Czytaj książkę: «Explorer ENTHYMESIS»
Matthias Falke
Explorer ENTHYMESIS
Frühe Abenteuer
© 2012 Begedia Verlag
© 2007 Matthias Falke
Umschlagbild – Alexander Preuss
Covergestaltung und Satz – Begedia Verlag
Lektorat – Michael K. Iwoleit
ISBN-13 – 978-3-95777-026-4 (epub)
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Die ENTHYMESIS-Universum
Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien
1. Laertes
2. Exploration
- Explorer Enthymesis
- Ruinenwelt
- Der actinidische Götze
3. Gaugamela
4. Zthronmic
5. Tloxi
6. Jin-Xing
7. Rongphu
Inhalt
Das Schlangennest
Amygdala – Der Spiegelnebel
Das Eis von Thule
Der Planet Lento
Gefrorene Lava
Die Anderen
Das Schlangennest
Ich hatte das Abdockmanöver von Hand durchgeführt, denn ich genoss es immer noch, in jugendlicher Begeisterung die ENTHYMESIS eigenhändig vom Mutterschiff abzukoppeln, das träge im Orbit trieb und dessen 18 km langer Titan-Korpus von Sonden und Reparatur-Robotern umschwärmt wurde, und dann langsam herumzuschwenken, bis Lu-Au, der blaue Planet, in den kristallinen Frontscheiben erschien. In schwerem Ultramarin lag er vor dem Samtbeschlag des Weltraums, im kalten Licht einer fernen Sonne – die Entfernung entsprach diejenigen vom Uranus zur Erdsonne –, deren Aufgang eben das polare Hochplateau in ädrigem Lapislazuli funkeln ließ. Der Planet, dem diese Expedition gewidmet war – weil auf ihm enorme Buntmetallvorräte vermutet wurden –, hatte mehrfachen Erdumfang. Da er aber fast ganz aus leichten Silikaten bestand, seine spezifische Dichte also viel geringer war, würde die Gravitation die unseres Heimatplaneten nur geringfügig übersteigen. In der kompletten Ausrüstung und mit dem Equipment auf den Schultern würden wir uns fühlen wie daheim bei einem Waldspaziergang.
Ich tauschte die üblichen Floskeln mit der Brücke, über die wir gerade hinwegrollten, und brachte uns dann auf eine ballistische Flugbahn, die uns seitlich unter der MARQUIS DE LAPLACE hindurchtauchen ließ und uns in neunzig Minuten auf die Oberfläche bringen würde. Dann übergab ich an die automatische Steuerung und entspannte mich beim Anblick des azurblauen Panoramas.
Bald füllte die blau schimmernde Wüste das gesamte Gesichtsfeld aus, und man konnte einzelne Gebirgszüge unterscheiden, obwohl wir noch mehrere tausend Kilometer hoch waren und kaum die äußere Atmosphäre berührten. Mächtige Nordlichter stroboskopten über dem Pol, der gerade hinter den Horizont gekippt war, und ließen die Heftigkeit der magnetischen Störungen der Ionosphäre erahnen, die eine direkte Landung jenseits der Polarkreise unmöglich machte. Wir gingen auf einhundertsechzig Kilometer hinunter und schwebten mit reduzierter Geschwindigkeit nordwärts, über eine geröllbesäte Fläche porösen Gesteins, das, von schroffen Schluchten und grandiosen Faltengebirgen durchzogen, in unermesslicher Erstreckung dalag. Alles in ein intensives Blau getaucht.
