Czytaj książkę: «Wer regiert die Schweiz?»
INHALT
EINLEITUNG
DIE WIRTSCHAFT
DIE POLITIKER
EIN TAG IM LEBEN VON NATIONALRAT MÜLLER
DIE LOBBYS
DIE VERWALTUNG
DER BUNDESRAT
SCHULE DER DEMOKRATIE
DIE KANTONE
DIE MEDIEN
WER SONST NOCH ALLES DIE SCHWEIZ REGIEREN SOLL
DIE FRAUEN
DAS AUSLAND
WELCHER GEIST REGIERT DIE SCHWEIZ?
DAS VOLK
EINSICHTEN
BIBLIOGRAFIE
DANK
AUTOREN
EINLEITUNG
Wer regiert die Schweiz? Der Bundesrat: So lautet oft die spontane Antwort – schliesslich ist das die Landesregierung. Das Parlament: Das sagen diejenigen, die im Staatskundeunterricht aufgepasst haben, denn National- und Ständerat stehen über dem Bundesrat. Das Geld, spötteln viele, und sie tun das mit angewiderter Miene. Das Ausland, antworten andere, denen diese Vorstellung nicht passt, denn sie denken dabei entweder an die EU oder an die knallharte Interessen- und Überwachungspolitik der USA. Die Wirtschaft, glauben viele Linke. Das Volk! – mit Ausrufezeichen –, sagen viele Rechte. Es ist ihre trotzige Dauerbeschwörung, dass die Schweiz von alters her eine direkte Demokratie sei (was so nicht ganz stimmt) und dass dem Stimmbürger, der Stimmbürgerin immer das letzte Wort zustehen müsse.
Wer regiert die Schweiz? Was einer antwortet, besagt etwas darüber, wer er ist und was er denkt. Die Frage ist ein Lackmustest für die Gesinnung. Sucht man aber eine halbwegs präzise Auflösung des Rätsels, ohne ideologische Scheuklappen, so stösst man heute auf eine Maschine, deren Bestandteile sich ergänzen oder blockieren, und Kräfte, die sich aufheben oder unfreiwillig verstärken. Wer die Macht im Staat erfassen will, findet am Ende – alles und niemanden.
Wer regiert die Schweiz? Natürlich wurde diese Frage schon an zahllosen Tagungen, Podiumsdiskussionen und in politologischen Werken erörtert, mit interessanten Einsichten: Man kann den Einfluss von Parteien, Verbänden, Lobbygruppen, Einzelfiguren, bürokratischen Institutionen oder sozialen Schichten durchaus eingrenzen, vermessen oder kartografieren. In diesem Buch aber geht es darum, nach langer Zeit wieder einmal ein griffiges Gesamtbild zu zeichnen. Hans Tschäni, ein bekannter Inlandjournalist, veröffentlichte vor über einem Vierteljahrhundert einen Bestseller mit dem Titel «Wer regiert die Schweiz?». Darin beschrieb er 1983 ein Land, das von Lobbys, Verbänden und technokratischen «Experten» beherrscht wird. In dieser «Filzokratie» erschienen Volk und Parlament, eigentlich die legitimen Herrscher, als Gehilfen machtgieriger, grauer Strippenzieher. Das Buch fand enorme Beachtung, denn es zertrümmerte feste Vorstellungen, und als Warnruf vor einem wirtschaftlich-militärischbürokratischen Komplex traf es den Nerv der Zeit.
Doch heute mutet vieles davon antiquarisch an – und manche Einsichten wären inzwischen schlicht falsch. Das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Der alte Filz ist zerrieben, der Zeitgeist ist ein anderer. Heute leben wir in einem Staat, in dem Polit-Amateure fast im Alleingang die Verfassung ändern können – und zwar dergestalt, dass sich die Chefs von globalen Milliardenkonzernen darüber ärgern. Derweil gelten ausländische Institutionen, die man damals gar nicht erst beachtet hätte, als heimliche Mitherrscher. Offensichtlich erlebten wir in den letzten 30 Jahren einen dramatischen Wandel, eine stille Revolution, die das Gefüge des Staates und seiner inneren Kräfteverteilung gehörig umgepflügt hat.
