Czytaj książkę: «Ruinenwelt»

Czcionka:

Matthias Falke

Ruinenwelt

© 2012 Begedia Verlag

© 2007 Matthias Falke

Umschlagbild: Alexander Preuss

Lektorat und Korrektur: Michael K. Iwoleit,

Michael Ehrt, Petra Giersche

Satz und Covergestaltung: Begedia Verlag

eBook Bearbeitung: Begedia Verlag

ISBN: 978-3-943795-09-7 (epub)

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Das ENTHYMESIS-Universum

Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien

1. Laertes

2. Exploration

- Explorer Enthymesis

- Ruinenwelt

- Der actinidische Götze

3. Gaugamela

4. Zthronmic

5. Tloxi

6. Jin-Xing

7. Rongphu

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Ich hatte kein gutes Gefühl. Zum einen hasse ich es, zu warten, zum anderen war bereits durchgesickert, worum es diesmal gehen würde. Die MARQUIS DE LAPLACE ist ein Dorf. In der Zehntausend-Seelen-Gemeinde, die in dem Titankoloss hauste, machten Gerüchte in wenigen Augenblicken die Runde. Es war immer wieder erstaunlich, wie rasch sich Neuigkeiten – tatsächliche oder vermeintliche – in dem riesigen Schiff ausbreiteten. Man kam von einer Exkursion zurück, kletterte von Bord des Explorers und küsste die Leichtmetallplanken des Mutterschiffs – und alle, die dort lebten und arbeiteten, waren bereits informiert. Bis man das Große Drohnendeck durchquert und sich in einer der kleinen Bars im Durchgang zur Wissenschaftlichen Abteilung den ersten Drink bestellt hatte, konnte man sicher sein, dass jeder, der hier in seinem GraviPander hing, über der Theke lehnte oder dahinter Granulat-Whiskey mixte, schon über den wissenschaftlichen Ertrag und über die amourösen Extravaganzen der Crew auf dem Laufenden war.

Vor allem aber macht es mich nervös, Termine zu haben. Ganz gleichgültig worum es geht. Ob ich mit dem Hitzkopf Kurtz zu einer Partie Holo-Billard verabredet bin, mit Jennifer im Fühlkino oder ob ich mit einem der Oberen eine Besprechung habe, ist völlig nebensächlich. Ich sehe alle paar Sekunden nach der Uhr, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und bin weitgehend paralysiert. Und obwohl ich diesmal sehr kurzfristig ins Kleine Besprechungszimmer der Chef-Etage gerufen worden war, hatte ich mich eine Viertelstunde vor der Zeit eingefunden, von der ich nun jede Minute einzeln verfluchte. Immerhin, konnte ich zu meiner inneren Rechtfertigung sagen, handelte es sich um eine Audienz beim Alten persönlich, der für die drei Jahre der Mission – interstellare Flugzeiten nicht mitgerechnet – die unumschränkte Befehlsgewalt über uns alle hatte und wie ein absolutistischer Fürst über sein kleines Reich von Wissenschaftlern, Piloten und Ingenieuren herrschte. Wie gesagt: dieser Umstand als solcher machte mir nichts aus. Ich stand auf gutem Fuß mit dem Alten. Aber die bloße Tatsache, dass ich jetzt noch zwölf Minuten diese Pneumo-Tür anstarren musste, während in meinem Hinterkopf ein selbsttätiges Programm die fragmentarischen Informationen, die seit ein paar Stunden über die Gänge schwirrten, zusammenzusetzen versuchte, brachte mich an den Rand der Selbstbeherrschung. Nur weil ich wusste, dass das Vorzimmer nicht nur kameraüberwacht war, sondern dass der Alte es liebte, sich die Warterituale der hier Harrenden auf den Schirm zu holen, verkniff ich es mir, aufzustehen und hin und her zu tigern. Dabei hätte ich gerne ein bisschen Bewegung gehabt. Wie mir nach langem Schweigen das plötzliche, unbefangene Plaudern besonders schwerfällt und mehrstündiges Alleinsein mir unmöglich macht, wieder auf meine Gesellschaftsrolle umzuschalten, so brauche ich auch nach dem Stillsitzen eine Weile, bis ich die Contenance wiedergewinne, die zur Aufnahme eines im Konversationston vorgebrachten Marschbefehls vonnöten sein würde.

