Czytaj książkę: «Was uns frei macht»
Matthias Beck
Was uns
frei macht
Für eine Spiritualität
der Entfaltung
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Hinführung
Zur Frage von Müssen, Sollen und Wollen
Bilder vom blühenden und entfalteten Leben
Du darfst und du sollst
Du sollst Frucht bringen
Du sollst mehr Frucht bringen – Vom Guten zum Besseren
Die bessere Alternative
Die Reinigung
Du sollst aus fünf Talenten zehn machen
Du sollst vollkommen sein – Du sollst Frieden stiften (Seligpreisungen)
Arm sein vor Gott
Trauernde werden getröstet
Wende keine Gewalt an – stifte Frieden!
Seid barmherzig!
Von den Handlungen zu den Haltungen
Du sollst vorausschauend handeln – die klugen Jungfrauen
Du darfst und sollst dich selbst lieben – Selbstliebe
Du darfst und sollst Gott lieben – Gottesliebe
Du darfst und sollst den anderen lieben – Nächstenliebe
Wer ist der christliche Gott? – Der entfaltete Gott
Gott und Mensch – Die Zwei-Naturen-Lehre
Menschlicher Wille und göttlicher Wille – wie findet der Einzelne seine Berufung?
Was blockiert das Blühen und die Entfaltung?
Äußere und innere Blockaden – Laster und Wurzelsünden
Du sollst keine fremden Götter neben mir haben
Du sollst dir kein Bild machen – von Gott nicht und vom Menschen nicht
Projektion: Der Balken im eigenen Auge
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert
Der Mann konnte keine Auskunft geben
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer!
Warum hast du deine Talente nicht vermehrt?
Zusammenfassung: Was blockiert die Entfaltung des Lebens am meisten?
Praktische Hinweise
Hinführung
Was ist christliche Spiritualität?
Unterscheidung der Geister – erster Zugang
Unterscheidung der Geister – konkret
Die inneren Stimmungen im Menschen
Zusammenfassung – Eine Ethik der Entfaltung
Anmerkungen
Die Bestseller von Matthias Beck
Impressum
Vorwort
Die Welt ist in Aufruhr. Es gibt Turbulenzen in der Politik, Wirtschaft, beim Klima. Sie ist orientierungslos und treibt dahin, von Notlösung zu Notlösung. In Krisenzeiten gab es immer wieder Versuche, sich seiner selbst zu vergewissern. In der griechischen Philosophie fragte sich Aristoteles, was Menschen angesichts zerbrechender Strukturen wirklich suchen. Seine Antwort: Sie suchen ihr Glück und ein gelingendes Leben. Später war es Augustinus, der fragte, was noch bleiben würde, wenn der Mensch von allen getäuscht werde. Seine Antwort: Es bleibt, dass ich weiß, dass ich es bin, der getäuscht wird. Wieder Jahrhunderte später formuliert René Descartes seinen berühmten Satz: Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Ich weiß in all dem Chaos, dass ich bin, da ich denke. So komisch es klingt: Im äußeren Durcheinander fällt der Mensch je neu auf sich selbst zurück.
Eine aufgeklärte christliche Philosophie und Spiritualität kann den auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen auffangen, stärken und wieder gemeinschaftsfähig machen. Die Botschaft: Es gibt in dir selbst einen Grund, der trägt. Du trägst alles in dir, was du zum Leben brauchst. Das klingt komisch. Lebt der Mensch nicht von der Gemeinschaft? Selbstverständlich brauchen Menschen einander. Der Mensch ist primär Mitmensch. Aber auch Gemeinschaften scheinen nicht mehr zu tragen, nur noch die Internet-Kommunität. Aber trägt sie wirklich?
