Czytaj książkę: «Ein kleines Leben»

Czcionka:

Matthias Klingenberg

Ein kleines Leben

Eine Spurensuche

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-233-7 (Print) // 978-3-86408-234-4 (E-Book)

© 2017 Vergangenheitsverlag, Berlin

www.vergangenheitsverlag.de

Lektorat: Bettina Moll (www.texttiger.de)

Covergestaltung: Frank Petrasch

Coverabbildung: Wolfgang Klingenberg

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Instamatic

Prolog oder „Jever Licht“

Transgenerationales Schweigen

#Reminder

Das Arbeitszimmer meines Großvaters

Kriegsbericht – Teil 1

Stadt der Helden

#das dorf

Gadenstedt/Bargfeld

Gruppenbild in Schwarz-Weiß

Beschriftungen

Ich schaue mir Kisten an

#Karl im Traum

Joppen

Luckenwalde

Der Bolzberg

9. Mai 2015

Kanisterbombe

Königsbrück

Manöver SPEARPOINT

Früher ratterten die Schienen beim Drüberfahren

Feste

8 Neonröhren x 25 Watt

Kriegsbericht – Teil 2

Brüx

Westfront

#Der letzte Urlaub 1990 in Hahnenklee

Erinnerungen verbrennen

Epilog

Instamatic

Im Nu geladen!

KODAK

CAMERA

INSTAMATIC 100

An Ihrer neuen KODAK Camera werden Sie Ihre helle Freude haben, denn mit der INSTAMATIC 100 photographieren Sie drin­nen so leicht wie draussen, farbig so gut wie schwarzweiss. Vom Film­einlegen bis zum Auslösen geht alles so spielend einfach, daß Sie nur überrascht sein werden.

Sie brauchen nur folgendes zu tun …

– Camera öffnen – KODAPAK Kassette einlegen – Camera-Rücken­­deckel schliessen.

– Filmtransporthebel durchschalten – fertig zur ersten Aufnahme.

– Motiv durch den hellen, klaren Sucher anvisieren und …

– Auslösen.

Verwenden Sie KODAK-Filme Nr. 126 in der KODAPAK Kas­sette (für blitzschnelles Laden und Entladen). Sie können Schwarz­weiss­bilder, Farbbilder und Farbdias machen, je nachdem welchen Film Sie verwenden.1

Im Nachlass meines Großvaters fanden sich zwei Kameras. Eine Kodak Instamatic 100 und eine Zeiss Ikon Nettar 515/2. Als ich mich auf den Weg machte, mehr über das Leben meines Großvaters zu erfahren, beschloss ich, die Orte, die ich besuchen würde, mit seiner Originalkamera zu dokumentieren. Eigentlich hätte ich mich aus einer Vielzahl von Gründen für die Zeiss Ikon entscheiden müssen: Dieser Apparat hatte Karl an die Fronten des Krieges begleitet. Seine mit dieser Kamera gemachten Aufnahmen würden eine wichtige Rolle bei meinen Recherchen und in diesem Buch spielen. Die Zeiss Ikon ist außerdem die eindeutig bessere Kamera, die Instamatic eher ein Spielzeug, gekauft irgendwann in den 1960er-Jahren. Trotzdem beließ ich die Rollfilmkamera, wo ich sie gefunden hatte. Aus zwei einfachen Gründen: Erstens bin ich ein mise­rabler Fotograf – die Zeiss hätte mich überfordert – und zwei­tens habe ich meinen Großvater nie mit der Zeiss-Kamera fotografieren sehen. An die Instamatic in seinen Händen kann ich mich aber gut erinnern.

Leider wurde die Produktion der für die Instamatic not­wen­digen Kassettenfilme 2007 eingestellt, sodass ich gezwun­gen war, schon abgelaufene Filme im Internet zu ersteigern, aber irgendwie passt das ja zum Projekt, dachte ich mir.