Endlich wurde ich hineingebeten. Es war, wie konnte es anders sein, die Stimme der Komarova, die mich über den Türlautsprecher zum Eintreten aufforderte. Sie klang wie eine kleine Sprechstundenhilfe. Um mein von der Lethargie des Abwartens beschädigtes Selbstvertrauen aufzupeppen, musste ich mir sagen, dass ich hier keinesfalls als Patient vorsprechen, sondern nach allem, was zu erwarten war, eher den Notarzt würde spielen müssen.

Ich ging hinein. Die automatische Tür glitt hinter mir zu. Das Kleine Besprechungszimmer in der Obersten Etage des Verwaltungssegments, ziemlich genau in der Mitte der MARQUIS DE LAPLACE, bot zwölf, zur Not fünfzehn Personen Platz. Allerdings wurde es vom Alten ausschließlich zu Vieraugen-Gesprächen genutzt, also eigentlich Sechsaugen-Gesprächen, denn er war ja niemals ohne ihre Begleitung anzutreffen. Und es war schon eindrucksvoll. Nicht nur, dass sie ihn buchstäblich niemals allein ließ, es schien, als seien sie überhaupt niemals ohne körperlichen Kontakt zueinander. Die ganze Zeit, die ich bei diesem Briefing zubrachte, massierte sie seine Schultern, kraulte seinen Nacken, über dessen ständiges Verspanntsein er sich stundenlang auslassen konnte, und tätschelte seine Hand. Bestimmt schliefen sie auch Arm in Arm. Dass er sich, mit seiner angeblichen vorzeitigen Vergreisung kokettierend, von ihr baden ließ, war in der MARQUIS DE LAPLACE sowieso ein offenes, von ihm gewissenhaft gepflegtes Geheimnis. Er thronte also, stilvoll ergraut und ununterbrochen über seine Zipperlein klagend, in seinem großen Kommandantensessel – mehr ein Lear als ein Richard III. Ein effektbewusster Schmerzensmann. Sie wippte auf einem GraviPander hinter ihm und bearbeitete seine Halswirbel.

»Kommen Sie rein«, begrüßte er mich und wies mit einer Geste, die ebenso müde wie herablassend war, auf einen freien Stuhl.

»Mein guter alter Norton – wie lange durchkreuzen wir zwei nicht schon gemeinsam die Galaxis.«

Und es folgte die übliche Jeremiade über die Zeit, die Vergänglichkeit und die Eitelkeit alles Seienden, an deren Ende unfehlbar die Feststellung erfolgte, nach Erdzeit sei er schon über 100 Jahre alt (wovon er freilich fast die Hälfte in der Tiefschlafkammer zugebracht hatte), und die jeder an Bord der MARQUIS DE LAPLACE auswendig herunterleiern konnte.

»Jünger werden wir nicht mehr«, sagte ich larmoyant und versuchte zu ignorieren, dass Svetlana mir über seinen Grauschädel hinweg spitzbübisch zuzwinkerte. Über sie waren böse Gerüchte im Umlauf. Angeblich schwärmte sie für die Offiziere der fliegenden Crew, und wenn auch nur die Hälfte der Verleumdungen wahr war, wäre ich der einzige Staffelführer, der noch kein Verhältnis mit ihr gehabt hatte. Ich fragte mich nur, wann sie das alles arrangiert bekommen sollte, bei ihrer im räumlichen wie zeitlichen Sinne lückenlosen Symbiose mit Kommandant Wiszewsky.

»Lassen Sie uns zur Sache kommen«, lächelte ich dem Alten zu. »Wie man hört, brennt es wieder einmal.«

»Nicht unbedingt«, meinte er wegwerfend.

»Was die Leute immer so reden. Sie wissen, dass ich allen Arten von Panikmache und Alarmismus spinnefeind bin.«

Er ließ eine Pause entstehen, in der er die Augen schloss und den Kopf in den Nacken legte. Svetlana schob seine Stirnhaut hin und her, und er grunzte dazu schmerzerfüllt und wohlig.

»Wie Sie vermutlich mitbekommen haben«, erklärte er dann, »befinden wir uns seit einigen Tagen im Orbit von 3Alpha-X. Ob Sie es glauben oder nicht, die Scherzkekse von der Planetarischen haben sich tatsächlich noch keinen griffigeren Namen dafür einfallen lassen. In einem Anfall von Ungeduld, den ich nur auf sein fortgeschrittenes Alter schieben kann, hat unser lieber Dr. Rogers es sich jedenfalls nicht nehmen lassen, die Erkundung diesmal selbst vorzunehmen. Er ist gestern Morgen, lediglich in Begleitung von Joonas Jyväläinen, in einem Shuttle der Omega-Klasse zur Planetenoberfläche aufgebrochen.«

Er seufzte.