Die Eidgenossenschaft ist offenbar reif für neue Einschätzungen. Wir fragen also: Wer regiert die Schweiz – hier und heute?
DIE WIRTSCHAFT
Wie eine Säule der Macht einbrach. Und damit Platz machte für neue Einflussreiche.
Sie bemühen sich, gefasst zu bleiben. Als die Justizministerin, der Aussenminister, der Innenminister und die Infrastrukturministerin am 9. Februar 2014 vor die Medien treten, geben sie sich so gelassen, wie es in dieser Lage nur irgend möglich ist. Die durchgestreckte Sitzhaltung, der freundliche Blick, die Sachlichkeit der Worte – all das verkündet: Nur kein Alarmismus! Vielleicht haben die Bundesrätinnen und Bundesräte noch jene Bilder und Aufnahmen vor Augen, die 22 Jahre zuvor entstanden waren. Bilder, auf denen ihre Vorgänger mit aufgeblasenen Backen an den Kameras vorbeigeblickt hatten; Aufnahmen, in denen die Regierungsmänner von einem «dimanche noir» redeten.
Damals, im Dezember 1992, bot der Bundesrat ein Gesamtbild kapitaler Ratlosigkeit, nachdem das Volk den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR abgelehnt hatte. Es war ein historischer Knall im kleinen Land.
Jetzt, am 9. Februar 2014, hat es eine Initiative angenommen, in der es vordergründig um «Masseneinwanderung» ging und hintergründig erneut um einen historischen Bruch.
«In Zukunft wird die Zuwanderung durch Bundesbern gesteuert und nicht durch die Wirtschaft», lautet einer der trockenen Sätze, mit denen Justizministerin Simonetta Sommaruga das Abstimmungsergebnis beurteilt. Damit spricht sie aus, dass die Bevölkerung nicht nur ihr Verhältnis zu Europa auf den Kopf gestellt hat, sondern auch das gewohnte Verhältnis zur Wirtschaft. Denn in der Schweizer Politik hatte seit über hundert Jahren eine Regel geherrscht: Im Zweifel gibt man lieber der Wirtschaft etwas mehr Macht – und Bundesbern etwas weniger. Kleinere Ausnahmen hatte es immer mal gegeben, aber im Februar 2014 fragt sich das Land plötzlich, ob diese Regel überhaupt noch gilt.
Die Wirtschaft: Seit der Bundesstaat im 19. Jahrhundert gegründet worden war, konnte sie fast immer ihre Sicht der Politik durchsetzen. Die Wirtschaft, das waren die Chefs und Besitzer von kleineren, mittleren und hauptsächlich grösseren Unternehmen. «Die Wirtschaft» hiess aber vor allem: die Schwergewichte aus Pharma-, Chemie-, Maschinen-, Nahrungsmittel- und Finanzindustrie, die sich gemeinsam mit Bauernvertretern, Militär und der 150 Jahre lang führenden Partei, der FDP, zu einer Achse der Macht verschmolzen hatten.
Diese Achse war in der Schweiz bekannt und anerkannt. Teils bewundernd, teils achselzuckend, teils schaudernd erzählte man Anekdoten wie die, dass der Chef des Wirtschaftsdachverbandes Vorort sein Büro im Bundeshaus West hatte. Oder dass Industriemanager die Rüstungsbeschaffungs-Kommissionen des Verteidigungsdepartements leiteten. Oder dass die Schweizer Delegation bei Handelsvertrags-Verhandlungen im Ausland von Exportindustriellen angeführt wurde – und nicht etwa von Beamten. Alles notabene Aspekte des Milizsystems helvetischer Art.