1 Aus einem Werbetext der Firma Kodak für die Instamatic-Kamera (1960er-Jahre).

Prolog oder „Jever Licht“

„Man besucht sich ja nur selber, wenn man zu den Toten geht.“

(Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm)

Mein Opa, Karl Krüger, starb am 17. Mai 1993. Kurz zuvor, es mag am Freitag, den 7. Mai, gewesen sein, bekam ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt. Meine Eltern waren damals zur Kur irgendwo im Süden der Republik und wir nutzten, recht schamlos, die Abwesenheit der Erziehungsberechtigten aus, um in ihrem Haus Party zu machen.

Meine Großeltern lebten auf dem gleichen Grundstück wie wir. Sie bewohnten das alte Fach­werkvorderhaus, wohingegen wir im Neubau zum großen Garten hinaus residierten. Ich erinnere mich noch genau an die mal wohlwollenden, mal skeptischen Blicke und Kommentare meines Opas – ja, auch der Oma – bezüglich des sich vor ihren Augen abspielenden tagelangen Abitur-Party-Rausches. Meine Oma – Toni war ihr Name, stand auch so in ihrem Pass – kam dann mit grimmigem und leidendem Blick die kurze Treppe hinauf, die vom Alt- zum Neubau führt, und versuchte, uns die ausgelassene Stimmung zu vermiesen, indem sie sich über die Lautstärke beschwerte und nachfragte, ob denn die Freun­dinnen und Freunde, die da auf dem elterlichen Teppich und Sofa herumlungerten, nicht auch einmal nach Hause müssten. Es war mir peinlich, wenn sie das tat, mich vor meinen Freun­den zurechtwies.

Dies war auch das Wochenende, an dem ich mit meinem Mitschüler Jörg versuchte, so viele Hannen-Alt-Flaschen leer­zu­trinken und auf den Terrassenboden zu platzieren, bis dieser komplett mit Flaschen gefüllt wäre. Mein Opa ging, während wir uns oben der x-ten Altbierflasche widmeten, unten an der Terrasse vorbei in den Garten, schaute kurz herauf und meinte, ob es nicht Zeit wäre, ein paar leere Flaschen in den Alt­glas­­container zu bringen. Unser Anliegen blieb ihm unver­ständlich.

Zu erwähnen sind wohl auch die ausgedehnten, sich auf dem Wohnzimmerteppich abspielenden, nicht so recht erfolg­reichen Annäherungsversuche an Nicole, einer Frau, die nach­haltig mei­n­en Geschmack, vor allem in Bezug auf Musik, Kleidung und Kunst sowie natürlich in Bezug auf Frauen geprägt hat. Ich verehrte Nicole, die auch in meinem Abitur­jahrgang war, schon seit Jahren. „Verehrte“ ist zu schwach, ich himmelte sie an. Sie verkörperte, was ich mir unter dunkel, alternativ und unangepasst vorstellte. Sie trug immer schwarz, hatte seltsam andere Freunde und hörte Musik, die sonst nie­mand, den ich kannte, mochte, geschweige denn kannte. An einem dieser Abende, irgendwann zwischen der Zeugnis­ausgabe und dem Tod meines Großvaters, brachte sie einige ihrer Schallplatten mit, wir öffneten einen schweren roten Franzosen aus dem Keller meines Vaters, rauch­ten, lagen auf dem Wohnzimmerteppich und degustierten Nicoles Tonträger: Es war die 1989 erschiene LP Haus der Lüge von den Einstür­zenden Neubauten, die mich völlig aus dem Konzept brachte. Ich erinnere mich an eine stundenlange Diskus­sion mit Nicole über eine Zeile aus dem Mund des Sängers der Neubauten: „Gott hat sich erschossen, ein Dachgeschoss wird ausgebaut“. An dieser Stelle sollte vielleicht gesagt werden, dass weder Nicole noch ich aus einer aufgeklärten, urbanen Bildungs­bürger­familie kamen, sondern dass sich all dies in einem klei­nen Dorf in Niedersachsen abspielte.