»Man sollte den Finnen diese Namen verbieten ...«

»Etwa fünf Minuten nach Eintreten in die Atmosphäre«, fuhr er nach einem Augenblick der Zerstreuung fort, »kurz vor dem Aufsetzen im Mare Silencium, einer weiten kargen Hochfläche auf der nördlichen Hemisphäre, ist der Kontakt abgebrochen.«

»Und das sagen Sie mir jetzt«, rief ich aus. »Vierundzwanzig Stunden später!?«

»Kein Grund zur Hysterie«, maulte der Alte.

»Unsere Drohnen haben registriert, dass das Shuttle wohlbehalten gelandet ist. Wir haben sogar – dies zu Ihrer Beruhigung – einen Späher-Satelliten ausgesetzt, der die Stelle fotografiert hat. Demnach hat man dort unten mit der Errichtung eines kleinen Camps begonnen. Shuttle und Besatzung sind wohlauf. Sonst hätten wir in der Tat Anlass gehabt, etwas hektischer zu reagieren. Nicht so leidenschaftlich, meine belorussische Wildkatze!«

Der letzte Satz war an die Komarova gerichtet, die mir daraufhin ein Schmollgesicht zeigte. Sie ließ von ihrer Massagearbeit ab und streichelte Wiszewsky stattdessen die geröteten Bäckchen. Er küsste ihre Hand und tätschelte sie. Es war nicht zum Aushalten.

»Nichtsdestotrotz«, ermahnte er sich schließlich, »ist es unseren Experten von der Wissenschaftlichen nicht gelungen, den Kontakt zum Shuttle und seinen Insassen wiederherzustellen. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Technik beschädigt und die Möglichkeit eines Starts zumindest zweifelhaft ist. Wie wir unseren Dr. Rogers kennen, lässt er sich durch solche Kleinigkeiten nicht von der wissenschaftlichen Exploration des Planeten abbringen. Aber wir hätten ihn und seine Ergebnisse ja trotzdem gerne hier oben, nach getaner Arbeit.«

Er setzte sich auf und musterte mich einige Sekunden lang. Das war das untrügliche Zeichen, dass nun eine offizielle Verlautbarung erfolgen würde. Tatsächlich war alles Weinerliche aus seiner Stimme verschwunden, und in seinen Augen funkelte der alte Pioniergeist, als er – ein anderer Mensch – mit amtlichem Pathos verkündete:

»Ihr Marschbefehl lautet, Shuttle und Crew vor Ort aufzusuchen, technische Defekte womöglich zu beheben und Mannschaft und Ausrüstung hierher zurück zu bringen.«

Ich nickte und machte Anstalten, mich zu erheben.

»Nehmen Sie einen Explorer«, sagte er noch, wobei er wieder in den jammernden Ton zurückfiel. »Die üblichen fünf Mann Besatzung müssten genügen. Die Auswahl obliegt selbstverständlich Ihnen. Ich nehme an, Major Ash werden Sie nicht entbehren wollen ...«

Er grinste schlüpfrig. Ich stand auf, knallte die Hacken zusammen und salutierte. Er verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. Ich wusste, dass er alles Militärische verabscheute. Aber das war sein Problem. Ich würde mir auch nicht die Dienstgradabzeichen entfernen, weil ihre Farbe ihm wider den Geschmack ging. Er wedelte mit der Hand zum Zeichen, dass ich entlassen war.

»Viel Glück, Capitan«, schnurrte Svetlana mit ihrem weichen russischen Akzent.

Ich drehte mich auf dem Absatz herum und marschierte zackig hinaus. Vierundzwanzig Stunden verstreichen zu lassen, ehe man eine Rettungsmission zusammentrommelte! Jedenfalls wusste ich Bescheid. Wenn uns etwas zustieße, würde er uns genauso hängen lassen. Mit schneller Hilfe brauchten wir dann jedenfalls nicht zu rechnen. Noch während die Tür hinter mir zurücksurrte, betätigte ich den Piepser. Eine Stunde später war die ENTHYMESIS startklar. Die Crew war an Bord. Gate I im Großen Drohnendeck glitt feierlich zur Seite. Jennifer schoss uns sanft und routiniert in den Raum hinaus.