»Wie das tibetische Hochland«, murmelte ich vor mich hin, »das jemand mit Unmengen Enzian vollgepinselt hat.«
»Du Träumer«, kam es von drüben, »kannst du dich niemals von deinen terrestrischen Assoziationen lösen?«
»Wenn ich wie du auf Luna III geboren wäre, würde’s mir auch leichter fallen. Warst du überhaupt mal – daheim?«
»Ein paar Monate zur Schulung in St. Petersburg.«
»Russland?«
»Nee, Florida. Fand ich ziemlich nichtssagend. Die eigentliche Ausbildung habe ich auf dem Mars gemacht. Schönes Camp am Mt. Olympus. Und die Abschlussexamina, wie du vielleicht weißt, auf der Akademie der Union in Pensacola. Aber such uns lieber mal ne vernünftige Landestelle.«
»Schon gebucht. Bei 80° Nord, 28° Ost reicht ein Canyon ziemlich weit hoch, da können wir bis dicht unter’s Plateau rangehen.« Dann hakte ich doch nochmal nach. »Woran erinnert’s dich denn hier?«
»Pluto. Die Trainingsstrecke zwischen Pluto II und III ging über die Große Depression. Da sah’s so ähnlich aus. Nur noch dunkler.«
In diesem Augenblick flogen wir unter einigen Gebirgsmassiven dahin. Auch das ist einer der Momente, die niemals ihre Faszination verlieren. Wenn ein neuer Himmelskörper, der erst als Scheibe, später als Kugel vor einem im Raum gehangen hat, sich plötzlich als dreidimensionale Landschaft um einen zusammenschließt, wenn aus dem mathematischen Punkt der Positionshologramme konkrete Wirklichkeit wird. Ich zog die Steuerbrille über, mit der ich durch den Blick, den ich auf einen möglichen Landeplatz konzentriere und der kernspintomographisch abgelesen wird, die ENTHYMESIS ausrichten kann.
Wir strebten durch eine Schlucht aus grünlichem Bauxit auf den Abhang des polaren Plateaus zu, als ich auf einer seitlichen Talsenke eine breite Terrasse entdeckte, die ich auf dem virtuellen Schirm fixierte. Gleichzeitig spürte ich, wie das Schiff leise herumkrängte.
»Fahrgestell ausfahren!«, befahl ich. »Abdämpfen auf 0,1g!«
Eine Minute lang verharrten wir einhundert Meter hoch über dem flachen Oxidboden, während die Röntgen-Scanner das Gelände auf unterirdische Hohlräume abtasteten. Dann setzten wir auf.
Es dauerte ein paar Stunden, bis wir alle Einzelheiten mit der MARQUIS DE LAPLACE abgecheckt hatten und die Instrumente der ENTHYMESIS die nähere Umgebung auf alle möglichen und unmöglichen, physikalischen und chemischen Phänomene durchleuchtet hatten – biologische waren nicht zu erwarten. Dann aktivierten wir das automatische Logbuch und stiegen aus. Dass ich der erste Mensch war, der Lu-Au betrat, beeindruckte mich nicht sonderlich. Tausende von Explorationsrobotern hatten in den vergangenen zehn Wochen seine endlosen Wüsten durchwühlt, Millionen von Bodenproben analysiert und die Datenspeicher der MARQUIS DE LAPLACE mit Milliarden Terabyte an Information gefüllt. Ich verzichtete daher auf die üblichen albern-tiefsinnigen Sprüche und marschierte nach einem kurzen Blick auf das Navigationsarmband gleich in nördlicher Richtung los.
Wir trugen jeder 50 kg Ausrüstung, aber dank der Gravitationsdämpfer in den Rucksäcken ging es sich ganz angenehm. Vage Erinnerungen an terrestrische Expeditionen stiegen in mir auf, an den Mt. Vinson etwa, den ich nach dem Examen bestiegen hatte und wo wir ähnlich vermummt gewesen waren. Über flache Geröllhänge stiegen wir seitlich an, hoch über dem Talboden, dessen Sohle hier drei Kilometer tief eingeschnitten war. Aufgrund des dreidimensionalen Kartenbildes, das ich in meinen Helm projizieren konnte, wich ich nach zwei Stunden in ein Seitental aus, das nach Nordosten abzweigte und in einem Winkel von 30° von der Hauptschlucht abzweigte, die sich allmählich verengte und bald ungangbar sein würde. Der Canyon nahm einen immer stärkeren Fjord-Charakter an, die Wände wurden senkrecht, der Boden war trogförmig ausgehobelt. Ich nahm direkte Verbindung mit dem Mutterschiff auf, ließ mich in die Exo-Geologische Abteilung durchstellen und sie online auf meine Helmkamera gehen.