‚Gott ist tot‘ und die Unverblümtheit, mit der diese These aus den Blaupunkt-Lautsprechern meiner Eltern hallte, war für uns noch verstörend. Hinzu kam, dass es genau diese Platte war – auf ihrem Cover ist ein pinkelndes stilisiertes Pferd abge­bildet –, vor der mich unser Gemeindepastor gewarnt hatte: Denn als sich im Jahr zuvor, ausgerechnet am Neujahrsmorgen 1992, unser Mitschüler S. das Leben nahm, machten dessen Eltern und Pastor den schlechten Einfluss eben dieser Lang­spielplatte hierfür verantwortlich. S. hatte außerdem ein Tour-Poster mit der Coverabbildung in seinem Zimmer aufgehängt und liebte die Neubauten, so berichtete es mir immerhin der Dorfpfarrer. Mich hat Haus der Lüge bisher nicht in den Selbst­mord getrieben, eher dazu, mir nach und nach alle Veröf­fentlichungen der Einstürzenden Neubauten zu kaufen.

Der 17. Mai 1993 war ein an sich schöner Tag, die Sonne schien und eine Vorahnung des bevorstehenden Sommers lag in der Luft. Das Wochenende war alkoholdurchsetzt gewesen, das Vorhaben, die Terrasse mit Altbierflaschen zu füllen, war letztendlich doch an Jörgs und meiner Müdigkeit gescheitert und auf später verschoben worden. Für den Montag war bis­her nichts Bestimmtes geplant, wobei man nie wissen konnte, was der Abend, die Nacht an spontanen Zusammen­künften und Besäufnissen noch bringen konnte. Ich erinnere mich nicht, wo sich mein fünf Jahre jüngerer Bruder an diesem Nachmittag aufhielt, vielleicht war er bei Freunden? Bei den Pfadfindern? Oder saß er mir gegenüber, als ich auf der Terrasse an einer Flasche von dem übrig gebliebenen Hannen-Alt nuckelte und viel zu lauter Musik durch die geöffneten Terrassentüren lauschte? Ich werde ihn später fragen und seine Erinnerungen nachtragen müssen. Karl oder besser Kalle – wir nannten ihn Opa Kalle, dass sein richtiger Name Karl war, habe ich erst viel später begriffen – kam in den Garten, holte sich einen Klappstuhl aus seiner Garage, setzte sich und be­gann, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Irgendwann gesellte sich Toni dazu. Ebenfalls mit einem Kreuzworträtsel bewaffnet, füllten beide nun ihre Kästchen aus. Es war ungewöhnlich warm an diesem Sonntag (ich will dies hier betonen, weil es in meiner Erinnerung einen zentralen Platz einnimmt). Mein Groß­vater war Diabetiker und hatte außerdem nach einer schweren Magendarmoperation (war es Darmkrebs gewesen?) einen künstlichen Darmausgang, den er, vor sich geschnallt, mit sich herumtrug und ihn viel dicker aussehen ließ, als er in Wirklichkeit war. Aus diesen Gründen musste er sich beim Alkohol zurückhalten, was er auch tat: Er trank seit Jahren nur noch Light-Bier der friesischen Jever-Brauerei und meine Oma hatte sich ihm irgendwann solidarisch angeschlossen. Es war zu einem täglichen Ritual der beiden geworden, diese kleinen, schlanken Flaschen mit dem grün-weißen Etikett zu leeren. Mein Bruder und ich, und eigentlich auch meine Eltern, machten sich lustig über dieses Light-Bier-Getrinke – zumal beide Großeltern nicht in der Lage waren, das englische Wort light auszusprechen, weshalb bei ihnen das Getränk „Jever Licht“ hieß.

Karl hatte Diabetes, nahm Blutdruckpillen ein und war ein kriegsversehrter Mann, Ende 70, dem man nach seiner Darm­operation – bei guter Pflege! – allerhöchstens noch fünf Jahre versprochen hatte. Diese fünf Jahre hatten sich am 17. Mai nahezu verdoppelt. Karl Krüger ruft also seiner Frau Toni, mit der er zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre verheiratet ist, hinter­her und bittet sie, ausnahmsweise ein Weizenbier aus den Vorräten meiner Eltern mitzubringen. Ich glaube, mich daran zu erinnern, dass sie sich noch einmal umdrehte und nach­fragte: „Bist Du sicher?“ Er nickt und sie geht. Eine Viertel­stunde später sitzen beide wieder da und Karl hält ein großes Glas Erdinger oder Franziskaner Hefeweizen in der Hand. Er trinkt, steht mit dem Glas in der Hand auf und fühlt sich irgendwie nicht gut.

