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Martina Stemberger
Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie
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Umschlagabbildung: Sergej Amin
PD Dr. Martina Stemberger ist Romanistin, Slawistin und Komparatistin; sie lehrt Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISSN 2626-0697
ISBN 978-3-89308-464-7 (Print)
ISBN 978-3-89308-467-8 (ePub)
Inhalt
Intro„Lesen gegen die Pest?“ Die Pandemie als literarisches Ereignis„… delight and consolation“? Vom Unbehagen in der Corona-LiteraturVon Contagion bis Corona World: Corona-Literatur im medialen KontextPandemie als Palimpsest: Zur Intertextualität der Corona-Literatur„Nur die Pest“? Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt„… what is this, some kind of plague?“ Lawrence Wrights The End of OctoberVom Schwarzen Tod zum Corona-Kapitalismus: Poetik und Politik der Pandemie„… the plague is timeless“? Pandemieliteratur zwischen Mythos und MedizinWider die „tyranny of contingency“? Philip Roths Nemesis„From outer space!“ Corona-Literatur als Inter- und KonterdiskursVon Homer bis Corona: Epi-/Pandemie und Religion„Coronapocalypse“? Zur literarischen Vermessung der PandemieZwischen Pathos und Parodie: Alberto Vázquez-Figueroas Corona-Dilogie„As I begin to write these lines…“: Corona in Diaristik und Chronistik„Dokumentieren ist das Einzige, was wir tun können“: Fang Fangs Wuhan DiaryVon Wuhan nach Westen: Ambivalenzen des Corona-TagebuchsMarie-Antoinette in der Corona-Quarantäne: Facetten einer französischen QuerelleIm Lockdown mit Lachesis, Gregor & Co.: Éric Chevillards Sine die„… io. Tu. Lui, lei. Noi, loro“: Chiara Gamberales Come il mare in un bicchiere„Je vous fais une lettre…“: Zur Corona-Briefliteratur„Die Freiheit zu sterben“? Thea Dorns Trost„What is the internet but collective memory?“ Zur digitalen Memoria einer Pandemie„I can’t breathe“: Das Virus als politische MetapherDie Kunst der Inter-Kontamination: Kollektives Schreiben in der Krisenzeit„Coronameron3D“: Decameron-Variationen im digitalen Kontext„The plague is out there“: The Decameron Project„Man ist nun einmal betroffen von Coronen“: Mit Boccaccio nach BuchenwaldEine „Reise durch die Bücher zu den Krisen und den Seuchen“: Martin Meyers Corona„Writing now doesn’t matter anymore…“: Corona-Literatur als Metaliteratur„… Arztroman oder Meisterwerk?“ Wim Daniëls’ Quarantaine„All manner of virulent things…“: Ali Smiths SummerCorona-Comic & Co.: Zur Intermedialität der PandemieliteraturEin „Covid-19 Fairytale“ zwischen Text und Tanz: Etgar Kerets „Outside“Zwischen den Sprachen und Kulturen: Zur Konfiguration einer Corona-Weltliteratur„Corona Odyssee“: Reiseliteratur in Zeiten der PandemieIn elf Tagen um die Corona-Welt: Alexandre Najjars La Couronne du diable„What is the style of catastrophe?“ Zur Ästhetik der Pandemie (I)„This poem will not go viral“: Zur Poesie der Pandemie„The Five Stages of Epidemics“: Zur Dramatik der PandemieEine literarische Revolution? Zur viralen Post-Corona-PostmodernePatho-Textualitäten: Zur Ästhetik der Pandemie (II)„Schwarz schwarz schwarz“: Laura van der Haars Een week of vier„My body’s a body bag“: Covid erzählenPoetiken der Viralität: Corona im PorträtAudiatur et altera pars: Inga Kuznecovas Iznanka„Showing results for: coronavirus“: Die Pandemie als Google-Protokoll„Je schlechter, desto besser“: Der Text als Krise, die Krise als TextCorona als literarisches Genre? Provisorische ConclusioQuellenverzeichnisZitierte Websites:
Intro
„Es ist ja Corona nicht bloß ein Virus, sondern auch eine eigene Textgattung geworden […]“: Scherzhaft schlägt Schuh (2021) vor, Corona gleich „als Textsorte in die Maturaprüfung aufzunehmen“. Für eine literarhistorische Perspektive auf die sich als neues transversales Genre etablierende Corona-Literatur ist es aktuell zu früh; noch ist nicht einzuschätzen, wie die „post-pandemic fiction“ (Bohjalian 2020) sich entwickeln, ob „Sci-fi and Corona-Lit“ im Lauf der 2020er zu „a new genre of storytelling“ zusammenfinden werden (Bloom 2020). Und doch ist es von Interesse, schon jetzt einen Blick auf diese Literatur zu richten, die die Corona-Krise in Echtzeit zu verarbeiten versucht. Die Spanische Grippe, die ein langes Pandemic Century (Honigsbaum 2020) eröffnet, wird im Kontrast zu Corona zeitversetzt literarisiert; nachträglich markiert die „vergessene Pandemie“ (Crosby 2003) eine künstlerische „rupture as violent as the parting of the Red Sea“ (Spinney 2018: 261). Ist im Corona-Kontext, wie Elizabeth Outka vermutet, mit einem ähnlichen „shake-up of form“ (zit. Vincent 2020) zu rechnen? Läutet, wie Beigbeder (2021: 13f.) in Anbetracht einer „comme le coronavirus“ mutierenden Literatur spekuliert, die Pandemie den Beginn einer innovativen „littérature du XXIe siècle“ ein?
