. Nirgends sonst in der Welt hat selbst die schrankenloseste Bewunderung der Persönlichkeit eines Politikers eine stolze Nation veranlasst, ihre eigenen sachlichen Überzeugungen ihm so restlos zu opfern. Und andererseits hat sachliche Gegnerschaft gegen einen Staatsmann von so ungeheuren Dimensionen sehr selten sonst ein solches Maß von Hass ausgelöst, wie er seinerzeit gegen Bismarck auf der äußersten Linken und in der Zentrumspartei Deutschlands entstanden war. Woher kam das?
Die Nachwirkung der gewaltigen Ereignisse von 1866 und 1870 vollzog sich, wie oft, erst an der Generation, welche zwar die siegreichen Kriege als unauslöschlichen Jugendeindruck miterlebt, von den tiefen innerpolitischen Spannungen und Problemen aber, welche sie begleiteten, keine eigene klare Anschauung hatte. In ihren Köpfen erst wurde Bismarck zur Legende. Jenes Geschlecht politischer Literaten, welches seit etwa 1878 in das öffentliche Leben eintrat, spaltete sich in seiner Haltung zu ihm in zwei ungleich große Hälften, von denen die eine, größere, nicht etwa die Großartigkeit seines feinen und beherrschenden Geistes, sondern ausschließlich den Einschlag von Gewaltsamkeit und List in seiner staatsmännischen Methode, das scheinbar oder wirklich Brutale daran, anschwärmte, die andere aber mit kraftlosem Ressentiment dagegen reagierte. Wenn die zweite Spielart nach seinem Tode schnell verschwand, so wurde die erste seitdem literarisch erst recht gepflegt. Sie prägt seit langem die historische Legende der konservativen Politiker nicht nur, sondern auch ehrlich begeisterter Literaten und endlich aller jener Plebejer des Geistes, welche durch äußerliche Nachahmung seiner Gesten sich als Geist von seinem Geist zu legitimieren meinen. Bismarck selbst hatte für diese letzte, bei uns nicht einflusslose Schicht beglaubigtermaßen ausschließlich die tiefste Verachtung, so bereit er natürlich war, diese seine Höflinge gegebenenfalls politisch ebenso zu benutzen wie andere Leute vom Schlage des Herrn Busch. „Phrasenhaft im Inhalt und schülerhaft in der Form“ schrieb er auf den Rand eines (im heutigen Sinn) „alldeutschen“ Gutachtens, welches er sich einmal probeweise von einem Mann erbeten hatte, der von den heutigen Vertretern dieser Spielart sich immerhin dadurch wesentlich unterschied, dass er auf eigene nationale Leistungen nicht mit dem Munde, sondern mit kühner Tat hinweisen konnte. Wie Bismarck aber über seine konservativen Standesgenossen dachte, ist in seinen Denkwürdigkeiten niedergelegt.
Er hatte zu deren Geringschätzung einigen Grund. Denn was hatte er erlebt, als er 1890 aus dem Amt scheiden musste? Dass das Zentrum, dem er den Attentäter Kullmann „an die Rockschöße gehängt“, die Sozialdemokraten, gegen welche er die Hetzjagd des Ausweisungsparagraphen im Sozialistengesetz losgelassen, die damaligen Freisinnigen, die er als „Reichsfeinde“ stigmatisiert hatte, Sympathie äußern sollten, war billigermaßen zu viel verlangt. Aber die anderen, unter deren lautem Beifall dies alles geschehen war? Auf den preußischen Ministersesseln und in den Reichsämtern saßen konservative Kreaturen, die er allein aus dem Nichts gehoben hatte. Was taten sie? Sie blieben sitzen. „Ein neuer Vorgesetzter“: damit war für sie der Fall erledigt. Auf den Präsidentenstühlen der Parlamente im Reich und in Preußen saßen konservative Politiker. Was riefen sie dem scheidenden Schöpfer des Reichs zum Abschied nach? Sie gedachten des Zwischenfalls mit keinem Wort. Welche von den großen Parteien seiner Gefolgschaft verlangte auch nur Rechenschaft über die Gründe seiner Entlassung? Sie alle rührten sich nicht, sondern wandten sich der neuen Sonne zu. Der Vorgang findet in den Annalen keines stolzen Volkes seinesgleichen. Aber die Geringschätzung, welche er verdient, kann durch jene Bismarck-Begeisterung, welche die gleichen Parteien später in Erbpacht