»Wenn das kein Zeichen von Vergletscherung ist, weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Bei der Beschaffenheit der hiesigen Mineralien und der ungefähren Geschwindigkeit der Erosion würde ich folgende Hypothese aufstellen. Vom Pol bis auf 80° Grad hinunter eine Kappe aus Eis und gefrorenem Kohlendioxid (eventuell Helium und Methan – wie sind hier die Wintertemperaturen?). Mindestens drei Kilometer mächtig, und am Rand in Talgletscher von zwei Kilometern Dicke und gut einhundert km Länge abfließend. Das ganze verschwindet vor zehntausend Jahren. Habt ihr das im Protokoll?«
»Logisch«, kam es aus dem Helm, »wie auch nicht? Wird eh alles mitgeplottet, was ihr da unten treibt. Und wo ist das ganze Zeug hin?«
»Jetzt bin ich keine sechs Stunden hier und soll schon letztgültige Erklärungen abgeben! Weiß ich doch nicht. Verdunstet vielleicht ...«
»Eine Polkappe, deren Aufbau hunderttausend Jahre gedauert und die mindestens zehn Millionen Jahre bestanden haben muss, verdampft in zehntausend milden Lenzen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hängt’s mit dem Asteroiden, diesem zerstäubten Planeten zusammen. Wie viel Sonnenstrahlung absorbiert der nochmal?«
»Zwei, drei Prozent – aber wenn, würde das ja für eine Abkühlung des Klimas sprechen ... Warte mal, Dr. Rogers hat noch was!«
Es knisterte in der Kommunikation, dann hörte ich die Stimme des 70jährigen Chef-Planetologen: »Wir haben Indizien für eine erhöhte Sonnenaktivität seit mehreren tausend Jahren. Unter Umständen ist der zerstörte Zwillingsplanet in den Hauptstern gestürzt und hat da irgendwas in den Fusionsprozessen verändert. Unsere Solaris-Drohnen prüfen das gerade, aber eventuell könnte das die Absorption mehr als kompensiert haben. Ich lasse den Computer gerade mal ein Modell entwerfen, wir können dann ...«
In einem dissonanten Kreischen, das von der Automatik sofort heruntergeregelt wurde, mir aber trotzdem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, brach die Verbindung zusammen. Selbst das lokale System schien zu kämpfen, wie ich aus Jennifers verzerrtem Schrei schloss, der seltsam entfernt klang.
»Sieh doch! Nein, dort!«
Denn ich hatte mich instinktiv nach ihr umgedreht, wo ich aber nichts sah, außer ihrer chromglänzenden Gestalt mit dem schweren Tornister und den Sauerstoff-Batterien, die sich glitzernd von den opaken Felswänden abhoben, von denen das polare Blaugrün gewichen war und die ...
Da registrierte ich das verspiegelte Visier ihres Helmes, das in natriumglühenden Flammen stand.
»Hinter dir!«, keuchte es an meinen rechten Ohr. Gleichzeitig sprang über meinem linken Auge die grüne Leuchtdiode an, die Stresssymptome signalisiert. (Als ob man das nicht selber merkte – was sich diese Ingenieure immer so einfallen lassen!)
Ich warf mich herum und starrte auf die Horizontlinie, die sich einige Kilometer vor uns als tiefschwarze Silhouette von dem abhob, was eben noch der in ewiger Dämmerung liegende Himmel gewesen war. Jetzt brannte das ganze Firmament in rubinroten und malachitgrünen Schleiern, die einander ölig durchwallten und aus denen sich pulsende magentafarbene Explosionen lösten. Wie eine gigantische Brandung liefen kupfrige Wellen, die von einem Horizont zum anderen reichten, über uns hinweg. Vorhänge von Glut und Funken schäumten in allen Farben des Spektrums und schienen auf uns herabzuprasseln – für eine Mikrosekunde dachte ich an einen Vulkanausbruch und fühlte mich an den Kilauea versetzt –, aber es war nichts Stoffliches, und ehe ich noch rational reagieren konnte, hörte ich: »Ein Nordlicht.« Es war meine eigene Stimme.
»Digitales Relais aktivieren«, befahl ich der Funk-Automatik, und nach einigen Sekunden hörte ich, umgeleitet über die großen Antennen der ENTHYMESIS, wenn auch immer noch sehr schwach, wieder die MARQUIS DE LAPLACE.
»Seht ihr das?«, fragte ich scheinheilig im Ton eines Lotteriegewinners, der grinsend mit dem Scheck herumwedelt. »Wisst ihr jetzt, warum man die Polargebiete nicht überfliegen sollte?«
»Bingo«, keuchte Dr. Rogers. »Wir waren für einen Moment ein bisschen erschrocken und dachten schon, ihr wärt irgendwo eingebrochen oder so. Ist mir in fünfzig Jahren nicht vorgekommen, dass die Direktverbindung ausfällt. Aber dann kamen die Bilder von den Außenkameras. Kein schlechtes Feuerwerk. War jemand von euch mal in Kiruna?«
Logisch, wollte ich gerade sagen, während ich noch begeistert in das Schauspiel hinaufstaunte, aber da war schon Jennifers rauchiger Mezzo-Sopran in der Leitung.