In diesem Sinne bietet dieser Dialoge-Band ein unweigerlich nicht exhaustives, doch repräsentatives Panorama rezenter Corona-Literatur. Wie wird eine bis in die Antike zurückreichende Tradition der Epi-/Pandemieliteratur in einem neuen gesellschaftlichen und medialen Kontext transformiert? Wie werden politische und wissenschaftliche Corona-Diskurse, aber auch Verschwörungsnarrative reflektiert? Wie Krankheit und konkret Covid erzählen? Angesichts einer globalen und doch kulturspezifisch akzentuierten Krise werden diese Fragen anhand einer Vielfalt von Beispielen aus unterschiedlichen Sprachen und Genres diskutiert, vom parodistischen Lockdown-Tagebuch aus Frankreich bis zum deutschen Corona-Thriller, von US-Pandemielyrik bis zum russischen philosophischen Corona-Roman. Neben einem internationalen Bestseller wie Fang Fangs Wuhan Diary werden zahlreiche im deutschen Sprachraum noch kaum bekannte Texte präsentiert; über Europa, die USA und Kanada hinaus kommen Autor*innen u. a. aus Lateinamerika, China und Indien, Israel und dem Libanon zu Wort. Neben individuellen Werken werden literarische Kollektivprojekte – so eine Auswahl seit Frühjahr 2020 florierender Decameron-Variationen – vorgestellt.
„Lesen gegen die Pest?“ Die Pandemie als literarisches Ereignis
Von Anfang an erscheint die Corona-Pandemie auch als literarisches Ereignis. „Lisez […]“, empfiehlt Emmanuel Macron in seiner von 35 Millionen französischen TV-Zuschauer*innen verfolgten Ansprache vom 16. März 2020. Ein weiteres Mal bewährt sich „Lezen tegen de pest“ (Jan Baetens, KUL) als Krisenbewältigungsstrategie, ist doch alles schon „dans les livres“, so François-Henri Désérable (TC 46–50); Jacques Drillon schlägt eine Runde Applaus für „Alexandre Dumas, Charles Baudelaire et Marcel Proust“ vor (TC 519). Von ihrer Rettung „par les livres“ berichtet auch die Laienleserschaft (Kronlund 2020b). Zwischen „Your Quarantine Reader“ (The New York Times), „Coronavirus: de Sophocle à Stephen King […]“ (France Info) und „The 20 Best Pandemic Movies, Books, Docs And Games […]“ (Esquire) ist für jede*n etwas dabei; nicht nur in der Literatur manifestiert sich die krisenbedingt gesteigerte „Fiktionsbedürftigkeit“ des Menschen (Iser 1993: 16).