Gelenkt wurde in Hinterzimmern und in Nebensätzen
Die Vernetzung, gern Filz genannt, war mehrdimensional. Auf die Nationalratsstühle setzten sich in den 1970er-, 80er- und 90er-Jahren – erstens – traditionell auch Fabrikanten mit Namen wie Bühler, Ammann, Schmidheiny oder Villiger. Zweitens entsandten führende Konzerne eigene Spitzenmänner ins Parlament, wobei der Industriemanager Ulrich Bremi und der Versicherungschef Peter Spälti, beide FDP, über manches Jahr die höchstrangigen Beispiele waren. Drittens verstrebten fast alle grossen Konzerne ihren Verwaltungsrat mit Politikern: Bekannte Beispiele aus den 1990er-Jahren boten der Zuger Markus Kündig (Schweizerische Bankgesellschaft, Zürich-Versicherung, Clariant), der Tessiner Gianfranco Cotti (Schweizerische Kreditanstalt) oder die Zürcherin Vreni Spoerry (Nestlé, Swissair). Viertens wiederum zogen sie Spitzenbeamte auf Managementpositionen nach, wobei insbesondere das Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) als Grande Ecole für die Privatwirtschaft diente: Ihm entstammten etwa Paul Jolles, der später Nestlé-Präsident wurde, Mario Corti, der via Nestlé bei Swissair landete, oder David de Pury, der dann als Kopräsident des Elektroriesen ABB amtierte. Fünftens bestanden zwischen den grossen Konzernen starke persönliche Verbindungen, wobei einzelne Multi-Verwaltungsräte am Ende direkt in politischen Interessengruppen und bei politischen Prozessen mitredeten: Es waren Allrounder der Macht wie Rainer E. Gut (SKA, Nestlé), Fritz Gerber (ehemals Bawi, dann Zürich, Roche, SKA, Nestlé) und etwas später Walter Kielholz (SKA, Swiss Re). Sechstens wurde dieses Einflussnetz auf tieferen Ebenen kopiert, sodass der Direktor des mittleren Industriebetriebs auch als Kantonalparteichef von FDP oder CVP wirkte und der Prokurist als Gemeindepräsident. Schliesslich, siebtens, war der Gesetzgebungsprozess ohnehin notorisch eng begleitet von den Wirtschaftsverbänden, die mit eigenen Vertretern im Parlament oder in Expertenkommissionen ihre Leitplanken setzten. Und falls die Politik in Versuchung geriet, diese zu durchbrechen, konnte man immer noch mit dem Referendum drohen.
Gelenkt wurde in Hinterzimmern und mit Nebensätzen. «Du, ich vertrete hier die Bahnhofstrasse. Und die will den Vertrag», bemerkte zum Beispiel ein einflussreicher FDP-Mann vor einer Kommissionssitzung übers Qualified-Intermediary-Abkommen mit den USA zu einem SVP-Vertreter. «Also hast du zu schweigen.» Wie ein Beteiligter berichtet, hielt sich der SVPler damals, 1999, brav daran. Recht offen erzählte der Präsident der Grossbank UBS, Marcel Ospel, in kleinerem wie grösserem Kreis, dass er seinen Einfluss geltend gemacht habe, um im Dezember 2003 die wirtschaftsnahen Politiker Hans-Rudolf Merz und insbesondere Christoph Blocher in den Bundesrat zu hieven. «Jüngst haben wir uns erlaubt, bei der Nachfolgeregelung für Finanzminister Kaspar Villiger unsere Meinung einzubringen»: So äusserte er sich wenige Wochen später in einem Interview mit der «Sonntagszeitung». «Wir wünschten uns, dass weiterhin eine Stimme mit derselben Kraft und Ausrichtung im Bundesrat vertreten ist.» Er sei nun «sehr zufrieden» mit der Zusammensetzung der Landesregierung, verkündete der Grossbanker. Und nur wenige Schweizer störten sich damals daran.
Doch schon bald nach der Jahrtausendwende lag dieses System in Trümmern, zerrieben war der Filz. In dramatischem Tempo lernten die Wirtschaftslenker, dass auch sie bangen müssen und verlieren können, sei es im Parlament, sei es beim Volk.