Daher stellt sich die Frage, ob nicht jeder Einzelne in sich (göttliche) Ressourcen trägt, die es zu entdecken gilt. Vielleicht kommt der äußerliche, verunsicherte Mensch erst jetzt zu seiner tiefsten Quelle zurück. Vom Ich zum Du. Das Buch zeigt einen Weg dazu auf.1
Hinführung
Manche Menschen assoziieren mit dem Begriff „Ethik“ etwas Positives, manche aber auch eine Fülle von Verboten. Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen, du sollst nicht morden, so steht es in den Zehn Geboten. Von einer christlichen Ethik meinen manche sogar, dass sie das Leben blockiere. Für viele Menschen hat das katholische Christentum nichts Befreiendes. Dieses Buch will ein anderes Bild zeichnen. Es widmet sich der Darstellung eines Weges zur Befreiung des Menschen hin zu seiner individuellen Selbstentfaltung. Diese ist keine reine Selbstverwirklichung oder Egoismus, sondern Verwirklichung des innersten Wesens des Einzelnen,2 die Verwirklichung des Göttlichen in ihm. Dieses übersteigt das Ich des Menschen „um ein Unendliches“.3 Jeder Einzelne kann in seinem tiefsten göttlichen Grund zu sich selbst und zum anderen finden.
Die Begriffe Ethik und Moral werden oft synonym verwendet. Sie sind aber zu unterscheiden. Moral bezieht sich eher auf das gelebte Leben. Ethik hingegen ist die wissenschaftliche Reflexion auf die gelebte Moral. In der Ethik als wissenschaftliche Reflexion wird gefragt, warum wir so handeln. Ethik liefert Begründungen. Es geht dabei unter anderem um das tiefere Verständnis von inneren Haltungen (Tugenden) und menschlichen Handlungen (Normen). Ethik ist die Lehre vom guten Handeln und richtigen Leben. Eine „gute“ Ethik soll dem Leben des Menschen in seiner Verbundenheit mit anderen dienen. Sie hilft, dass Menschen ihr Glück finden und das Leben gelingt. So sollte auch eine christliche Ethik zur Freiheit, zum Glück und zu einem Leben in Fülle führen. Eine „gute“ Ethik ist außerdem universal, wie Immanuel Kant es formuliert hat. Sie gilt für alle Menschen.
Die inneren Haltungen werden auch als Tugenden bezeichnet. Der Begriff „Tugend“ hat mit „Tauglichkeit“ zu tun. Richtige innere Haltungen sollen tauglich sein für das Leben. Aristoteles postuliert im Anschluss an Plato vier derartige Tugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Klugheit meint dabei, langfristig zu planen und das Ende von Handlungen zu bedenken.4 Gerechtigkeit heißt, dass man den anderen Menschen gerecht werden soll (personale Gerechtigkeit), jedem das Seine gibt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt, dass man faire Geschäfte macht (Tauschgerechtigkeit) und sich um eine gerechte Verteilung der endlichen Güter dieser Welt kümmert (Verteilungsgerechtigkeit).
Tapferkeit ist ein Begriff aus dem Militär und meint die rechte Mitte (Maß) zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Der feige Soldat bleibt im Schützengraben, der tollkühne rennt blind ins Feld. Die rechte Mitte ist die Tapferkeit: Der Tapfere überwindet etwa seine Feigheit und handelt klug und überlegt. Tapferkeit ist heute wohl eher mit Zivilcourage oder Mut zu übersetzen. Die Tugend des Maßes durchzieht alle anderen Tugenden. Sie ist nicht das Mittelmaß, sondern die rechte Mitte zwischen zwei Extremen.