Eifrig wiederentdeckt wird die Epidemieklassik, allen voran „Boccaccio, Defoe, García Márquez, the usual suspects“ (Carlos Fonseca, Stars 378). „Camus versus Garcia Marquez“, ruft L’Express zum „match littéraire“ (Payot 2020) – als Sieger geht der Autor der Pest (1947) hervor. Albert Camus’ Parabel wird zum internationalen Corona-Bestseller; Hype, der ikonoklastische Konterpositionen provoziert: „Ich mag Camus nicht“, proklamiert Emmanuel de Waresquiel (Dupont 2020), während Mario Vargas Llosa La Peste zum „mediocre book“ erklärt (Stars 33). Insgesamt wird ein traditioneller Kanon reaffirmiert, aber auch um Epi-/Pandemietexte aus nationalen Corpora erweitert. Dazu kommt die einschlägige Populärliteratur: Der Vergleich mit Stephen Kings The Stand (1978) macht immerhin sicher, dass Corona „no Captain Trips“ ist (Yoss, Stars 421); schon am 8. März 2020 stellt der Erfinder des fiktiven Influenza-Supervirus via Twitter klar: „No, coronavirus is NOT like THE STAND. […] Keep calm and take all reasonable precautions.“
Gegen die neue ‚Pest‘ wird nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben: Auf der Laienebene schlägt die Stunde der „écriture thérapie“ (Mourgues 2021); nach freilich schwer verifizierbaren Angaben greift während des Lockdowns „[u]n Français sur dix“ zur Feder bzw. Tastatur (Gary 2020). Einen „big spike in submissions“ bestätigt Literaturagentin Juliet Mushens (zit. Vincent 2020); in Indien kommen in kurzer Zeit Hunderte von Corona-Werken, oft von „first-time writers“, auf den Markt (Sharma 2020). Sogar Selbstverlagsanbieter wie Kobo schreiten notgedrungen zur ‚Triage‘ (Gariépy 2020). Abseits editorialer Zwänge favorisieren niedrigschwellige digitale Formate eine Explosion von „user-created media content“ (Foss 2020): „En attendant, écrivons“, lädt Matthieu Corpataux auf Facebook ein; der Corona-Boom von Online-Fanfiction bringt Portale an ihre technischen Grenzen (Stemberger 2021: 30f.). Zwischen Lady-Macbeth-Handwasch-Meme, #amoreaitempidelcoronavirus oder auch Twitter-„coronamerone“ sind es die sozialen Medien, über die Klassik in die Breitenkultur diffundiert.
Als erste weltweite „catastrophe that is experienced online“ (Fonseca, Stars 378) aktualisiert die „Skype Pandemic“ (Zoglin 2020) Potential wie Paradoxa digitaler Demokratizität. Zwar wird auch so manches professionelle Corona-Opus – von Fang Fangs Wuhan Diary bis zu Marlene Streeruwitz’ „Covid-19-Roman“ So ist die Welt geworden – zunächst online publiziert; zugleich werden die Exzesse einer „geschwätzigen“ Pandemie (Le Goff 2021: 11f.) beklagt: „Das ist der Nachteil der digitalen Technologie, […] dass jeder zu allem seine Meinung äußern kann, und bevorzugt zu dem, was er nicht kennt“, ironisiert Régis Debray (TC 320). Vor dem Hintergrund einer für Krisenzeiten charakteristischen Expansion des literarischen Feldes (Ribeiro 2020: 388) stellt sich zwischen Verteidigung künstlerischer Autonomie und Revendikation gesellschaftlicher Relevanz die Frage nach Status und Funktion der Literatur mit neuer Virulenz.
„… delight and consolation“? Vom Unbehagen in der Corona-Literatur
Quer durch die Genres frappiert ein gewisses Unbehagen in der Corona-Literatur, samt Kritik einer Instant-Diskursproduktion, die an ebendieser partizipiert. Vorwurfsvoll wird daran erinnert, dass Daniel Defoes die Londoner Pest 1665 dokumentierendes Journal of the Plague Year erst 1722 erscheint; auch Orhan Pamuk hatte bei der Redaktion seines Romans Veba Geceleri („Pestnächte“, 2021) „the good sense to let time do its work“ (Morris 2020). „So gut hätte dieses Buch sein können, wenn der Autor sich Zeit gelassen hätte“, bemerkt Truijens (2020) zu Daan Heerma van Voss’ Coronakronieken; freilich sei deren Aktualität „auch etwas wert“. Mitten aus dem Geschehen heraus erzählt Kike Mateu seine Geschichte als Paciente cero (2020); aus der Position eines auch physisch involvierten „spectateur engagé“ analysiert Le Goff die „grands discours“ einer Société malade (2021: 11). Doch insgesamt dominiert die Skepsis gegenüber einem wohlfeilen „Trend“, so Inga Kuznecova (Tolstov 2020), selbst Autorin eines Corona-Romans. In Naturkatastrophen-Metaphorik wird vor der drohenden „surproduction“ gewarnt, bevor die große „vague“ richtig startet (Gariépy 2020).