Vor uns lag 3Alpha-X, der Planet der Relikte, wie wir ihn später taufen sollten. Aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es war eine düstere Welt aus Fels- und Geröllwüsten. Von ein wenig Eis abgesehen, das die Polkappen vernarbte, war sie wasserlos. Eine blauviolette Kugel hing im fahlen Licht der toten Sonne, denn der Zentralstern des Systems war erloschen. Er hatte seine äußere Gashülle abgestoßen, die als bläuliche, schwach leuchtende Corona die schwarzglosende Ruine des ausgebrannten Sonnenfeuers umschwebte. Aufgrund des Rotationsimpulses hatte die Gashülle sich abgeflacht und eine elliptische Spindelform angenommen. Mit dem schwarzen Stern in ihrer Mitte wirkte sie wie ein totes Auge, das starr auf die leblose Welt herabsah, welche es in gemessener Entfernung umkreiste.

3Alpha-X, das hieß: der zehnte Planet des ersten Sterns der dritten Gruppe in diesem Quadranten. Die neun inneren Planeten waren allerdings unbedeutende Planetoiden, vielleicht ursprüngliche Monde von 3Alpha-X oder von dessen Nachbarn 3Alpha-XI, einem dunkelroten Gasriesen, der in mehr als dreifachem Abstand zum Zentralstern stand. Es war denkbar, dass die katastrophischen Vorgänge beim Erlöschen der Sonne die beiden größeren Planeten des Systems ihrer Trabanten beraubt hatten. Jedenfalls war mir rätselhaft, was Rogers auf diesem Steinhaufen von achtzigprozentigem Erddurchmesser wollte. Was hatten seine Instrumente ihm gemeldet, dass er so überstürzt aufgebrochen war? Noch dazu in höchsteigener Person und lediglich in Begleitung eines Shuttle-Piloten. Die Protokolle der Beobachtungsdrohnen, die ich zusammen mit Jennifer eingesehen hatte, waren wenig aufschlussreich. Dr. Frankel, Rogers’ Stellvertreter, der in seiner Abwesenheit die Geschäfte der Planetarischen Abteilung führte, hatte sie uns erläutert, aber aus seinem wissenschaftlichen Jargon war ich noch weniger schlau geworden als aus den nackten Zahlenkolonnen an sich. Während die ENTHYMESIS den Orbit, in dem die MARQUIS DE LAPLACE geparkt war, verließ und sich auf einer enger werdenden Spiralbahn der Planetenoberfläche näherte, sah ich in meiner Kabine die Aufnahmen durch, die die Aufklärungsdrohnen im sichtbaren Spektrum geliefert hatten. Das Shuttle war deutlich auszumachen, wie es, einem klobigen Käfer ähnelnd, in der Geröllwüste stand. Unweit davon erhoben sich einige sonderbare Strukturen, die am ehesten an riesige halb verfallene Termitenburgen erinnerten. Allerdings waren sie wesentlich größer als die maximal mannshohen Gebilde, die man aus afrikanischen Savannenlandschaften kennt. Als ich Abstandsvektoren in die Holo-Graphik eintragen ließ, ergaben sie, dass die höchsten dieser Türme fünfzehn Meter über dem Untergrund aufragten. Schließlich war noch eine blasige Konstruktion zu erkennen. Rogers hatte ein pneumatisches Kuppelzelt aufgestellt. Ich ging wieder auf die Brücke, nahm zwischen Jennifer und Lambert Platz und verfolgte den Landeanflug.

Wir hatten die Automatik auf 64fache Backups programmiert, statt der üblichen 16fachen; und die Abschirmung lief mit voller Leistung. Alle Schotten waren geschlossen. Triebwerksregulatoren und Fahrgestellsteuerung waren zudem virtuell abgekoppelt. Sie sollten selbsttätig weiterarbeiten, selbst wenn der Hauptrechner ausfiele. Bis jetzt lief alles einwandfrei. Wir waren noch etwa 20 Kilometer hoch und näherten uns vom Äquator kommend den mittleren nördlichen Breiten, in denen das Mare Silencium lag. Wir flogen nach Nordwesten. Halblinks voraus stand das tote Auge der erloschenen Sonne eine Handbreit über dem Horizont, als blicke uns der Schutzgott dieser Welt argwöhnisch zu. Der Sonnenuntergang wurde durch unsere Bewegung in seiner Position eingefroren. Ein ewiges Scheiden. Wir konnten so einmal um den ganzen Planeten herumfliegen, immer in die untergehende Sonne hinein – ein Gedanke, der mich melancholisch stimmte. Dünne streifige Wolkenschichten wurden sichtbar, als wir weiter hinuntergingen. Eine spröde, faserige Stratosphärenbewölkung. Massivere Wolkenbildung schien auf 3Alpha-X nicht vorzukommen, wie bei der Wasserarmut nicht anders zu erwarten. Eher war schon mit Sand- und Staubstürmen zu rechnen. Jennifer drosselte das Tempo und brachte uns langsam weiter herunter. Schon flogen wir nur noch Mach 20, eine lächerliche Geschwindigkeit für einen ENTHYMESIS-Explorer. Wir tauchten in die schüttere Wolkendecke ein und näherten uns den trostlosen Geröllebenen. Das automatische Positions-Radar erfasste den Zielpunkt, der nur noch einige hundert Kilometer voraus lag. Dann gingen auch schon die Warnmeldungen los.