Für die Medizin heißt die rechte Mitte die richtige Dosis: nicht zu viel, nicht zu wenig. „Die Dosis macht das Gift“, heißt es bei Paracelsus. Tugenden lernt man nicht aus Büchern, sondern man muss sie täglich einüben und vollziehen. Ein gerechter Mensch wird man dadurch, dass man sich jeden Tag bemüht, gerecht zu entscheiden und zu handeln. Dieses ständige Üben formt langsam den Charakter. Goethe hat es so zusammengefasst: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“5
Ethik bezieht sich also auf innere Haltungen und äußere Handlungen des Menschen. Zum richtigen Handeln bedarf es einiger Regeln, Normen genannt. Diese Regeln kann sich der Mensch selbst ausdenken oder sie kommen aus einem religiösen Hintergrund. Erstere führen zu einer philosophischen Ethik, Letztere zu einer theologischen, wie zum Beispiel zu den Zehn Geboten. Als philosophische Ethik ist die erwähnte Tugendethik von Aristoteles zu nennen oder die philosophische Reflexion über den Begriff der Menschenwürde bei Immanuel Kant. Oft durchdringen sich philosophische und theologische Zugänge.
Um genauer zu verstehen, was theologische Ethiken sind, muss kurz über die Frage nachgedacht werden, was Religionen sind. Vergleicht man die fünf großen Weltreligionen, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam, zeigen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede: Der Hinduismus hat – ebenso wie in anderer Weise die griechische Philosophie – einen Vielgötterhimmel im Hintergrund. Von diesem würde der Philosoph Ludwig Feuerbach vermutlich sagen, dass diese Götter Projektionen des Menschen seien. Diese Götter stehen oft als Chiffren für das Unerklärliche wie Naturkatastrophen, die das Leben zerstören, aber auch für erhaltende Kräfte, die das Leben fördern. In der hinduistischen Ethik geht es unter anderem darum, ob angesichts des Kastenwesens – wenngleich politisch abgeschafft – alle Menschen gleich sind oder ob die unterschiedliche Kastenzugehörigkeit auch zu einer unterschiedlichen Bewertung des jeweiligen Menschen führt.
Der Buddhismus ist zum Teil eine Religion ohne personalen Gott. Er ist eher eine Lebensphilosophie. Hier geht es unter anderem um die Frage nach der Herkunft des Leidens und dass dieses Leiden vor allem durch die Anhaftung des Menschen an innerweltliche Dinge entsteht. Die Aufgabe des Menschen ist es, sich langsam aus diesen Anhaftungen zu lösen. Schrittweise kann er so aus dem Leidensprozess und dem Kreislauf der Wiedergeburten herauskommen. Hinduismus und Buddhismus haben eine Reinkarnationsvorstellung im Hintergrund, die ihrerseits zu bestimmten Ethiken führt.6
Erst mit dem Judentum ändert sich etwas Grundlegendes in der Religionsgeschichte: Das Judentum geht davon aus, dass der Gott, den es Jahwe nennt, von sich selbst sagt, dass er „Da ist“. „Ich bin Da“ (Ex 3,14)7. Er sagt von sich, dass es ihn „gibt“. Man nennt das die Selbstoffenbarung Gottes. Das Judentum ist somit eine Offenbarungsreligion. Der Gott Jahwe zeigt sich in dieser Welt. Er spricht und handelt am Volk Israel. Das Volk spürt, dass die vielen Götter, die es auch in Israel gab, keine Kraft haben. Jahwe aber erfahren sie als einen machtvollen Gott, der das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens befreit. Diese Befreiung feiert es jedes Jahr beim Pessach-Mahl.