Der Rest des Abends verläuft, soweit ich mich entsinne, unspektakulär. Ich gehe relativ früh ins Bett. Der Vorabend und die Abende davor haben ihre Spuren hinterlassen, wahr­scheinlich falle ich todmüde in mein Hochbett und schlum­mere innerhalb von Minuten ein. Eines der Fenster – es sind drei an der Zahl, die vom Erker meines Zimmers auf die Dorfstraße schauen – ist gekippt. (Ich halte das bis heute so und bilde mir ein, ansonsten zu ersticken.) Gegen halb drei wache ich auf. Die Sirene eines Rettungswagens reißt mich aus dem Schlaf. Sie ist so laut, so nah, dass ich aufstehe und aus dem Fenster sehe: Dort unten, auf der Straße, steht eine Ambu­lanz. Das Blaulicht spiegelt sich in der Scheibe meines Fensters. Das Martinshorn ist mittlerweile abgestellt, der Wa­gen hat sein Ziel erreicht.

Dass sich irgendetwas im Haus meiner Großeltern ereignet haben musste, war mir gleich klar. Dass es sich theoretisch ja auch um meinen Bruder, der im Nebenzimmer schlief, hätte handeln können, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Hatte ich schon in diesem Augenblick eine Vorahnung? Dachte ich noch, der Krankenwagen sei wegen meiner Großmutter gekommen? Oder wusste ich schon, dass mein Großvater gerade gestorben war? In der Rückschau will es mir so erscheinen, aber ob hier die Verklärung gute Arbeit geleistet hat oder ob es wirklich so gewesen ist, vermag ich nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Ich kletterte die Sprossenwand herunter, die die erste Etage meines Zimmers mit dem Erkerraum verband, und nahm die zwei weiteren Treppen, die hinüber zum Altbau meiner Großeltern führten. Hierzu musste ich den Flur überqueren, der den Alt- mit dem Neubau verbindet. Die Haustür steht sperrangelweit offen. Nothilfeausrüstungsgegenstände stehen im Flur herum, das Blaulicht des Krankenwagens erhellt flackernd blau den schlauchartigen Raum. In der Wohnung der Großeltern sitzt Toni, meine Großmutter, im Sessel. Sie wirkt aufgeregt und schläfrig zugleich. Der Sanitäter teilt mir die schon erahnte unfassbare Neuigkeit mit und sagt, dass er ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt habe. Mein Bruder ist aufge­wacht, herbeigelaufen und steht neben mir. Der Tote liegt oben im Schlafzimmer im Ehebett, es war ein Herzinfarkt. „Da war nichts mehr zu machen, als wir kamen, war er schon tot.“ Der Rettungssanitäter von eben zuckt mit den Schultern: „Mein Beileid.“ Sein Kollege räumt derweil die Gerätschaften wieder zusammen und trägt sie zum vor dem Haus stehenden Kran­kenwagen.

Außer den beiden Sanitätern war noch ein Hausarzt aus dem Nachbardorf anwesend, der mich fragt, ob denn die Eltern nicht zu Hause seien. „Nein, die sind auf Kur“, erwi­dere ich. Die Großmutter im Sessel kommt für einen Moment aus den Tiefen des Beruhigungsmittelrausches zurück in das Hier und Jetzt: „Wir müssen Frau Krick anrufen! Wo habe ich bloß die Nummer?“ Frau Krick und der Tod waren in unserem Dorf nicht voneinander zu trennen; sie leitete das örtliche Beerdigungsunternehmen, eine „Dorfinstitution“, wie der Fri­seur­salon des Toten eine war. Die Sanitäter verab­schieden sich, eine Schiebetür knallt metallen und der Kran­kenwagen fährt ab.