Jenes Unbehagen kompensieren Strategien präventiver Selbstlegitimation: Die engagierte Widmung – so bei Sizemore (2020): „for the first responders, the high risk, and the whistle blowers“ – gehört ebenso zum Corona-Paratext wie der Hinweis auf den karitativen Zweck; in Zeiten der crise veröffentlicht auch Gallimard seine dazugehörigen Tracts digital kostenlos. V. a. in der populären Domäne sind Gesundheitswünsche Usus: „Bleiben oder werden Sie gesund!“, richten der Leserschaft Sund/Biel (2020: 264) aus, die mit ihrem „ANTI-MIKROBIELL“ präparierten Cover ein kurioses Exempel pandemischer Paratextualität bieten. Über derlei Gesten hinaus stellt sich die komplexere Frage, was diese Echtzeit-Krisenliteratur leisten kann, will und soll. „Hoffnung verbreiten“, „unterhalten und […] Mut machen“ möchte das zitierte Corona-Ende (ibid.: 6); auf delectare et prodesse – „delight and consolation“, aber auch Reflexion der „true […] story“ – setzt das Decameron Project der New York Times (DP IX, XV). Jenem „Mangel an Vorstellungskraft“, der sich hinter „fehlende[r] Solidarität“ verbirgt (Giordano 2020: 40), gilt es auf dem Weg der Literatur beizukommen, spielerische Schule anti-egozentrischer Imagination.
Von Contagion bis Corona World: Corona-Literatur im medialen Kontext
„We ‚imagine‘ this kind of disaster all the time […]“, gibt Yu (2020) zu bedenken. Aus pandemischem Anlass wird die Relation zwischen Realität und Fiktion neu verhandelt: Signifikant der Fall von Peter Mays Thriller Lockdown, 2005 als „extremely unrealistic“ abgelehnt, im Frühjahr 2020 eilig nachgereicht (zit. Elassar 2020). „Für mich ist die Science-Fiction am Ende, alles, was man sich nach dieser Pandemie vorstellt, wird zu wenig sein“, befürchtet Rafael Gumucio (zit. Espinoza 2020). Und doch sind es entsprechende Fiktionen, die einen „frame of reference“ (Ma 2018: 29), nur scheinbar paradoxen „comfort“ stiften (Vincent 2020); in der Tat verbessert filmische „Pandemic practice“ individuelle Krisenresilienz (Scrivner/Johnson et al. 2021). Der Literatur ist diese Einsicht nicht neu: Seine „disaster preparedness“ verdankt Emily St. John Mandels Protagonist allerlei „action movies“ (2015: 21). Ein Film wie Wolfgang Petersens Outbreak (1995) wird als Medium populärer Bewusstseinsbildung valorisiert, ob drohender „apocalypse fatigue“ kontroverse Strategie (Spinney 2018: 282). Trotz SARS und Ebola habe man sämtliche „serious preparations“ vernachlässigt, so Žižek: „the only place we dealt with them was in apocalyptic movies like Contagion“ (2020: 64). Eben Steven Soderberghs u. a. von SARS und der Influenzapandemie 2009 inspirierter Film (2011) wird im Coronajahr 2020 zum Bestseller.
Bereits die Prä-Corona-Epi-/Pandemieliteratur reflektiert nicht nur filmische Fiktion: Mit „a near-religious fervor“ lässt Ling Ma ihren Antihelden „every iteration of Warcraft“ spielen. „Just in case the apocalypse happened?“, erkundigt sich eine Ko-Überlebende: „For when the apocalypse happened“, korrigiert der WoW-Fan (2018: 4f.). Von der Corona-Krise profitiert Plague Inc. (2012): Zunächst explodieren die Downloadzahlen in China; Ndemic Creations warnt indes davor, das Videospiel mit der Realität zu verwechseln: „We would always recommend that players get their information directly from local and global health authorities.“ Ende Februar 2020 wird Plague Inc. in China verboten, während es den US-Centers for Disease Control and Prevention als legitimes Vehikel popularisierter „serious public health topics“ gilt (Khan 2013). Angesichts der aktuellen Pandemie setzt die Produktionsfirma mit The Cure (2020) auf ein PR-trächtiges Konterprogramm. Nicht überraschend nutzt dieses Genre, das virtuell kathartische Kontrolle bietet, schon die frühe Corona-Fiktion: Zum Kampf mit SARS-CoV-2 lädt Fauci’s Revenge; Corona World schickt eine Krankenschwester als neue Superheldin los. Auf ironische Computerspielästhetik setzt die Punkrock-Band ZSK mit ihrem Clip „Ich habe Besseres zu tun“, Hommage an den Star-Virologen der Charité.