Damit die Menschen die erlangte Freiheit nicht wieder verlieren, gibt Gott ihnen die Zehn Gebote. Sie sind ein Regelwerk, das kein Selbstzweck ist, sondern dem Menschen und seiner Freiheit dienen soll. Das Christentum setzt die Dynamik des Judentums mit der Auffassung eines sprechenden Gottes fort. Das Sprechen Gottes wird in Jesus Christus Mensch.8 Das göttliche Sprechen kommt dem Menschen auf menschliche Weise entgegen. Das Wort Gottes ist ein Gegenüber, wirkt aber auch im Menschen. Göttliches und Menschliches verbinden sich. Das Göttliche wird innerweltlich begreifbar9 und – teilweise – verstehbar. Der Mensch darf und soll Gott verstehen lernen. So kann sein Leben Frucht bringen. „Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt“ (Joh 15, 16). Für das vorliegende Buch sind verschiedene Aspekte aus der ethischen Debatte von Bedeutung. Aus dem Judentum kommen Themen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe, aus der griechischen Philosophie – vor allem der Nikomachischen Ethik des Aristoteles – Reflexionen über das Glück des Menschen10 und aus dem Christentum die „Dreifaltigkeit“ der Liebe mit Gottesliebe, Selbstliebe, Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe sowie die Hinführung zu einem Leben in Fülle (Joh 10,10).11 Im Christentum wird die äußere Befreiungsbewegung des Judentums zur inneren Befreiung des Menschen fortgesetzt. Jeder Mensch soll zu sich selbst hin befreit werden.12 Es geht um die äußere Freiheit (Handlungsfreiheit), die innere Freiheit (Willensfreiheit) hin zur Wesensfreiheit, die besagt, dass der Mensch befreit werden soll dazuhin, sein eigenes Wesen zu finden.13 Dazu sollte er den Anregungen des guten Geistes in seinem Inneren folgen (dem Heiligen Geist, der heilend und heilbringend wirkt), damit sein Leben heil und ganz wird.
Dieser „Stimme“14 des göttlichen Geistes zu folgen ist keine Fremdbestimmung, sondern Hinführung zur Selbstbestimmung. Der Mensch kann sich erst vom anderen Größeren her selbst finden. Er soll sich immer wieder neu übersteigen, transzendieren. Das führt aus christlicher Sicht zur Fülle des Lebens, zum Glück, zur Vollendung, zum Fruchtbringen, zur Entfaltung. Eine „gute“ religiöse Erziehung sollte dieser Entfaltung des Menschen dienen, allerdings immer mit dem Hinweis auf die Benachteiligten, Armen, Kranken, Gefangenen, denen auch geholfen werden muss. Diese Entfaltung geht nie geradlinig vonstatten, sondern immer auch durch die Gebrochenheit, Endlichkeit, Schuldverstrickung und das Leiden hindurch. Das ist das Kreuz der Welt. Daher sind auch Leid und Tränen unvermeidlich. Aufs Ganze gesehen sollte aber die Fülle des Lebens entstehen. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).
Zur Frage von Müssen, Sollen und Wollen
Eines sei noch für alle Überlegungen eingefügt: Es kommen in diesem Buch immer wieder Begriffe vor, wie „du sollst“, „du musst“, „du darfst“, „du willst“, „Gott will“. Das klingt nach Zwang, aber es soll um Freiheit gehen – um einen Zusammenfall der Gegensätze. Nikolaus von Kues verwendet dafür den Begriff der coincidentia oppositorum:15 In Gott fallen die Gegensätze zusammen. Für den hier vorliegenden Kontext heißt das zum Beispiel: Das Wollen und das Müssen fallen in bestimmten Bereichen zusammen. Wenn du leben willst, musst du essen und trinken. Wenn du die Autofahrt überleben willst, musst du in der Kurve die Geschwindigkeit reduzieren. Wenn du als Musiker deine Talente entfalten willst, musst du üben. Wenn du einmal frei einen Beruf ergreifen willst, musst du lesen und schreiben lernen. Die Beispiele kann man fortsetzen. In einer Bemerkung über Nikolaus von Kues heißt es: „Aus seiner Sicht sind die Gegensätze in Gott eingefaltet (Hervorhebung d. Verf.), in der Welt ausgefaltet (Hervorhebung d. Verf.).“16 Für dieses Buch gilt: Jedes Sollen oder Müssen ist ein Müssen in Freiheit. Der Mensch kann es auch lassen. Wenn er aber die Freiheit erlangen will, muss er manches tun: „Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht“17, heißt es bei Goethe. Aber es ist ein Müssen oder Sollen, das von innen herandrängt, weil es dem Wesen des Menschen entspricht, und kein von außen aufoktroyiertes Müssen oder Sollen. Ideal wäre es, wenn aus dem Sollen langsam ein Wollen würde.