»Störende Feldeinwirkung«, tönte die Automatik. »Abschirmung auf 110%!«

Jennifers Finger wirbelten auf der Konsole herum. Ich sah ihr interessiert von der Seite dabei zu. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, in maskenhafter Konzentration versteinert.

»Irgendetwas blockiert massiv«, schrie Jill, deren Stimme sich hysterisch überschlug.

»Alle sekundären Systeme abschalten«, rief Jennifer. »Wir bringen sie von Hand runter.«

Ich sah mir das an wie einen spannenden und ein bisschen übertriebenen Film. Mein Urteil war nicht gefragt. Ich war zwar der Kommandant dieses Schiffes, aber in akuten Gefahrensituationen handelten die beiden Pilotinnen selbstständig.

Das Licht flackerte. Die Anzeigen auf den Konsolen wurden zu kryptischen Engrammen zerhackt, als seien die Plastinfelder gesprungen. Irgendwo röhrte eine Sirene. Ich sah nach hinten, wo Legrand und Jones in ihren Gurten hingen. Legrand krallte sich mit blassem Gesicht in die Armlehne seines gravimetrischen Sessels, während der Technische Ingenieur sich nichts anmerken ließ. Ich zwinkerte Legrand ironisch zu. Wie immer in solchen Augenblicken war ich frei von Angst. Ein vergnügtes spitzbübisches Gefühl erfüllte mich. Das Wissen, dass wir jeden Moment abstürzen und in Sekundenfrist tot sein konnten, blieb rein theoretisch. Heute Nacht, wenn ich dann noch lebte, würde ich mich in meinem Schweiß wälzen und genau diese Sequenz wieder und wieder durchleiden müssen, aber jetzt blieb ich vollkommen kalt.

»OK, Baby«, sagte Jennifer grimmig. »Wenn’s eben nicht anders geht.« Sie schaltete die Konsole ab und nahm den Steuerknüppel in die Hand.

»Auf manuell gehen«, rief sie zu Jill hinüber.

Das Schiff schlingerte und sackte einige Meter durch, als die Automatik endgültig den Geist aufgab und die virtuellen Gyroskope ausfielen. Der Flug wurde unruhig. Jennifer rüttelte uns tüchtig durch. Auf einmal schien die Ebene viel näher, unsere Geschwindigkeit kam mir wesentlich höher vor. Aber das war reine Psychologie. Das hermetische Mir-kann-nichts-passieren-Gefühl wandelte sich in adrenalinschwangere Euphorie. Als ruckelten wir in einem Jeep durch den südamerikanischen Urwald, setzte ich mich auf und beugte mich zwischen den Pilotinnen nach vorne. Zu dritt suchten wir den Horizont ab, während die beiden Schwerstarbeit vollbrachten, um das Schiff stabil zu halten.

Plötzlich wurde es ganz still. Man hörte nur noch die Qualen der ENTHYMESIS, deren Stahlleib sich ächzend wand und in den Schotten krachte. Entfernte Windgeräusche heulten aus der Gegend der Schleusen. Immerhin arbeiteten die Triebwerke einwandfrei.

»Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch halten kann«, sagte Jennifer sachlich. Sie versuchte verzweifelt, das Tempo zu drosseln, aber das Schiff sprach nur noch unendlich langsam und schwerfällig an. Wie ein ballistisches Projektil rasten wir auf die Oberfläche zu.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Hologramm, das ich wenige Minuten zuvor betrachtet hatte. Das Mare Silencium war in Wirklichkeit eine Caldera, ein kreisrundes Kraterbecken, ringsum von bizarren Bergspitzen vulkanischen Ursprungs umgeben. Auf der Südostseite, von der aus wir einfliegen mussten, war ein stark erodierter Doppelgipfel besonders markant. Ich öffnete die Augen wieder, fasste Jennifer an der Schulter und starrte nach vorne. Wir waren keine 1.000 Meter mehr hoch und peitschten mit viereinhalb Mach über den steinernen Untergrund. Da war es!