nahmen, nur noch erhöht werden. Seit nun fünfzig Jahren haben die preußischen Konservativen politischen Charakter im Dienst großer staatspolitischer oder idealer Ziele – so wie die Stahl und Gerlach und die alten Christlich-Sozialen in ihrer Art sie hatten – niemals gezeigt. Man prüfe die Geschehnisse nach: ausschließlich dann, wenn es entweder an ihre Geldinteressen oder an ihr Amtspfründenmonopol und ihre Ämterpatronage oder (was damit identisch ist) an ihre Wahlrechtsprivilegien gehen sollte: – dann freilich arbeitete ihre landrätliche Wahlmaschine rücksichtslos auch gegen den König. Der ganze traurige Apparat „christlicher“, „monarchischer“ und „nationaler“ Phrasen trat und tritt dann in Aktion: – genau das gleiche, was jene Herren jetzt den angelsächsischen Politikern bei deren Phrasenschatz als „cant“ vorwerfen. Als es sich einige Jahre nach Bismarcks Entlassung um eigene materielle Interessen, zollpolitische vor allem, handelte, da erst besannen sie sich auf Bismarck als Vorspann und spielen sich seitdem allen Ernstes als Hüter seiner Traditionen auf. Es besteht triftiger Grund, anzunehmen, dass Bismarck selbst diesem Treiben auch damals nie anders als mit Missachtung gegenüberstand. Private Äußerungen beweisen es. Wer will es ihm verdenken? Aber die Beschämung über jene Karikatur eines politisch reifen Volkes, welche die Nation im Jahre 1890 bot, darf doch den Blick dafür nicht trüben: dass Bismarck in dieser würdelosen Nichtigkeit seiner Parteigängerschaft in tragischer Art erntete, was er selbst gesät hatte. Denn eben diese politische Nichtigkeit des Parlaments und der Parteipolitiker hatte er gewollt und absichtsvoll herbeigeführt.
Niemals hatte ein Staatsmann, der nicht aus dem Vertrauen des Parlaments heraus an das Ruder gekommen war, eine so leicht zu behandelnde und dabei so zahlreiche politische Talente umfassende Partei als Partnerin wie Bismarck von 1867 bis 1878. Man mag die politischen Ansichten der damaligen nationalliberalen Führer ablehnen. Auf dem Gebiet der hohen Politik und an beherrschender Energie des Geistes überhaupt darf man sie natürlich nicht an Bismarck selbst messen, neben dem selbst ihre besten als Mittelmaß wirken, wie schließlich ja alle anderen Politiker des Inlands erst recht und die meisten des Auslands ebenso. Ein Genie erscheint nun einmal günstigenfalls alle Jahrhunderte. Aber wir können dem Schicksal danken, wenn es die Leitung unserer Politik im Durchschnitt in die Hände von Politikern des Niveaus gelegt hätte und künftig legen würde, wie sie damals in jener Partei existierten. Es ist wahrlich eine der dreistesten Entstellungen der Wahrheit, wenn trotzdem politische Literaten bei uns der Nation einreden: „Das deutsche Parlament habe bisher große politische Talente nicht hervorzubringen vermocht.“ Und es ist jämmerlich, wenn solchen Vertretern des Parlamentarismus, wie Bennigsen, Stauffenberg, Völk, oder auch der Demokratie, wie der preußische Patriot Waldeck, durch die gegenwärtige subalterne Literaten-Mode die Qualität von Repräsentanten „ deutschen Geistes“ abgesprochen wird, der in der Paulskirche mindestens ebenso stark lebte wie in der Bürokratie und besser als in den Tintenfässern dieser Herren. – Der große Vorzug jener Politiker aus der Blütezeit des Reichstages war zunächst: Sie hatten ihre eigenen Schranken und die Irrtümer ihrer Vergangenheit kennengelernt und anerkannten die ungeheure geistige Überlegenheit Bismarcks. Nirgends hat er leidenschaftlichere ganz persönliche Bewunderer gehabt als in ihren Reihen, gerade auch in denen der späteren Sezessionisten. Und für ihr persönliches Niveau sprach vor allem eines: das völlige Fehlen allen Ressentiments gegenüber seiner überlegenen Größe. Davon wird jeder, der sie gekannt hat, alle irgend erheblichen Persönlichkeiten unter ihnen völlig freisprechen. Für den, der über die Vorgänge