Will man einige Daten auf diesem Weg herausgreifen, so bietet sich zum einen der 6. Dezember 1992 an, zum anderen der 3. März 2013, und zum dritten der erwähnte 9. Februar 2014. Am ersten Schicksalssonntag kassierte das Wirtschafts-Establishment in einer Kernfrage einen schweren Schlag. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, von der international orientierten Business-Community als schicksalsschwer geschildert, fiel beim Volk durch. Beim zweiten Datum fasste das Wirtschafts-Establishment eine satte Ohrfeige: Das Volk nahm mit einer Zweidrittelmehrheit die «Abzocker-Initiative» an, die sich hauptsächlich gegen die Usanzen der Manager-Entschädigung in den Grosskonzernen richtete. Es war die dritterfolgreichste Initiative aller Zeiten, obschon die Wirtschaftsvertreter mit viel Geld vor den Gefahren gewarnt hatten. Offenbar hatte sich bei den Stimmberechtigten die Vorstellung durchgesetzt, dass es an den Konzernspitzen Leute gibt, die allzu abgehoben sind. Bei der «Masseneinwanderungsinitiative» im Februar 2014 war das Volk schliesslich bereit, den Bruch eines jahrelang eingespielten Vertragsverhältnisses mit der Europäischen Union zu riskieren, im vollen Wissen darum, dass viele Unternehmen darunter leiden würden. «Die Wirtschaft ist in der politischen Arena nicht mehr vorbehaltlos kreditwürdig», resümierte die «Neue Zürcher Zeitung» am 11. Februar 2014.
Wirtschaftsführer gegen Wirtschaftsführer
Bezeichnend war allerdings, dass auf der Gegenseite ebenfalls ausgewiesene Wirtschaftsvertreter zuvorderst gekämpft hatten. 1992 war es ein Industriebaron aus dem Kanton Zürich, Christoph Blocher, 2013 ein Hersteller von Zahnpflegeprodukten aus dem Kanton Schaffhausen, Thomas Minder. Und 2014 beide zusammen. Selbst wenn «die Wirtschaft» bereits in den Jahrzehnten davor keineswegs einem weltanschaulichen Granitblock entsprochen hatte, so waren sich damals doch Binnenindustrie und Exportwirtschaft, Gewerbe und Landwirtschaft, Industrie- und Dienstleistungskonzerne noch genügend nahe, um ihre Interessen auszugleichen und sie dann über die Verbände hinweg durchzusetzen – Vorort, Wirtschaftsförderung, Gewerbeverband, Arbeitgeberverband, Bauernverband. Nun aber trat dem führenden Milieu mit seinen eleganten Adressen an Zürichsee, Lac Léman und Lago di Lugano sowie seinen starken Abordnungen in FDP und CVP eine SVP-nahe Truppe entgegen. Diese hatte ihre Bastionen eher in den Agglomerationen, und sie wusste Vertreter aus Detailhandel, aus neuartigen Finanzboutiquen, aus Transport- wie Bahnunternehmen und überhaupt aus der ganzen inlandorientierten Wirtschaft hinter sich.
In Kernideen war man sich zwar einig – tiefe Steuern, wenig Vorschriften, schlanker Staat. Aber bei anderen Themen waren die Gräben zu weit geworden. Der Grand Canyon verlief dabei entlang der Frage, wie das Verhältnis der Schweiz zum Ausland sowie zu den Ausländern in der Schweiz gestaltet werden solle.