Und noch etwas anderes: Es wird sehr viel von Entfaltung und erfülltem Leben gesprochen. Aber es gibt leider auch den geschundenen und unterdrückten Menschen, den Armen und den Analphabeten, es gibt das große Leid und das Kreuz in der Welt. Es gibt Menschen, die äußerlich nie in ihrem Leben zur Entfaltung kommen. Dies wirft all die Fragen auf, die mit dem Theodizee-Problem zusammenhängen: Wie kann der gute und allmächtige Gott dieses große Leid in der Welt zulassen? Wenn er es verhindern könnte und es nicht tut, wäre er nicht gut, und wenn er es nicht verhindern kann, ist er nicht allmächtig. Auch dies hat letztlich mit der Freiheit des Menschen zu tun. Gott will den Menschen frei, und das beinhaltet das Risiko, dass der Mensch sich von Gott abwendet. So geschah es im Paradies und so geschieht es immer wieder. Dies ist eine der Ursachen für das große Leid in der Welt. Zu all diesen Fragen will dieses Buch keine Stellung nehmen, sie wurden an anderer Stelle bearbeitet.18
Bilder vom blühenden und entfalteten Leben
Du darfst und du sollst
Ein neues Leben beginnt. Ein Mensch tritt ins Sein. Er ist da. Schrittweise versteht er, was Dasein bedeutet. Ungefragt wurde er von den Eltern in dieses Dasein gebracht, „in die Welt geworfen“ (Heidegger). Jetzt ist er da. Er darf sein und soll sein. Es geht um das Dürfen und Sollen des Daseins: Du bist da, und es ist gut, dass du da bist. Idealerweise bist du von den Eltern gewünscht, gewollt und willkommen auf dieser Welt, von Gott her unbedingt bejaht. Und nun darfst du schrittweise der werden, der du bist, du sollst es sogar. Es gibt also ein zweifaches Sollen: Das erste Sollen ist ein Geschenk: Du darfst sein und sollst sein, du bist willkommen. Das zweite Sollen ist ein Sollen als Aufgabe: Du sollst und kannst mithelfen, dass sich das entfalten kann, was in dir angelegt ist. Hier kommen freie Entscheidungen ins Spiel. Der Mensch kann einschwingen in die Entfaltung seines Daseins, er kann sich aber auch verweigern.
Die alte Philosophie hat das Dürfen als ein Sollen formuliert, als Auftrag und Imperativ: „Werde, der du bist“ und „Erkenne dich selbst“.19 Jeder soll der werden, der er schon ist, er soll sich selbst erkennen. Eine eigenartige Formulierung: Jemand ist schon da und soll noch werden, sich entfalten. Dieses Werden der Entfaltung ist eine Bewegung aus der Wirklichkeit in die Möglichkeit und aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit.20 Es gibt die Wirklichkeit des schon Verwirklichten und die Wirklichkeit des noch Möglichen. Das ist Werden.21 Dieses Werden geht zum Teil von selbst, es muss aber auch mitgestaltet werden.
Das Sein ist schön, gut und wahr. Das kann schon das Kind im Gegenüber zur Mutter und zum Vater „erkennen“. Durch das Lächeln der Eltern hindurch erkennt das Kind das gesamte Sein in seiner Einheit, Gutheit, Wahrheit und Schönheit: Im Lächeln der Mutter sieht das Kind die mütterliche Liebe und wird durch sie „ins Bewußtsein gerufen.“22 Im weiteren Verlauf dieser Begegnung eröffnet sich dem Kind laut Hans Urs von Balthasar „der Horizont des gesamten unendlichen Seins und zeigt ihm vier Dinge: 1. Daß es ‚eins‘ ist in der Liebe mit seiner Mutter, obwohl ihr gegenübergestellt, also daß alles Sein ‚eins‘ ist. 2. Daß diese Liebe ‚gut‘ ist: also alles Sein gut ist. 3. Daß diese Liebe ‚wahr‘ ist, also alles Sein ‚wahr‘ ist. 4. Daß diese Liebe ‚Freude‘ weckt, also alles Sein ‚schön‘ ist.“23 So wäre es ideal. Leider werden Kinder auch abgelehnt und haben es somit sehr schwer, zu erkennen, dass das Leben wahr, gut und schön ist.