»Der Doppelgipfel«, rief ich Jennifer ins Ohr, »der aussieht, als müsse er jeden Augenblick in sich zusammenfallen. Dahinter liegt das Mar. Flieg links darunter hindurch.«

»Sonst keine Wünsche mehr?!«, blaffte sie zurück.

Aber ich sah, dass sie grinste. Sie hatte sich jetzt auf die Aerodynamik der ENTHYMESIS eingestellt und steuerte das Schiff schon wesentlich ruhiger. Die Randberge der Caldera kamen rasch näher. Südlich des hohen Doppelmassivs, das jetzt bereits über unsere Flughöhe aufragte, fiel das Niveau stark ab. Der Krater wurde hier nur von niedrigen Hügeln gebildet. Wir schossen darüber hinweg. Vor uns öffnete sich das weite Becken des Mare Silencium, eine runde, wie mit dem Zirkel gezogene, auf dem Grund tischebene Hochfläche. Jennifer zündete manuell die Bremsraketen, die uns, ohne die gewohnte gravimetrische Abfederung, übel nach vorne schleuderten. Das Fahrgestell fuhr aus. Wir mussten uns auf unser Gehör und auf unser Gefühl für die charakteristischen winzigen Erschütterungen verlassen, denn weder die Anzeigen noch die Außenkameras funktionierten noch. Das Schiff taumelte im erhöhten Windwiderstand. Jennifer zog die Schnauze hoch.

»Da drüben«, krächzte Jill. »Das Shuttle. Auf zwei Uhr.«

»Hab’s gesehen«, knurrte Jennifer zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch, während sie mit dem bockenden Schiff wie mit einem Rodeohengst kämpfte. Wie ein Motorradfahrer in der Steilkurve warf sie uns auf die Seite, zündete noch einmal die Bremsraketen, riss uns, als packte sie uns alle zusammen am Schopfe, wieder in die Senkrechte und ließ uns dann durchsacken. Wir fielen noch fünf Meter mit erlöschenden Triebwerken. Den Rest besorgten die hydraulischen Dämpfer. Knirschend fraßen sich die Stahlkrallen in den Felsgrund.

Legrand war der erste, der eine Lebensäußerung vernehmen ließ. Er zappelte sich mit bebenden Fingern aus seinen Gurten, stand mühsam auf und wankte mit kreideweißem Gesicht von der Brücke. Er musste das Schott mechanisch entriegeln und die Tür von Hand zur Seite schieben, um hinauszukommen. Wir hörten, wie er dasselbe Manöver an der Toilettentür wiederholte, hineinstürzte und sich übergab. Lambert und Jones kletterten aus ihren Sitzen. Jennifer blies eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus der Stirn. Ich streichelte ihre Schulter.

»Ich weiß schon«, sagte ich leise, »warum ich dich angefordert habe. Das gibt das Große Sternenkreuz am Band, mindestens.«

Sie saß da und atmete schwer durch. Auf einmal kam sie mir so schmal und hilflos vor. Eine starke Rührung ergriff mich, als ich sah, wie ihr jetzt plötzlich der Schweiß ausbrach.

»Wenn wir hier wieder wegkommen«, stöhnte sie.

Sie stützte sich auf meinen Oberarm und kletterte über mich hinweg. Ich blieb noch eine Weile sitzen, während sie ebenfalls ins Bad ging und den Kopf unter den Wasserhahn hielt. Jenseits der Schnauze der ENTHYMESIS dehnte sich eine weite Geröllebene, die in düsterem grauviolettem Licht dalag. In etlichen Kilometern Entfernung erhoben sich die schroffen Randberge. Darüber spannte sich ein klarer Himmel, der aussah wie auf der Erde unmittelbar nach Sonnenuntergang, kurz bevor die ersten Sterne aufziehen. Wie feine Kratzer waren einige dünne Wolken in ihn eingezeichnet, die vom Widerschein der unsichtbaren Sonne in schwachem Magentarot leuchteten. Nachdem meine Augen sich an das unwirkliche Licht und an die Dimensionen der Landschaft gewöhnt hatten, erkannte ich wenig mehr als einen Kilometer vor uns einige kegelförmige Gebilde, schwarze Schlote, die aussahen, als habe man ihnen die Spitzen abgeschlagen. Wie hohle Zähne standen sie in der Ebene, kleinere und größere, in Gruppen zu drei oder auch zehn bizarren Türmen. Ganz in der Nähe davon bemerkte ich endlich das Shuttle. Lebenszeichen waren nicht auszumachen.