„So, mehr kann ich auch nicht für euch tun. Ich komme dann morgen nochmal vorbei, um ihr eine Spritze zu geben“, sagt der Arzt. „Am besten ihr ruft jetzt irgendwelche Ver­wandten an, dass jemand vorbeikommt ...“, fügt er hinzu und geht. Ich schaue meinen Bruder an. Wir beide sind einiger­maßen überfordert mit der Situation. Keiner von uns traut sich, hochzugehen und den Toten anzuschauen. Ohne den Toten selbst gesehen zu haben, ist die Situation aber reichlich surreal. Habe ich das vielleicht alles nur geträumt?

Meine Oma sackt wieder weg, nicht ohne vorher wiederholt zu haben, dass Frau Krick anzurufen sei. Ich suche im hand­geschriebenen Telefonregister meines Großvaters die Nummer des Beerdigungsunternehmens, finde sie dann aber schließlich im Örtlichen Telefonbuch. Die Wählscheibe des grünen Telekomapparates surrt. Frau Krick verspricht, am frühen Morgen vorbeizukommen. Ich versuche, meine Tante zu errei­chen, die ein paar Dörfer weiter wohnt. Es ist mitten in der Nacht. Irgendwann erreiche ich eine verschlafene Stimme; ihr Mann verspricht ebenfalls am Morgen da zu sein.

Was folgte, war eine der längsten Nächte meines Lebens: Die Großmutter zwischen wachen und apathischen Bewusst­seins­zuständen hin- und herschwankend: plötzlich ganz wach, rational und abgeklärt, dann wieder weit weg und vor sich hin­starrend. Eine zutiefst seltsame Atmosphäre: oben der tote Groß­vater und unten seine unzurechnungsfähige Frau mit ih­ren beiden Enkelkindern.

Für mich war diese Nacht eine Initiation. Ich bin in dieser Nacht erwachsen geworden.

In der Frühe – wir waren wohl kurz auf dem Sofa eingedöst – kommt die Beerdigungsunternehmerin mit ihrem Sargkatalog. Es handelt sich um ein damals noch geläufiges Fotoeinsteck­büchlein, auf einer Albumdoppelseite haben genau zwei Fotos Platz. Links sieht man Särge, rechts den dazugehörigen Blu­men­schmuck. Unter jedem Bild steht der Preis. Umso weiter man blättert, umso teurer werden die Erdmöbel und umso auf­wendiger die Dekoration. (Ob diese Profiteure des Todes wohl heute ein Tablet mitbringen und langsam von einem Sargmodell zum anderen wischen?) Frau Krick löst die angespannte Situation professionell mit einem „Herzliches Beileid“ und meint, jetzt müssten „wir“ ja dieses tun und jenes aussuchen. Die „Wir“-Form verfolgt pädagogische und kauf­männische Ziele. Mich widert das Ganze an. Wir wählen einen einfachen hellen Holzsarg. Ich glaube das billigste Modell. Die Abneigung, der guten Frau Krick Geld in den Rachen zu schmeißen, befördert diese Entscheidung. Außerdem hätte der Tote nicht gewollt, für seine Beerdigung mehr als das unbe­dingt Notwendigste auszugeben. Später bekomme ich dann kritische Bemerkungen von nahen Verwandten zu hören, denen der letzte Gang ihres Vaters zu schnöde war. Gestört hat mich das aber nicht.

Gegen neun kommt dann die ältere Tochter, meine Tante, mit ihrem Mann und eine künstliche Geschäftigkeit erfüllt das Haus. Der Onkel sitzt im Stubensessel liest und kommentiert lauthals die Tageszeitung. Wir beide, mein Bruder und ich, sind wieder die Enkelkinder, die man nicht allzu ernst nehmen muss. Mein Erwachsenensein hat nicht lange angehalten. Irgend­wann kommen dann auch unsere Eltern zurück. Der Tod des Großvaters wird Normalität, die Leiche eingesargt und schnell weggebracht.