Es geht im Leben um die Entfaltung dessen, was schon angelegt ist. Ein Blatt entfaltet sich im Frühjahr. Am Baum entfalten sich die Blätter, im Herbst blüht er und bringt Frucht. Ein Mensch wird gezeugt und der Embryo entfaltet sich zum erwachsenen Menschen. Dabei geht es zunächst um die körperliche Entfaltung, dann um die seelische und geistige. Die körperliche Entfaltung geschieht weithin von selbst (bei entsprechender Nahrung), an der seelischen und geistigen kann und muss der Mensch mitwirken. Auch der Kosmos entfaltet sich und dehnt sich aus. Im Urknall ist das Ganze gleichsam eingefaltet und verdichtet, dann entfaltet es sich bis heute. Selbst im Göttlichen spricht das Christentum von der Drei-Faltigkeit Gottes. Diese „Faltigkeit“ ist aber keine Entfaltung im Sinne eines innerweltlichen Werdensprozesses, sondern das göttliche Sein ist schon immer entfaltet. Das Werden ist das Phänomen des Endlichen und Relativen. Dieses Werden hat eine Zielrichtung: Aus dem Samen wird der große Baum, aus der Zygote24 ein erwachsener Mensch.
Du sollst Frucht bringen
Man stelle sich den Samen eines Apfelbaumes vor. Er wird in den Boden eingesetzt und wächst heran. Wenn alles gut geht, wird er zum Baum und wird größer. Er wächst von selbst. Nach einiger Zeit trägt er Früchte. Sie ernähren den Menschen. Der Baum bringt von selbst die Frucht hervor, aber er muss auch gut gepflegt werden, braucht Wasser, Licht und Nahrung. Wie steht es mit dem Menschen? Soll er auch Frucht bringen? Geht das auch von selbst? Oder muss er da mitwirken?
Das Leben beginnt ganz klein. Ein Spermium befruchtet eine Eizelle. Neues Leben tritt ins Sein. Der Embryo wächst heran. Ab dem dritten Monat wird er Fetus genannt. Der Fetus wird geboren, die Nabelschnur durchtrennt. Die Trennung von Mutter und Kind beginnt. Aus der Einheit in Verschiedenheit von Mutter und Kind wird das Gegenüber zweier Individuen. Sie schauen sich an. Sie haben ein Antlitz,25 ein Gesicht. Sie kommunizieren jetzt als Gegenüber, wie sie dies schon im Mutterleib in anderer Weise getan haben. Das Kind braucht Zuwendung. Kinder, die nur ernährt werden, sterben. Man muss mit ihnen sprechen, sie berühren, anschauen, anlächeln. Zunächst geht diese Kommunikation nonverbal vonstatten, später mit Worten. Der Mensch ist auf Kommunikation und Beziehung angewiesen.
Das Kind wächst heran. Es lernt laufen, sprechen, denken. Es wird angesprochen und antwortet, es wird angeblickt und blickt zurück, es wird geliebt und liebt zurück. So lernt es sprechen, schauen, lächeln, lieben. So könnte es weitergehen. Aber es kommen neue Herausforderungen hinzu: Es soll lesen und schreiben lernen, einen Beruf ergreifen, den richtigen Lebenspartner finden. Das Leben steht nicht still, es geht weiter. Die Zeit ist nicht anzuhalten und nicht zurückzudrehen. Es geht immer nach vorne.