Das, was jeder Stammtisch ab den 1990er-Jahren unter dem Schlagwort «Globalisierung» debattierte, zerrte eben nicht nur zwischen Links und Rechts, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Gewinnern und Verlierern – es zerriss auch die Geschäftswelt. Die Spannungen wurden auf allen Ebenen offenbar. So zum Beispiel, als ab Mitte der 2000er-Jahre plötzlich Maschinenindustrie, Baugewerbe, grafische Industrie und Uhrenindustrie aus dem Dachverband Economiesuisse austraten oder zumindest abzuspringen drohten. Der Bauernverband wiederum bekam es mit Alternativorganisationen aus den eigenen Feldern zu tun; Öko- und Kleinbauernkreise schmiedeten neue Allianzen mit Umweltschützern und Konsumenten, was die politischen Gewichte verlagerte. Fassbar wurde dies in der «Kleinbauern-Initiative», die 1989 nur knapp scheiterte, oder in der Initiative «für eine naturnahe Landwirtschaft», deren Gegenvorschlag 1996 angenommen wurde. In der Finanzbranche wiederum kam es nach der Lehman-Brothers-Krise zu Disputen zwischen Regional-, Privat- und Grossbanken, wobei Spaltungstendenzen innerhalb der Bankiervereinigung noch gut unter dem Deckel gehalten werden konnten; aber auch hier widersprachen sich Bankchefs bald öffentlich in Grundsatzfragen, und im Jahr 2013 befanden es die Grossbanken UBS und Credit Suisse für nötig, neben dem Branchenverband einen «Swiss Finance Council» aufzubauen, um ihrer Stimme international besser Gehör zu verschaffen. Konzerne wie Novartis, Migros, Swisscom, Post, Credit Suisse, UBS oder Glencore begannen damit, ihre Interessen verstärkt selber in Bern zu vertreten und es nicht mehr ihrem Spitzenverband zu überlassen, die Politiker auf Kurs zu bringen.
Grounding der Wirtschaftselite
Insgesamt also verloren die Wirtschaftslenker in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts dramatisch an Autorität. Im gefälligen Wachstum der Nachkriegsjahrzehnte hatten sie es sich noch leisten können, weltanschauliche Kritik und soziale Forderungen notfalls mit einigen Konzessionen abzufedern. Nach der Ölkrise aber – dem historischen Wendepunkt vom Dauerwachstum zu stetigen Turbulenzen – kam ans Licht, dass die vermeintlich so trittsicheren Patrons auch furchtbare Versager sein konnten. Im Chiasso-Skandal von 1977 verspekulierten örtliche Kaderleute der SKA Kundengelder, ohne dass das Management in Zürich etwas davon bemerkte. In der Uhrenkrise der 1970er- und 80er-Jahre erlebte das Land, wie eine stolze Traditionsbranche vom Drive der Japaner überrumpelt wurde. Beim Grounding der Swissair 2001 zeigte sich, dass die Schweizerkreuz-Airline, geführt von Prominenten der Wirtschaft, eine groteske Strategie verfolgt hatte. Und schliesslich führte die Finanzkrise ab 2008 jedem vor Augen, dass die grossspurigen Ambitionen und die Wallstreet-Saläre der Schweizer Banker weder durch gutes Risk Management noch durch besondere Finanzkenntnisse oder Kundenfreundlichkeit begründet waren. Uhren, Banken, Swissair: Ausgerechnet in Branchen, welche die helvetische Identität besonders geprägt hatten, versagten die Chefs.
UHREN, BANKEN,
SWISSAIR:
AUSGERECHNET
IN FIRMEN, WELCHE DIE
SCHWEIZERISCHE
IDENTITÄT
GEPRÄGT HATTEN,
VERSAGTEN DIE CHEFS.
1995 hatten einige Spitzenmanager noch einmal versucht, die grossen Leitplanken der Wirtschaftspolitik zu setzen. In «Mut zum Aufbruch», einem sogenannten Weissbuch, forderten 17 Wirtschafts- und Wissenschaftsführer eine liberale Fitnesskur für das Land; zum Beispiel mit einer AHV-Einheitsrente oder der Privatisierung von Post, Arbeitslosenversicherung und SBB. Der ganze Auftritt hatte wenig Erfolg, ja er erntete vor allem Spott, und gerade dies macht ihn so bezeichnend. Obwohl als Weckruf in schwerer Zeit gedacht – die Schweiz litt unter dem Echo einer Immobilienkrise –, dominierten jetzt die Zweifel an den Männern, die da irgendwen aufwecken wollten.