Der Geruch des Desinfektionsmittels erfüllt den Flur noch tagelang und ist mir bis heute nicht aus der Nase gegangen. Die Person selbst, die sich da für immer entmaterialisiert hat, spielt bei all diesem schon kaum noch eine Rolle. Mit Es-muss-ja-weitergehen-Phrasen wird die Rückkehr in die Alltagsroutine eingeleitet.

Mein Bruder und ich gehen nach der Beerdigung nicht zum anschließenden Kaffeetrinken in die Dorfkneipe – ein sinn­loses, hohles Ritual, dem Ereignis und dem Toten unwürdig. Wir nehmen stattdessen unsere Räder und fahren zum nächst­gelegenen Baggersee.

Transgenerationales Schweigen

Was mache ich hier nur? Ich sitze seit Wochen, ja Monaten, am Schreibtisch, betrachte uralte Schwarz-Weiß-Fotografien, ana­lysiere Dokumente und Urkunden, treibe mich in tenden­ziösen Internetforen herum und schreibe Notizen in mein kleines rotes Moleskine. Der Zufall will, dass ich dies genau im hun­dertsten Geburtsjahr meines Großvaters tue, um den es bei den ganzen Recherchen ja geht. Das habe ich aber erst bemerkt, als ich im Werk des Nachkriegsschriftstellers Arno Schmidt nach parallelen Mustern, Einstellungen und Thema­tiken suchte und mir hierbei sein Geburtsjahr 1914 auffiel. Was – an anderer Stelle hierzu mehr – nicht die einzige Parallele bleiben sollte.

Wenn ich die Fragen stelle: Wo war mein Großvater Karl Krüger im Zweiten Weltkrieg? Was hat er dort getan? Was hat man ihm damals angetan? Dann frage ich mich zugleich, warum ich das wissen will, denn dies war ja im Grunde die Frage der ersten Nachkriegsgeneration, der ich gar nicht angehöre. Ich bin 1972 geboren. Als mögliche Antwort könnte aber herhalten, dass sich meine Eltern dieser Frage ja nie gestellt haben, mein Fragen also ein ‚nachholendes‘ Fragen ist. So ganz will mir das jedoch nicht einleuchten. Denn das würde ja heißen, dass ich heute hier nicht sitzen würde, wenn meine Eltern ihre Eltern gefragt und meine Großeltern zu einer Auseinandersetzung gezwungen hätten. Ist da vielleicht etwas dran? Vielleicht insofern, als dass meine heutige Beschäftigung mit dem Leben meines Großvaters definitiv eine andere wäre, wenn es in meiner Jugend einen Dialog, einen Austausch über seine Vergangenheit zwischen den drei Generationen gegeben hätte. Dieser Austausch hat aber nicht stattgefunden: Meine Eltern haben nicht gefragt, die ungestellte Frage wurde nicht beantwortet und das Gesamtthema beschwiegen.

Es geht im Kern um Schuld und Leid, aber auch um Erkenntnis. Um eine empathische, die nachfühlen und ver­stehen will. Es will mir erscheinen, als ob der Fluch der Großelterngeneration bis heute auf uns lastet und dies nicht nur in einem kollektiven Sinne einer viel beschworenen deutschen Verantwortung oder Kollektivschuld, sondern auch in einem individuellen und psychologischen. Es ist ein dunkler Schatten, der kaum sicht- oder wahrnehmbar – und oft nicht einmal mehr seinem Ursprung zuordenbar – auf uns lastet. So fühlt es sich für mich zumindest gerade an.