Kapitel 2

»So ein Wahnsinn! Einem Schiff, das abgeschmiert ist, ein zweites hinterherzuschicken, ehe die Absturzursache geklärt ist!« Jones marschierte erregt in der Messe hin und her. Er schlenkerte die bulligen Unterarme, als wolle er jedem, der sich ihm in den Weg stellte, vorsichtshalber einen Schlag ins Sonnengeflecht verpassen. »Jetzt sitzen wir auch hier unten herum. Ohne Kontakt. Ohne wieder abheben zu können!« Er raufte sich das Haar und tigerte wie ein Raubtier im Käfig auf und ab.

Ich sah ihn mitleidig an und ließ gelangweilt die Blicke von einem zum anderen schweifen. Legrand war immer noch blass. Er kauerte an seinem Platz und fummelte an seinen Fingernägeln herum. Jill wirkte verheult. Sie hatte rote Flecken im Gesicht. Ihre Stachelfrisur war durcheinander wie eh und je. Es war immer das Gleiche mit ihr. Ich hatte sie angefordert, weil sie neben Jennifer die beste Pilotin im Pool der MARQUIS DE LAPLACE war. Aber mit ihrem schwachen Nervenkostüm machte sie diese Qualifikation regelmäßig wieder zunichte. Es war eine ständige Gratwanderung, ob sie bei einer riskanten Mission noch von Nutzen war oder ob sie einem nicht erst recht das letzte bisschen Selbstbeherrschung raubte. Jennifer hatte sich von der Anstrengung des Landeanfluges erholt. Sie hatte ihren Lieblingsplatz eingenommen, die gravimetrische Liege, hatte die Lehne zurückgefahren und die langen Beine übereinandergeschlagen. Halb auf der Seite liegend, betrachtete sie mit spöttischem Lächeln unsere etwas derangierte Runde.

»Wenn jemand in Not ist, hilft man ihm«, sagte sie ruhig und lehrerhaft zu Jones. »Wenn ich jemanden ertrinken sehe, kann ich nicht erst das Wasser analysieren, in dem er gerade untergeht.«

»Wenn eine chemische Fabrik in die Luft fliegt«, brüllte er sie an, »muss man sicherstellen, um was es sich da handelt, bevor man in den Qualm marschiert.«

Ich wechselte einen ironischen Blick mit Jennifer, ehe ich sagte: »Statt diffuse Anschuldigungen zu erheben, Jones, könnten Sie lieber Meldung machen. Ich hätte gerne einen Lagebericht.«

»Lagebericht, Sir!«, zischte er. »Die Kiste ist tot. Der Hauptrechner ist ausgefallen und nicht wieder in Gang zu bringen. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, eine Schadensanalyse ...«

»Wir haben Licht«, sagte Legrand auf einmal, mit dessen Beistand ich momentan am allerwenigsten gerechnet hatte. »Major Ash hat uns manuell auf den Boden gebracht. Das Triebwerk arbeitete einwandfrei. Das hydraulische System ebenfalls.«

»Die sanitären Anlagen funktionieren«, setzte Jennifer hinzu. »Ebenso die Kaffeemaschine.« Sie prostete uns mit einem Becher Latte Macchiato zu.

»Na großartig«, brummte Jones und warf sich mit dem Rücken gegen einen der Wandschränke. »Dann können wir ja ein Kaffeekränzchen abhalten und hinterher in Ruhe scheißen gehen!«

»Ich bin überzeugt davon«, sagte ich, »dass wir die Ursache für den Totalausfall des Hauptrechners herausfinden und ihn wieder in Betrieb nehmen können. Um genau zu sein« – ich fasste Jones scharf ins Auge – »werden Sie das für uns tun. Legrand und Lambert werden Ihnen dabei assistieren. Wie es aussieht, arbeiten die primitiveren Systeme selbsttätig weiter. Solange Kühlschrank und Mikrowelle, Luftaustausch und Wasseraufbereitung funktionieren, besteht kein Anlass zur Panik. Dennoch sollten wir nicht unnötig Zeit verstreichen lassen, ehe wir an die Instandsetzung gehen. Meine Herren, meine Damen, das war ein Befehl. Major Ash und ich werden uns solange ein bisschen die Beine vertreten.«

»Die Situation amüsiert dich«, stellte ich fest.