unterrichtet ist, grenzt es schlechterdings an Verfolgungswahn, wenn Bismarck ernstlich die Vorstellung nährte, gerade diese Politiker hätten irgendwann daran gedacht, ihn zu „stürzen“. Stets erneut habe ich aus dem Munde ihrer Führer gehört: Bestände irgendwelche Chance, dass für die höchste Stelle stets ein neuer Bismarck erstünde, dann wäre der Cäsarismus: die Regierungsform des Genies, die gegebene Verfassung für Deutschland. Das war völlig aufrichtige Überzeugung. Freilich hatten sie mit ihm dereinst die Klingen scharf gekreuzt. Ebendaher kannten sie auch seine Schranken und waren keineswegs geneigt, unmännlich das Opfer ihres Intellekts zu bringen, obwohl sie, bis zur Selbstverleugnung, immer wieder geneigt waren, ihm im Interesse der Vermeidung eines Bruchs entgegenzukommen, – ungleich weiter, als die Rücksicht auf die Stimmung der Wähler es zuließ, welche ihnen darin die Gefolgschaft zu versagen drohten. Einen Kampf um formale Parlamentsrechte mit dem Schöpfer des Reichs scheuten die nationalliberalen Politiker nicht nur deshalb, weil sie voraussahen, dass ein solcher rein parteipolitisch nur dem Zentrum zur Macht verhelfen würde, sondern auch weil sie wussten, dass er Bismarcks eigene Politik ebenso wie das Parlament auf lange hinaus in der sachlichen Arbeit lähmen würde: „Es gelingt nichts mehr“, hieß es bekanntlich in den achtziger Jahren. Ihre innerste, im internen Kreise oft ausgesprochene Absicht war: durch die Zeit der Herrschaft dieser grandiosen Persönlichkeit im Reich jene Institutionen hindurchzusteuern, auf deren Leistungsfähigkeit nun einmal später, wenn man sich auf Politiker gewöhnlicher Dimensionen würde einrichten müssen, die Stetigkeit der Reichspolitik allein beruhen könne. Zu diesen Institutionen zählten sie allerdings auch ein positiv mitbestimmendes und dadurch die großen politischen Begabungen anziehendes Parlament und: starke Parteien.
Sie wussten genau, dass die Erreichung dieses Zieles schlechterdings nicht von ihnen allein abhing. Sehr oft habe ich gelegentlich der großen Wendung von 1878 aus ihrer Mitte sagen hören: „Eine Partei in der völlig prekären Lage der unsrigen zu zerstören oder ihr die Fortexistenz unmöglich zu machen, dazu bedarf es keiner großen politischen Kunst. Aber wenn man es tut, so wird man eine andere große Partei, die rein sachlich mitarbeitet, nicht wieder schaffen können, sondern zum interessenpolitischen und zum Patronagetrinkgelder-System greifen müssen, dennoch aber die schwersten politischen Erschütterungen in den Kauf zu nehmen haben.“ Man mag, wie gesagt, im einzelnen manche Stellungnahmen der Partei, deren Initiative schließlich doch die Amtsstellung des Reichskanzlers selbst in der Verfassung (Antrag Bennigsen), die Einheit des bürgerlichen Rechts (Antrag Lasker), die Reichsbank (Antrag Bamberger), überhaupt die Mehrheit aller noch heute sich bewährenden großen Reichsinstitutionen zu danken ist, beurteilen, wie immer man will. Es ist leicht, ihre fortwährend mit der schwierigen Lage Bismarck gegenüber rechnende Taktik nachträglich zu kritisieren. Man kann die natürlichen Schwierigkeiten einer so rein politisch orientierten und dabei doch mit veralteter ökonomischer Dogmatik belasteten Partei den wirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen gegenüber für den Abstieg ihrer Stellung mit verantwortlich machen, – obwohl es schließlich in allen diesen Dingen bei den konservativen Parteien wahrlich nicht besser stand. Der Gegensatz ihrer Verfassungswünsche nach 1866 gegen Bismarcks Ziele lag in ihren damaligen – nach Treitschkes Art – unitarischen Idealen (die wir inzwischen aus zum Teil ganz außerpolitischen Gründen aufgegeben haben), nicht, wie man gern sagt, in „Kurzsichtigkeit“. In den fundamentalen politischen Voraussetzungen ihres Verhaltens hat ihnen jedenfalls die spätere Entwicklung völlig recht gegeben.