»Könnt ihr eure Altherren-Gespräche vielleicht verschieben, auf nächste Woche am Bitumen-Kamin?! Ist das jetzt gefährlich für uns, oder können wir weitergehen?«
Wir hatten das große Kuppelzelt aufgestellt, unterhalb der Plateaukante, die uns diese Nacht noch vor den nördlichen Stürmen schützen sollte. Es war eine vollautomatische Station, die sich in wenigen Minuten selbst mit atembarer und klimatisierter Atmosphäre füllte, Mahlzeiten emulierte und alle äußeren Kommunikationen steuerte. Ich hatte noch die Verankerungen und die Nachführung der Parabolantennen überprüft und mich dann durch die Luftschleuse hineingezwängt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich aus dem Anzug gequält hatte, und als ich mir dann das sensorielle Unterzeug zurechtzog, fiel mein Blick auf Jennifer, die am anderen Ende der zimmergroßen Kuppel, die von hellblauem Halogen-Licht erfüllt war, vor dem Mineralien-Sonar stand. Sie war nackt. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Als wir uns kennengelernt hatten, war sie 27 gewesen, nur ein paar Jahre jünger als ich selbst. Unsere wechselvolle Beziehung zog sich inzwischen über mehrere Jahrzehnte hin. Einmal hatten wir uns zwölf Jahre nicht gesehen, in denen sie aber nur zwei, ich dagegen fünf Jahre gealtert war, weil wir sie auf interstellaren Flügen verbracht hatten. Nach Erdzeit waren wir beide über hundert. Erlebt hatte sie etwa vierzig »Jahre«, ich fünfzig. Aber sie hatte den Körper einer Dreißigjährigen. Mit schluckender Verzweiflung weidete ich mich am Anblick ihrer Rückseite.
Ein Glück, dachte ich in wilder Erregung, dass man uns schon vor drei Generationen die Schweißdrüsen weggezüchtet und auch sonst einiges an Allzumenschlich-Ekligem der verlängerten Evolution der kybernetischen Genetik hat anheimfallen lassen. Kaum auszudenken, eine solche mehrtägige Exkursion ohne hygienischen Systeme durchzuführen. Die bloße Vorstellung, wie irgendwelche prähistorische Polarforscher und Abenteurer des 19. oder 20. Jahrhunderts einander die Schweißfüße unter die Nase hielten ... und sich vor allem gegenseitig auf den Wecker gingen, denn man hatte ja weniger die anatomische als vor allem die physiologische und hormonelle Grundausstattung ein bisschen – nun – frisiert. Etwa das Adrenalin entschärft und auf einen reinen Botenstoff reduziert. Ein Neandertaler wäre bei dem Kommunikationsausfall vorhin womöglich durchgedreht! Also insgesamt war es schon von Vorteil, zumindest auf solchen Unternehmungen. eine Kanüle Testosteron konnte man ja immer in der Jackentasche ...
»Was guckst du denn so?«, holte sie mich in die Realität zurück und reckte mir ihren Pin-Up-Busen entgegen, den sie einem Stardesigner zu verdanken hatte. »Du brauchst dir gar keine Hoffnung machen, auch wenn mir natürlich klar ist, weshalb du mich zu dieser Unternehmung mitgenommen hast! Auf die Polhöhe spekuliert, wo totale Funkstille herrscht und nicht mal die digitalen Laser unbeschadet durch die Magnetstürme kommen! Lauschige Einsamkeit am Ende der Welt, was?«
»Hab ich irgendwas gesagt?«, gab ich naiv zurück. »Och Jennifer, es ist doch jetzt schon drei Jahre her – nach Sternzeit fast zehn. Kannst du mir niemals verzeihen, was ich damals auf Centauri IV getan habe? Ich hab doch alles längst gestanden und bereut.«
»Kümmer dich lieber ums Abendessen!«
Und sie beugte sich noch fies über den Magnesit-Scanner, dass ich tatsächlich die Kontrolle über meine Augen zu verlieren drohte.