»Sagen wir: ich sehe bis jetzt keinen Grund zur Hysterie.«

»Glaubst du, wir sitzen hier fest?«, fragte ich.

»Warten wir die Analyse ab«, gab sie zurück. »Es kommt darauf an, ob es möglich ist, das Triebwerk zu zünden und abzuheben. Dann müssen wir nur so weit aufsteigen, bis wir den Einfluss dieser Störung, oder was immer es ist, verlassen haben; oder bis wir den Orbit erreichen. Dort sollen sie uns auffischen. Die MARQUIS DE LAPLACE wird ja noch in Betrieb sein.«

Wir waren im Vorraum der hinteren Schleusenkammer, der einzigen, die für Notfälle konstruiert war und sich von Hand öffnen ließ. Ich wartete, bis sie ihren Anzug übergestreift und ihren Pferdeschwanz in einem Haarnetz verstaut hatte, dann setzte ich ihr den Helm auf und half ihr, ihn einrasten zu lassen.

»Die Druckflaschen funktionieren«, hörte ich ihre gedämpfte Stimme. »Aber die Elektronik nicht.«

»Wir müssen dicht beieinander bleiben«, schrie ich in ihr Visier. »Dann können wir auf die Kommunikation verzichten.«

Ich hampelte in meinen Anzug, vergewisserte mich, dass die eingebauten Sensoren und Anzeigen keine Reaktion von sich gaben, und steckte schweren Herzens den Kopf in die Plastinkugel. Als ich von Hand das Ventil öffnete, hörte und spürte ich, wie Sauerstoff anströmte. Wenn ich die Scannerdaten der Drohnen richtig im Kopf hatte – abrufen ließen sie sich aktuell nicht mehr -, dann müsste die Atmosphäre sogar atembar sein. Aber ich wollte keine Experimente veranstalten, solange die einschlägigen Instrumente in Streik getreten waren. Jennifer machte das Good-to-go-Zeichen, das ich erwiderte. Wir traten in die Schleusenkammer, schlossen die Luke hinter uns, öffneten den Ausstieg und schwangen uns schwerfällig hinaus. Die Schleuse führte zu einer Art Feuerleiter, die in die hintere Backbordstelze eingelassen war. Wir prüften den Sitz unserer Anzüge noch einmal und vergewisserten uns, dass unsere Sauerstoffzufuhr einwandfrei arbeitete. Schon ein kurzzeitiges Sauerstoffdefizit konnte zu Schwindel und Ohnmacht führen, was in der gegenwärtigen Situation unkalkulierbare Konsequenzen ergeben hätte. Alles schien OK. Dennoch wies ich Jennifer an, den Karabiner, der in der Brusttasche jedes Anzugs verstaut ist, in das Stahlseil einzuklinken, das parallel zur Leiter verlief, ehe sie sich daran machte, die zehn Meter hinunterzuklettern. Sie nickte mir zu, ließ die Sicherung einrasten und machte sich an den Abstieg.

Eine Minute später betraten wir den Boden von 3Alpha-X. Wie wir es schon auf mehreren Dutzend anderen Welten getan hatten, schüttelten wir einander die Hand, routiniert, wortlos und ohne uns dadurch auch nur eine Sekunde aufhalten zu lassen. Wir gingen in die Ebene hinaus, in nordwestlicher Richtung auf die schwarzen Felskegel zu. Nachdem wir unter der ENTHYMESIS hervorgetreten waren, deren Abmessungen hier viel beeindruckender waren als im Großen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE, blieben wir stehen und musterten das Schiff. Von den üblichen Rußspuren an den Bugschilden abgesehen, die vom Atmosphäreneintritt herrührten, war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Die Außenhaut des Explorers schien intakt. Sauber geparkt stand er im blauschwarzen Geröll. Die Positionslichter und Signalleuchten waren erloschen. Lediglich durch die großen Scheiben von Brücke und Messe drang das milchige Licht der Notbeleuchtung heraus. An einem der schwach erhellten Fenster, zehn Meter über uns, stand Jill Lambert und winkte uns zaghaft zu. Wir erwiderten den Gruß, dann wandten wir uns ab und stiefelten auf die Termitentürme zu.

399 ₽
34,24 zł

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Ograniczenie wiekowe:
0+
Data wydania na Litres:
22 grudnia 2023
Objętość:
370 str.
ISBN:
9783943795097
Właściciel praw:
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