Sie konnten ihre selbstgewählte politische Aufgabe nicht durchführen und zerbrachen, letztlich nicht aus sachlichen Gründen, sondern weil Bismarck keine wie immer geartete irgendwie selbständige, d. h. nach eigenen Verantwortlichkeiten handelnde Macht neben sich zu dulden vermochte. Nicht innerhalb der Ministerien. Einzelnen parlamentarischen Politikern wurde der Eintritt in die Ministerien angeboten; aber sie alle mussten die Erfahrung machen, dass Bismarck schon im Voraus klüglich Veranstaltungen traf, den neuen Mitarbeiter jederzeit durch rein persönliche Diskreditierung zu Fall bringen zu können (dies und nichts anderes war letztlich auch der Grund von Bennigsens Ablehnung). Nicht im Parlament; seine ganze Politik ging darauf aus, irgendeine starke und dabei irgendwie selbständige konstitutionelle Partei sich nicht konsolidieren zu lassen. – Dazu boten ihm, neben der höchst absichtsvollen und geschickten Ausnützung der zollpolitischen Interessenkonflikte, die Mittel vor allem: die Militärvorlagen und das Sozialistengesetz.
In Militärfragen war der innerliche Standpunkt der damaligen nationalliberalen Politiker nach meiner Kenntnis der: dass die Präsenzstärke des Heeres, welche sie so hoch wie irgend erforderlich zu halten geneigt waren, eben deshalb als rein sachliche Frage behandelt, der alte Zwiespalt der Konfliktszeit dadurch begraben und wenigstens diese Quelle demagogischer Erregung zum Heile des Reichs verstopft werden müsse. Die schlichte Feststellung durch das alljährliche Budgetgesetz war dafür das einzige Mittel. Keiner der Führer hat je bezweifelt, dass auf diesem Wege die erforderliche Vermehrung des Heeres ohne innerpolitische und internationale Erregung und Erschütterung vor sich gehen, und dass vor allem auch die Militärverwaltung bei dieser rein sachlichen Behandlung weit höhere Anforderungen in weit unauffälligerer Art durchsetzen werde, als wenn diese sachliche Frage mit innerpolitischen Machtinteressen der Amtsstellen gegenüber dem Parlament verquickt würde und dadurch die Militärfragen alle sieben Jahre sich auswüchsen zu einer katastrophenartig die Grundfesten des Reiches erschütternden politischen Sensation und einem wilden Wahlkampf unter der Parole: „Kaiser-Heer oder Parlaments-Heer!“ Einer tief unwahrhaftigen Parole: denn die Armee wurde ja durch jährliche Bewilligung nicht um Haaresbreite mehr Parlamentsheer als bei einer Bewilligung auf sieben Jahre. Zumal das Septennat ohnehin Fiktion blieb. Ausschließlich unter der Fragestellung: „Bewilligung der von allen bürgerlichen Parteien als erforderlich anerkannten Präsenzstärke auf drei oder sieben Jahre?“ wurde der Reichstag 1887 aufgelöst und die Bewilligung auf nur drei Jahre als ein „Angriff auf Kronrechte“ hingestellt. Genau drei Jahre später aber, 1890, wurde ein neues Gesetz über die Präsenzstärke eingebracht, was Windthorst nicht verfehlte, den Gegnern höhnisch, aber mit vollem Recht, vorzuhalten.
Ludwig Windthorst – 1812 – 1891 – war als führender Politiker der katholischen Zentrum-Partei der wichtigste innenpolitische Gegenspieler des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Über alle Parteigrenzen hinweg galt er als der bedeutendste Parlamentarier seiner Zeit.
Auf diese Art wurde der alte begrabene preußische Militärzwist in die Reichspolitik hinübergenommen und die Militärfrage mit parteipolitischen Interessen verknüpft. Eben dies aber wollte – das darf man nicht verkennen – Bismarck, der gerade in jener demagogischen Parole den Weg sah, den Reichstag und die liberalen Parteien einerseits bei dem Kaiser, der die Konfliktszeit durchlebt hatte, als „militärfeindlich“ zu verdächtigen, andererseits aber die Nationalliberalen bei ihren Wählern wegen des Septennats als Verräter der Budgetrechte zu diskreditieren. Nicht anders das Sozialistengesetz. Die Partei war bereit, sehr weit entgegenzukommen, und selbst die Fortschrittler waren geneigt, Bestimmungen zu bewilligen, welche das, was sie „Klassenverhetzung“ nannten, allgemein und dauernd unter gemeinrechtliche Strafe stellten. Aber Bismarck wollte gerade das Ausnahmegesetz als solches. Die Auflösung des Reichstags unter dem aufregenden Eindruck des zweiten Attentats ohne jeden Versuch, sich mit ihm zu verständigen, war ihm lediglich ein demagogisches Mittel, die einzige damals mächtige Partei zu sprengen.