Die Zeit läuft immer weiter: Die letzten Minuten, die vergangen sind, kommen nie wieder, und die nächsten Minuten waren noch nie da. Insofern – so ähnlich sagt es der Philosoph Martin Heidegger – „gibt“ es keine Vergangenheit, weil sie schon vorbei ist. Und es gibt auch keine Zukunft, weil sie noch nicht da ist. Es gibt nur die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Zukunft und die Gegenwart der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft fallen in der Gegenwart zusammen. Eigentlich gibt es immer nur das Jetzt. Dies ist ein Hinweis auf die Ewigkeit. Denn die Ewigkeit ist „ständige“ Gegenwart, ist „ständiges“ Jetzt!
Bei Leben und Zeit gibt es eine Dynamik in die Zukunft hinein. Und doch kommt die Zukunft auf den Menschen zu (zu-kunft). Er kann sie nicht machen. Er fällt geradezu immer neu in die auf ihn zukommende Zukunft hinein. Er weiß nicht einmal genau, ob sie kommt. Die kommenden Minuten waren noch nie da. Aller Voraussicht nach kommen sie, genau wissen kann es der Mensch nicht. Die Welt könnte untergehen oder jemand stirbt, dann ist zumindest die eigene Zukunft in dieser Welt dahin. Die Zukunft kommt und baut sich unter jedem Schritt des Menschen neu auf. Sie ragt als noch Kommende in die Gegenwart hinein: Wir machen Pläne, erwarten ein Kind, hoffen auf einen guten Ausgang.
Leben ist im Werden. Es ist Vorübergang. Gibt es in dieser Bewegung des Vorübergehenden auch Bleibendes? Leben wächst: körperlich, seelisch, geistig. Wachstum ist ein zentrales Phänomen des Lebens. Das körperliche Wachstum kommt irgendwann an ein Ende. Aber seelisches Wachstum geschieht ein Leben lang, ebenso wie das geistige Wachstum. Der Mensch ist nie fertig. Er verändert sich äußerlich und verwandelt sich innerlich. Halten wir die Frage nach dem Bleibenden noch offen.
Der zitierte Apfelbaum bringt von selbst die Frucht hervor. Der Mensch muss sich zum Fruchtbringen entscheiden. Er kann sein Leben auch absterben und verwelken lassen. Er kann scheitern. Wer Freiheit denkt, muss auch Scheitern denken. Der Mensch kann sein Ziel verfehlen: Das meint der griechische Begriff hamartia. Im Deutschen wird dieser Begriff meist mit Schuld übersetzt, entweder im Sinne des Schuldig-Bleibens oder des Schuldig-Werdens. Jemand bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, bleibt sich selbst und dem Leben etwas schuldig. Er bringt keine Frucht. Er verdorrt. Er verfehlt sein Ziel.
Wie kommt es zu diesem Fruchtbringen beim Menschen? Es ist ja offensichtlich ein Fruchtbringen, das einerseits von allein geht und gleichzeitig mitgestaltet werden muss. Die Entwicklung und das Werden drängen heran und der Mensch kann mit dieser Lebensbewegung mitschwingen und zur Entfaltung beitragen oder sich dagegen entscheiden. Er sollte versuchen, die innere Entfaltungsdynamik nicht zu blockieren. So geht es um ein Zulassen dessen, was sich von innen entfalten will und um ein Mitwirken daran. Es geht dabei nicht um eine ständige Leistung, die überfordert.
Woher zieht der Apfelbaum seine Nahrung zur Entfaltung? Aus etwas anderem, das er selbst nicht ist: aus der Erde, in der er wurzelt, aus Wasser, Luft, Sonnenenergie. Woher zieht der Mensch seine Nahrung? Auch aus etwas anderem: aus seiner Ernährung, dem Wasser, der Luft, der Sonnenenergie. Aber auch das Seelische braucht Nahrung. Sie bekommt der Mensch aus guten menschlichen Beziehungen: im Kindesalter vor allem von den Eltern, später von Freunden, Lebenspartnern. Beziehungen können aneinander reifen. Das geht nicht ohne Konflikte. Entscheidend für die glückende Reifung ist, dass diese Konflikte immer wieder gelöst und Missverständnisse geklärt werden.