»Ich will ja nur, dass wir dieses Gezänk einmal beilegen. Mehr wage ich einstweilen gar nicht zu hoffen. Natürlich habe ich dich deshalb mit für die Exkursion eingetragen – die uns nebenbei bemerkt in die Geschichte der interstellaren Expeditionen eingehen lassen wird –, damit wir einmal Ruhe für uns haben. Ab morgen sind wir drei, vier Tage auf uns gestellt und von denen da oben abgeschnitten. Und im übrigen hast du ja damit angefangen« – und ich ließ einen genuss- und vorwurfsvollen Blick über ihre märchenhafte Figur gleiten. »Was musst du so rumlaufen? Bin auch nur’n Mann aus Fleisch und Blut!«
»Das ist gerade die Strafe«, gab sie kühl zurück und wandte sich wieder ihren Instrumenten zu. Ich kümmerte mich einstweilen um das dehydrierte Chop Suey.
Nach dem Imbiss, den wir einander gegenüber sitzend auf dem Boden (die Möblierung war tatsächlich etwas primitiv) in kühlem Schweigen verzehrt hatten, warf ich vorsichtshalber doch einen Hormon-Dämpfer ein – zu animalisch tigerte mein wunder Blick immer wieder zwischen ihrer Hüfte und ihren wohlgeformten Fußgelenken hin und her (und das auch nur, weil ich mich nicht traute, weiter hoch zu gucken). Irgendwann schien sie ein Einsehen zu haben, oder sie bekam doch Bedenken angesichts meines blöden Stierens, und sie warf sich wenigstens das dünne sensorielle Unterzeug über, den man sonst unter dem Raumanzug trägt.
Also Schlussbesprechung. Ich projizierte ein dreidimensionales Hologramm in die Mitte der Kuppel, auf dem ich unseren Weg erläuterte. Noch knapp zehn Breitengrade, also bei der starken Abflachung der Polkappe über 3000 km. Das war natürlich in reinem Fußmarsch nicht zu leisten, aber wir konnten die Gravitationsexpander der Tornister als Antrieb benutzen. Wenn die Stürme und magnetischen Störungen nicht allzu sehr von den Kalkulationen abwichen, konnten wir in zwei Tagen am Pol sein.
»Und dann?«, fragte sie. »Könnte ich wenigstens ansatzweise erfahren, was wir dann da zu tun haben?«
Ich wollte fragen, was sie mir denn für diese Information zu bieten habe, ließ es aber – um mich selber nicht nervös zu machen – vorerst sein.
»Ist natürlich alles Top Secret, und außer dem Leiter der Exkursion braucht niemand was zu wissen. Aber als good-will-Geste kann ich dir soviel verraten. Wir gehen nicht zum geographischen, sondern zum magnetischen Pol, der etwas unterhalb, bei 88° Nord und ca. 25° Ost, vermutet wird. Genaue Messungen waren noch nicht möglich, wie auch alle Versuche, dort Sonden abzusetzen, gescheitert sind. Sie sind abgestürzt, oder wir haben den Kontakt verloren ...«
»Vielen Dank! Und wir spazieren da jetzt zu Fuß hin, ohne Verbindung zur MARQUIS DE LAPLACE, ohne zu wissen, was uns erwartet ...«
»Wenn wir das so genau wüssten, bräuchten wir ja nicht hin, dann hätten wir einen Droiden abgesetzt und fertig.«
»Ohne schweres Gerät, ohne Bewaffnung ...«
»Letztere brauchen wir schon überhaupt nicht, denn mit organischen Prozessen ist hier in keiner Weise zu rechnen ...«
»Wenn wir das so genau wüssten, bräuchten wir ja nicht hin«, äffte sie mich nach.
Aber ich sah schon die Neugier und Unternehmungslust in ihren Augen und wusste in diesem Moment. Ich hab’ sie wieder. Nach der Rückkehr von dieser Expedition würde ich meinen Sohn, den ich vor der letzten Reise in einem Anflug von Sentimentalität mit einer Gebärdroidin gezeugt hatte, im Altersheim auf Spitzbergen besuchen – ein palmenumstandenes Idyll – und ihm Jennifer als meine Frau vorstellen. Sie würde ihn adoptieren. Wir würden uns ein schönes Häuschen auf Nowaja Semlja kaufen ...