Das gelang. Und das Resultat? Für die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf eine bei aller Kritik ihm innerlich eng verbundene, von Anfang an bei der Reichsgründung mitarbeitende parlamentarische Partei hatte Bismarck die dauernde Abhängigkeit vom Zentrum, einer auf außerparlamentarische, für ihn unangreifbare Machtmittel sich stützenden Partei, eingetauscht, deren tödlicher Hass gegen ihn trotzdem bis an seinen Tod währte. Als er später seine berühmte Rede vom Schwinden des „Völkerfrühlings“ hielt, wurde ihm von Windthorst höhnisch, aber mit Recht entgegengehalten, dass er ja selbst die große Partei zerschlagen habe, die ihn in vergangenen Zeiten gestützt habe. Die von der nationalliberalen Partei verlangte Art der Sicherung des Einnahmebewilligungsrechtes des Reichstages hatte er, weil sie die „Parlamentsherrschaft“ begründe, abgelehnt, – und musste nun dem Zentrum das genau Gleiche bewilligen, aber in der denkbar übelsten Form: in dem Trinkgelderparagraphen der sogenannten clausula Franckenstein, an die sich in Preußen die noch üblere, später mühsam wieder beseitigte lex Huene anschloss. Er musste überdies die schwere Niederlage der Staatsautorität im Kulturkampf, für dessen ganz verfehlte Methoden er vergebens (und wenig redlich) die Verantwortung abzulehnen versucht hat, einstecken und bot andererseits der Sozialdemokratie in dem „Ausnahmegesetz“ die denkbar glänzendste Wahlparole. Demagogie, und zwar eine sehr schlechte Demagogie, wurde in Bismarcks Händen auch die soziale Gesetzgebung des Reiches, so wertvoll man sie rein sachlich finden mag. Den Arbeiterschutz, der doch für die Erhaltung unserer physischen Volkskraft das Unentbehrlichste war, lehnte er als Eingriff in Herrenrechte (mit zum Teil unglaublich trivialen Argumenten) ab. Die Gewerkschaften, die einzig möglichen Träger einer sachlichen Interessenvertretung der Arbeiterschaft, ließ er aus dem gleichen Standpunkt heraus auf Grund des Sozialistengesetzes polizeilich zersprengen und trieb ihre Mitglieder dadurch in den äußersten rein parteipolitischen Radikalismus. Dagegen glaubte er, an gewissen amerikanischen Mustern orientiert, „Staatsgesinnung“ und „Dankbarkeit“ durch Gewährung staatlicher oder staatlich erzwungener Renten zu schaffen. Ein schwerer politischer Irrtum. Denn noch jede auf Dankbarkeit spekulierende Politik ist gescheitert: – auch für die politische Werkheiligkeit gilt das Wort: „Sie haben ihren Lohn dahin.“ Wir erhielten Renten für die Kranken, die Beschädigten, die Invaliden, die Alten. Das war gewiss schätzenswert. Aber wir erhielten nicht die vor allem nötigen Garantien für die Erhaltung der physischen und psychischen Lebenskraft und für die Möglichkeit sachlicher und selbstbewusster Interessenvertretung der Gesunden und Starken, derjenigen also, auf die es, rein politisch betrachtet, doch gerade ankam. Wie im Kulturkampf, so war er auch hier über alle entscheidenden psychologischen Voraussetzungen hinweggeschritten. Und vor allem wurde in der Behandlung der Gewerkschaften das eine übersehen, was manche Politiker noch heute nicht begriffen haben: dass ein Staat, welcher den Geist seines Massenheeres auf Ehre und Kameradschaft gründen will, nicht vergessen darf, dass auch im Alltag, in den ökonomischen Kämpfen der Arbeiterschaft, das Gefühl für Ehre und Kameradschaft die allein entscheidenden sittlichen Kräfte zur Erziehung der Massen gebiert, und dass man sie deshalb sich frei auswirken lassen muss. Dies und nichts anderes bedeutet ja, rein politisch angesehen, „soziale Demokratie“ in einem unvermeidlich noch auf lange hinaus kapitalistischen Zeitalter. Noch heute leiden wir unter den Folgen dieser Politik. Bismarck selbst aber hatte, alles in allem, um sich herum eine Atmosphäre und Lage geschaffen, welche 1890 im Falle seines Verbleibens im Amt nur die bedingungslose Unterwerfung unter Windthorsts Willen oder den Staatsstreich zur Wahl stellte. Es war kein Zufall, wenn die Nation das Geschehnis seines Rücktritts mit vollkommener Gleichgültigkeit aufnahm.