Andererseits machte die Aktion deutlich, dass sich selbst Teile der Wirtschaft «durch ihre Spitzenorganisationen nicht mehr genügend vertreten fühlen», wie der Politologe Adrian Vatter festgestellt hat. Auch habe das Weissbuch eine «Unzufriedenheit über die Spaltung des bürgerlichen Lagers» und die «gestiegene Bedeutung der Medien» zum Ausdruck gebracht. Ähnlich deutet Vatter den im Jahr 2000 von Grossunternehmen gegründeten Think Tank Avenir Suisse: nämlich als Versuch, sich stärker via Öffentlichkeit statt über die politischen Mühlen durchzusetzen und so die eigene Ideenwelt einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
Denn mittlerweile fehlten die Wirtschaftskapitäne, die eigenhändig in der helvetischen Milizpolitik mitsteuern konnten. Das Gros der wichtigen Konzernchefs blieb allein schon deshalb aussen vor, weil sie entweder einen ausländischen Pass hatten oder wegen Skandalen in ihrer Firma allzu leicht angreifbar gewesen wären. Nahm man beispielsweise im Jahr 2014 die Chefs und Präsidenten der im Börsenindex SMI erfassten Grosskonzerne, so blieb gerade eine Handvoll übrig, auf die weder das eine noch das andere Hemmnis zutraf. Die politisch einsetzbaren Schlüsselfiguren der Wirtschaft waren rar geworden. Am Ende schien es kaum noch vorstellbar, dass eine einzelne Figur – wie Rainer E. Gut bei der Gründung der Airline Swiss 2002 – mit einigen Telefonaten und abendlichen Sitzungen Milliarden für ein nationales Grossprojekt loseisen könnte.
«Wenn die Wirtschaft politisch so stark wäre, dann hätte sie es nicht nötig, so viele Lobbyisten in die Bundesstadt Bern zu schicken.» So fasst es Serge Gaillard zusammen, der Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Gewiss, das Ansehen des Establishments ist allgemein geschwunden, in allen Industrieländern, und das seit Jahren. In der Schweiz jedoch kommen die bissigsten und wirksamsten Angriffe gegen die Wirtschaftselite von rechts. Die Schweizer Manager sahen sich stets weniger herausgefordert durch klassische linke Anliegen wie Arbeitnehmerschutz, soziale Sicherheit oder Umverteilung – hier bleiben Niederlagen wie bei der gewünschten Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge im Jahr 2010 eine Ausnahme. Nein, wirklich ernsthaften Widerstand spüren sie am ehesten deshalb, weil dynamisches Wachstum und Fortschritt offenbar vielen Menschen zu weit geht; die Annahme der Alpeninitiative oder die gescheiterte Strommarkt-Liberalisierung sind Beispiele hierfür.
Das Ende der Schweiz AG
Blockaden ergeben sich auch aus dem Gegensatz zwischen Binnen- und Exportwirtschaft. Ein Paradebeispiel dafür bietet die Abschottung des Marktes für verschiedene Produkte mit zahlreichen Zöllen, Steuern, Auflagen und Verordnungstricks, also in der Konsequenz die oft zu hohen Preise, kurz: die dauerbeklagte «Hochpreisinsel Schweiz». Hier versanden die von Experten wie von wichtigen Firmen und Branchen geforderten Reformpakete, weil andere Firmen und Branchen gar kein Interesse daran haben. Der Riss innerhalb der Bürgerlichen tut sich auch hier auf.
Am Ende hat die Wirtschaft zwar an Macht verloren, doch es bleibt immer noch viel davon übrig. Wer eine Zahl dazu wünscht, der betrachte die Fiskalquote, also die Summe aller Staatseinnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt des Landes: Diese Rate kletterte zwischen 1990 und 2012 von 24,9 auf 28,4 Prozent. Oder man nimmt die Staatsquote, also den Anteil der Staatsausgaben an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes: Dieser Wert stieg im selben Zeitraum von 32 auf 35 Prozent. Beides lässt eine Verlagerung der Macht erahnen, ausgedrückt in wirtschaftlicher Potenz – eine Verlagerung hin zur Politik. Doch der Wert zeigt eben auch, dass der Anteil der Privatwirtschaft dominant bleibt, zumal im Vergleich zu anderen Ländern.