»Na jedenfalls. Einzelheiten vor Ort. Das einzige, um was es geht, ist Strahlung und magnetische Dissoziation. Deshalb haben wir auch nur optische Halbleiter dabei, du wirst in unserem gesamten Equipment keinen elektrischen Leiter finden. Wir werden ein paar Feldmessungen vornehmen und versuchen, auf Teufel komm raus eine Verbindung nach oben herzustellen, und dann pilgern wir zurück zur ENTHYMESIS, die uns heim zu Mami bringt.«
Das hatte jetzt doch noch sein müssen. Sie sprang auch sofort darauf an.
»Jetzt gib mal nicht so an. Ich habe auf Europa drei Jahre lang Bohrungen geleitet, wo uns die geotektonischen Gezeiten-Pressungen die Titankerne wie Wachskerzen verbogen haben. Meinst du, dein blauer Schotter hier nötigt mir Respekt ab? Wie lange schlafen wir?«
»Wie gehabt.«
Da wir gerade Nordsommer hatten, also Mitternachtssonne herrschte, waren wir von den Tageszeiten Lu-Aus (eine Rotation dauerte über 38 Stunden) unabhängig. Ich hatte also den Arbeitsrhythmus, der auf interstellaren Flügen üblich ist – zwanzig Stunden Dienst und dann fünf Stunden Ruhezeit –, auch für diese Unternehmung übernommen. Es hatte in der Mitte des letzten Jahrhunderts Versuche gegeben, der Menschheit das Schlafbedürfnis ganz abzugewöhnen. Die genetischen Eingriffe wären aber zu massiv und die psychosozialen Folgen unkalkulierbar gewesen, so dass man sich darauf beschränkte, die Schlafzeit auf ein Fünftel des Erdentages – der seit dem spektakulären Fehlstart der Erebus II auf 25 Stunden zugenommen hatte – zu beschränken und diesen Takt auch auf allen Schiffen beizubehalten.
Da die Automatik verständig genug war, unserer Unterhaltung zu folgen – und diskret genug, alle privaten Gespräche sofort herauszufiltern –, waren weitere Kommandos überflüssig, und wir zogen uns in die Schwebe-Kojen zurück. Die Halogenbögen wurden heruntergedimmt, und die Außenmembranen polarisierten das Restlicht, so dass es fast ganz dunkel wurde. Nur ein besonders heftig aufflackerndes Nordlicht warf bisweilen einen kupfrigen Reflex über unser Schweigen. Obwohl ich den Sensor an der linken Schläfe, der die vegetativen Funktionen überwachte, aktiviert hatte, lag ich noch lange da und lauschte auf Jennifers ruhige Atemzüge. Dann versank ich in Träume, die einem Hieronymus Bosch zur Ehre gereicht hätten. Pornographische Absurditäten, die einander immer noch überboten und die Grenzen dessen, was bei Bewusstsein als geschmackvoll gegolten hätte, längst hinter sich gelassen hatten. Fleischige Extravaganzen, die sich in einem quälenden Hunger immer noch weiter forcierten.
Als ich erwachte, hatte ich furchtbaren Durst, und meine Augen brannten. Ich musste im Schlaf meine Baumwollhülle aufgerissen haben, denn ich lag halbnackt inmitten meines zerwühlten Unterzeugs. Jennifer stand neben mir. Sie streichelte mir beruhigend mit der Linken über Bauch und Brust, während sie mich weiter stimulierte, dann schob sie sich über mich. Die Koje schwebte einen halben Meter frei über dem Boden, so dass sie die Beine rechts und links herunterhängen lassen und sich mit den Fußspitzen abfedern konnte. Wir liebten uns schweigend, während meine unersättlichen Hände die Schwellung ihrer Schenkel nachzeichnete. Sie hatte den Kopf zurückgelegt. Das rotblonde Haar fiel weich über die herrliche Brust herab. Wir wiegten uns dem Höhepunkt entgegen, als ein entsetzlicher Schrei die liebliche Anakreontik zerriss ...
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich selbst es war, der dieses furchtbare Geheul ausstieß. Jennifer stand in voller Montur an der Schleuse. Die Wecksirene schrillte, die Halogen-Leuchten waren auf grellste Intensität geschaltet. Es war entsetzlich.
»Ich geh schon mal los«, sagte sie eben noch, dann verstaute sie den Dutt, den sie mit einem Netz aus Kunstseide zusammenband, unter dem Helm. Ich hörte ihre Stimme jetzt über die Lautsprecher der Automatik.
»Will gar nicht wissen, was du geträumt hast, aber ich würde mir mal einen neuen Hormondämpfer besorgen. Ich warte am Plateau, damit du mir zeigen kannst, wo’s langgeht!«
Dann war sie draußen.