Woher kommt die geistige Nahrung? Offensichtlich aus Geistigem: von Menschen, aus der Schule, aus einem Buch, dem Nachdenken über die Welt, aus Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Erkenntnis der letzten Dinge, Dialog mit dem anderen. All diese Dialoge wurzeln letztlich in einem Dialog mit dem letzten geistigen Grund des Seins, dem Göttlichen. Aus ihm wächst alles empor. Er ist die Quelle und der Urgrund von allem.
Derselbe Urgrund des Seins wohnt im Menschen als Seelengrund.26 In diesem letzten Grund darf und soll der Mensch Wurzeln schlagen. Von dort her wächst ihm alles zu: Kraft, Erkenntnis, Einsicht, Verständnis für sein Leben. Auch hier wieder beides: Diese Wurzeln sind schon da, sie bringen Nahrung herbei und doch sollte sich der Mensch diesem Grund immer wieder aktiv zuwenden. Hier kommt seine Freiheit ins Spiel. Darin liegt die eigentliche Entscheidung, die jeder täglich neu treffen kann: sich immer wieder diesem letzten Seinsgrund zuzuwenden, damit aus ihm das Leben sprießen kann und zur Entfaltung kommt. Wenn die menschlichen Wurzeln in gutem Boden verankert sind, wird das Leben auch gute Früchte tragen.
So wie der Mensch täglich essen muss, kann er sich auch immer wieder nach innen seinem Seelengrund zuwenden, still werden und in sich hineinhorchen. Die eigentliche geistig-geistliche Nahrung kommt aus dieser tiefsten Dimension. Es liegt in der Entscheidung des Menschen, sich ihr immer wieder hörend zuzuwenden. Das nennt man zum einen „Reflexion“ (reflectere: sich nach innen beugen). Der Mensch besitzt die Freiheit, über das eigene Leben, das Leben der anderen und das Leben an sich nachzudenken. Dieses Sich-nach-innen-Wenden kann man auch als Gebet oder Meditation bezeichnen.27 Der Mensch hört in das eigene Innere hinein oder formuliert „nach draußen“ Gebete: still werden, um in der Stille die schweigende Stimme aus dem Inneren zu vernehmen. Reflexion und Gebet können sich durchdringen. Aus christlicher Sicht wohnt im Seelengrund das Göttliche, der gute Geist, der Heilige Geist. Dieser „spricht“ in der Weise des Schweigens.28 Er ist „Teil“ des menschlichen Gewissens, das eine Mischung ist aus weltlichen Stimmen von Vater, Mutter, Schule, kulturellen Prägungen und anderen Über-Ich-Strukturen29 und der göttlichen Wahrheitsstimme. Im Laufe des Lebens geht es immer mehr darum, die weltlichen Stimmen von der göttlichen unterscheiden zu lernen. Die Tradition nennt das die „Unterscheidung der Geister“ (siehe dazu das Kapitel über die Unterscheidung der Geister). In Anlehnung an das Wachstum der Pflanzen beschreibt das Neue Testament diese je neue Zuwendung als ein Bleiben: „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich heraus keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt“ (Joh 15, 4-8). Die Verherrlichung Gottes ist das gelingende und fruchtbringende Leben des Menschen. Aber auch das Gegenteil wird gesagt: „Jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen“ (Mt 3,10).
Nun kann man fragen, was diese Frucht denn ist. Es ist zum einen die Dynamik der Entfaltung des Lebens mit dem richtigen Beruf (Berufung), der Erfüllung der innerweltlichen Aufgaben, der Entwicklung der inneren Tugenden von Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß sowie der christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe, von denen es heißt, dass die größte unter ihnen die Liebe ist. Und so wird das Fruchtbringen auch mit der Tugend der Liebe verbunden: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet. Dies trage ich euch auf: Liebt einander!“ (Joh 15,16-17)