Solche über Generationen hinweg weitergegebenen Trau­ma­erfahrungen sind mir zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern begegnet. In den Jahren 2009 bis 2013 koordinierte ich ein türkisch-armenisches Versöhnungsprojekt, das versuchte, junge Erwachsene aus bei­den Ländern über die Arbeit mit Zeitzeugen einander näher­­zubringen. Die Teilnehmer des Projekts führten unter wis­sen­schaftlicher Anleitung Interviews mit älteren Armeniern und Türken durch. In Armenien konnten wir über 100 Zeit­zeugen-Interviews, teilweise bis zu zwei Stunden lang, trans­kri­bieren, sodass ein ganzes Archiv an Geschichten entstanden ist. Es war für mich sehr faszinierend zu hören, wie detailliert sich diese Menschen an etwas erinnerten, was sie selbst nicht erlebt hatten. Ja, an etwas, was sogar ihre Eltern nicht selbst erlebt hatten. Einige der Interviewten waren sogar so jung, dass es sich bei ihren Erinnerungen schon um Überlieferungen der Urgroßeltern handelte. Kein Wunder, waren doch die Verbrechen um das Jahr 1915 begangen worden. Das, an was sie sich erinnerten, war also über bis zu vier Generationen weitergegeben worden. Auf türkischer Seite, also der Täter­seite, herrschte eine ähnliche Situation wie bei uns vor: im Prinzip nicht viel mehr als Schweigen.

Die Armenier, mit denen unsere Projektteilnehmer spra­chen, vermittelten mit ihren überlieferten Geschichten über Mord, Vergewaltigung und Vertreibung vor allem eines: ein tiefsitzendes transgenerational überliefertes Trauma. Es gibt Studien hierzu, die besagen, dass diese traumatischen Erleb­nis­se mit zunehmender Distanz zu ihrer Entstehung nicht abneh­men, sondern sich sogar verstärken können. So war auch mein Eindruck bei diesen Interviews. Gut erkennbar war, dass das, was überliefert wurde, sich mehr und mehr aus dem kulturellen Gedächtnis der Nation speiste und dass der Anteil tatsächlich überlieferter Erinnerungen der Vorfahren abnahm.

Die Sozialpädagogin Kristina Tambke spricht davon, dass traumabezogene Gefühle und deren Aufarbeitung an die nach­folgenden Generationen delegiert werden. Dies trifft sowohl auf die Armenier als auch auf meinen Untersuchungs­­gegen­stand zu. Das nicht thematisierte angerichtete und ertragene Leid, die fehlende Aufarbeitung und Auseinander­setzung mit der eigenen Vergangenheit mündeten und münden in emo­tionales Schwei­gen. Eine Stille, die die erlittenen Traumata emotional ver­schweigt. Wer in dieser Atmosphäre auf­wächst, bleibt hier­von nicht unberührt. Emotional ver­schlos­sene Eltern und Groß­eltern erziehen Kinder, die ebenfalls ver­schlos­sen sind. In der Familie entsteht ein gene­rations­übergreifender Verdrän­gungs­me­chanismus. Die Kinder nehmen Teile dieses Leids unbewusst auf und machen es zum Teil ihrer eigenen Identität, ohne die eigentlichen trauma­tischen Erlebnisse zu kennen. Es ist dann ein fremder Teil des eigenen Ichs. Da das Trauma an sich gar nicht mehr bewusst ist, ist es umso schwerer, diese Delegation zu erkennen und sie aufzuarbeiten. In der Familie herrscht ein unausgesprochenes Gebot, dass über das Trauma selbst und auch über seine generationsübergreifende Präsenz nicht ge­sprochen wird. Die Weitervererbung des Traumas plus Schwei­ge­gebot werden zu einer belastenden Krankheit für die Familie. Das Problem wird aber gar nicht erkannt, die einge­schränkte emotionale Kom­munikationsfähigkeit, da nicht er­kannt, als normal angesehen. In einer solchen Umgebung bin ich aufge­wachsen, in einer ähnlichen scheinen meine Eltern aufge­wachsen zu sein.

Ich bin immer noch dabei, mir erklären zu wollen, warum ich hier sitze, warum ich das Leben meines Großvaters erforsche, warum ich wissen will, wo er zwischen Mai 1942 und Kriegs­ende war. Denn über diese Zeit gibt es keine Hinweise. Alles scheint wie ausgelöscht, vernichtet vielleicht. Vielleicht will ich verstehen, wieso es so war, wie es war in meiner Familie. Viel­leicht will ich mir erklären, warum ich selbst so bin, wie ich bin, und nicht anders kann.

68,62 zł

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296 str. 27 ilustracje
ISBN:
9783864082344
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