»Scheiß auf’s Frühstück«, trieb ich mich selber an und warf mir eine dieser ekelhaften Energie-Pillen ein. Was hätte ich nicht für eine Schwall Wasser ins Gesicht gegeben! Ich fuhr in die Klamotten, befahl herrisch »Zusammenpacken!«, und turnte noch durch die Schleuse, als sich hinter mir schon die Kuppel zusammenfaltete. Ich gab einen mürrischen Lagebericht ab – ich hoffte, das Automatische Logbuch würde die Formulierungen ein bisschen glätten, ehe es die Nachricht an die MARQUIS DE LAPLACE überspielte –, und warf mir dann das Camp, das sich unterdessen zu einem 70-Pfund-Tornister vernietet hatte, über die Schultern. Auch wenn die 112 Jahre, die seit meiner Geburt auf der Erde vergangen waren, nicht 1 zu 1 in Betracht kamen, fühlte ich mich an Tagen wie diesem sehr alt.
Obwohl meine Trödelei nur wenige Minuten gedauert hatte, war Jennifer schon weit voraus. Sie hatte die Schwerkraftdämpfer ihres Anzugs auf höchste Stufe gestellt und schnellte in elastischen Sprüngen von jeweils zehn bis zwölf Metern über die Schotterhänge voran. Ich tat es ihr nach und versuchte den Rhythmus wiederzufinden, den ich bei dieser Fortbewegungsweise schon einmal ... Wo war das gewesen? Auf irgendeinem Uranus-Mond – überhaupt überfielen mich ständig Stimmungen und Erinnerungen, die mich in die Zeit zurückversetzten, die ich in der Umlaufbahn unseres siebten Planeten verbracht hatte. Das Licht, die Abgeschiedenheit, die Aura dunkelblauer Geheimnisse.
Die Kunst bestand darin, nicht wie ein Känguruh herumzuhüpfen, weil das auf längere Zeit viel mehr anstrengte, sondern in der Motorik eines normalen Dauerlaufs lediglich die Schrittweite zu erhöhen. Oben auf dem Plateau, wenn die Stürme unser Jogging nicht allzusehr beeinträchtigten, jagten wir später in Sätzen von fünfzig bis hundert Metern dahin.
»Mach langsam«, rief ich zu der Davoneilenden hinauf, »pass auf, dass du nicht ...«
Aber da war es schon geschehen. Sie hatte die Sprünge zu hoch genommen und war – was wollte sie mir beweisen? – in einem mächtigen Satz über den scharfgezackten Rand des Hochplateaus hinweggesegelt. Dort hatte sie der eisige Polarsturm erfasst, der von dem Kältehoch über dem Plateau heruntergepresst wurde und hier mit der Gewalt eines Wasserfalls über die Abbruchkante fegte. Einen Schritt unterhalb herrschte Windstille, allenfalls ein feiner Sog, doch im nächsten Augenblick ergriff einen der Jet-Stream. In den war sie nun nassforsch und gewichtslos hineingesprungen und wurde sofort etliche hundert Meter in die Luft und über mich hinweggerissen. Sie schrie nicht, aber ich hörte ihr explosionsartiges Keuchen in meinem Helm, als sie von der Wucht des Anpralls getroffen wurde.
»Die Dämpfer runterregeln, aber langsam!«, rief ich in die Automatik, denn ihr Anzug samt Gepäck wog weit über einen Zentner, so dass sie wie ein Stein heruntergefallen wäre, hätte sich die Dämpfung ganz ausgeschaltet.
»Ich hab das im Griff«, hörte ich, als sie in einem vielfachen salto mortale über mich hinwegraste. Dann aktivierte sie die Stabilisatoren. Ich sah, wie sie die Füße wieder nach unten bekam und langsam aus der Strömung heraussank. Bis sie auf dem Boden aufsetzte, war sie fast bis zu der Stelle, wo wir übernachtet hatten, abgetrieben worden. Ich wartete, bis sie wieder heraufgestapft kam und verkniff mir jede Häme. Dann setzten wir, mit hochgedrehten Trägheitskoeffizienten, den Anstieg fort.
Wir näherten uns – »gewitzigt«, würde es in alten Reiseberichten heißen – der Passhöhe. Zehn Schritte unterhalb blieb ich stehen, drehte die Stabilisatoren hoch, die Dämpfer runter, bis ich mit einem Gewicht von zwei Zentnern auf dem Boden stand, und aktivierte die Pneumatik, die in den Anzug eingezogen war und die Muskulatur unterstützte. Dann schob ich mich Meter um Meter heran. Ich spürte den Jet-Stream am Helm, und wäre dieser nicht von einem virtuellen Gyroskop stabilisiert worden, hätte es mir den Schädel heruntergerissen. So registrierte ich lediglich, dass mir ein enormer Orkan entgegenstand, der messerscharf den bodennahen, völlig ruhigen Luftschichten auflag. Ich ging weiter, und der Sturm erfasste meinen Oberkörper, meine Hüften, meine Beine – und meine Psyche, denn wilde Bilderfetzen wurden mit heraufgewirbelt. Das Kali Gandaki blitzte auf, wo ein ähnlicher, aber trockenheißer Wind getobt hatte, und plötzlich stand ich in der Glocknerscharte, am Übergang vom Klein- zum Groß-Glockner, und tastete mich millimeterweise über die fußbreite Kante, während rechts die Palavicini-Rinne eine Meile tief auf die Pasterze hinunterbrach und der Höhensturm an meiner Daunenjacke zerrte und das Seil in weitem Bogen nach Osten hinausbauschte ...
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass Jennifer noch schräg hinter mir war, dann tat ich, mich instinktiv nach vorne stemmend, den letzten Schritt und stand auf dem polaren Hochplateau Lu-Aus. Ihre Hand war an meinem rechten Arm, und ich hörte ihre Stimme in der Automatik, unerwartet zärtlich.
»Phan-ta-stisch!«
Vor uns lag, unter dem violetten Licht einer fahlen Sonne, eine geröllbedeckte, blauschimmernde Hochebene von unermesslicher Ausdehnung. Grünliche und anthrazitfarbene Felsbrocken übersäten erstaunlich gleichmäßig den flachen Grund, der vor uns leicht abfiel, um dann, ohne weitere Gliederung des Geländes, bis zum Horizont zu reichen, der weiter und weniger gekrümmt war als auf der Erde und der ein Gebiet von tausenden Quadratkilometern umschloss. Der Blick verlor sich in einer Gesteinswüste von den Dimensionen eines Kontinents, allenfalls vergleichbar der Aussicht von einem Himalayagipfel in die Weiten Tibets hinaus. Das gesamte Plateau umfasste mehrere Millionen Quadratkilometer schweigendes, totes Land, von Ammoniak-Stürmen gepeitscht, immer 152 Erdjahre – so lange dauerte ein halber Umlauf von Lu-Au – im Permanganat-Glanz der fernen Sonne opalisierend, 152 Jahre im Frost kosmischer Finsternis, in der sich Reif aus Helium und Stickstoff bildete.
Das war einmal der Traum meiner Jugend gewesen, so eine unendliche Landschaft, in die man wochen- und monatelang hineingehen konnte, ein Leben lang nur wandern ...
Jetzt empfand ich vor allem Skepsis, was die Durchführbarkeit unserer Expedition anging. Jennifer hatte sich von meiner Seite gelöst – erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie für einen Moment meine Hand gehalten hatte – und ging mit schweren Schritten los.
»Der Wind lässt nach«, hörte ich sie sagen. »Er hat nur unmittelbar an der Kante diese Kraft. Ich wette, in drei bis fünf Kilometern Entfernung bemerkt man ihn nicht mehr.«
»Will’s hoffen, sonst haben wir von vornherein keine Chance«, gab ich zurück und stakste langsam hinter ihr her. Anfangs war es etwas gewöhnungsbedürftig. Das sensorielle Gewebe des Anzugs erfasste Nerven-Impulse und Muskel-Aktivität und passte sich letzterer hautnah an. Die Pneumatik in den Beinmanschetten verlieh jedem Schritt die dreifache Kraft, so dass wir auch in voller Montur und bei reeller Schwerkraft normal gehen konnten. Aber eben nicht mehr. Ich trottete also los wie ein Trekkingtourist, der seinen ersten Fünftausender macht und jedes Gramm seiner Ausrüstung verflucht. Der Jet-Stream ließ aber tatsächlich bald nach, so dass ich sukzessive die Dämpfer hochfahren und die Schrittlänge steigern konnte. Jennifer war mit langgestreckten Sätzen schon wieder weit voraus.