Pandemie als Palimpsest: Zur Intertextualität der Corona-Literatur
Zwischen Klassik, SF, Kino und Computerspiel entfaltet sich die moderne Epi-/Pandemieliteratur bereits vor Corona in einem dichten intertextuellen Spannungsfeld. Camus lässt seinen Erzähler eine lange Kulturgeschichte der Seuche rekapitulieren, darunter die „peste de Constantinople“ (2020: 51), die Prokopios von Caesarea dokumentiert; sein eigener Roman wird zur Quelle einer veritablen Contagion des imaginaires (Palud 2014). Mit gesteigerter Gewalt fegt der gefürchtete Wind von Oran (Camus 2020: 195f.) durch Fabien Clouettes Novelle Une épidémie (2013), fantomatisches Text-„labyrinthe“ (2017: 80); wie bei Camus gilt: „L’épidémie n’est pas finie […]“ (ibid.: 63) – hier knüpft die Corona-Literatur an. Erik Eising führt den aus Lutz Seilers Kruso (2014) entkommenen „Herr[n] Bendler“ mit „Herr[n] Doktor Rieux“ zusammen, der von einem „ähnlichen Fall in Oran“ zu berichten weiß, „schlimmer eigentlich“, da „die Pest und das Coronavirus“ dann doch „zwei völlig verschiedene Dinge“ sind (2021: 35–37). In illustrer Runde wird die Verortung der Pandemie diskutiert, bevor dem immer stärker hustenden Rieux Covid zum Verhängnis wird (71–73). Und dennoch erlebt Camus’ Held eine multiple Corona-Auferstehung – ebenso sein Schöpfer selbst.
„Camus könnte das, wenn er nicht schon Die Pest geschrieben hätte“, so Kuznecova auf die Frage, welchem kanonischen Autor ein Corona-Roman zuzutrauen wäre (Tolstov 2020). Diverse Pandemienarrative werden ‚prophetisch‘ recodiert: So Dean Koontz’ Thriller The Eyes of Darkness (1981) – nur dass das fatale Coronavirus namens „Wuhan 400“ in der Kalte-Kriegs-Erstfassung noch „Gorki 400“ hieß (Brunfaut 2020); einen Corona-„Tsunami“ schildert Deon Meyers Koors (2016) bzw. Fever (2017). „Prophetic Israeli sci-fi novel […] predicted current pandemic“ (Bloom 2020), nämlich Hamutal Shabtais 2020 (1997); rückwirkend wird Aleksej Sal’nikovs Petrovy v grippe i vokrug nego („Die Petrovs in der Grippe und rundherum“, 2017) zum „[e]rsten Roman über das Coronavirus“ erklärt (Smirnov 2020). Erst recht durch das Corona-Prisma rezipiert werden 2020 veröffentlichte themenverwandte Texte, Xabi Molias Des jours sauvages mit seinem Influenzaplot wie Sébastien Spitzers Roman La Fièvre, der die Gelbfieberepidemie in Memphis 1878 literarisiert.
„Nur die Pest“? Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt
Aufschlussreich ist die zeitversetzte Rezeption von Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt (Čuma, ili OOI v gorode), vor mehr als vier Jahrzehnten verfasst, im Frühjahr 2020 publiziert. Ulickaja selbst etabliert die Verbindung zur Pest; fungiert bei Camus die Epidemie als Metapher für den Nationalsozialismus, wird das historische Seuchensujet hier rekontextualisiert. Rasch bestätigt sich der „Verdacht auf Pest“ (2021: 34) bei einem Mikrobiologen, der in der stalinistischen Sowjetunion unter politischem Hochdruck (ebendieser provoziert den fatalen Laborunfall) an einem Vakzin forscht. Mit seiner behördlich angeordneten Dienstreise schleppt Rudolf Mayer die ‚Seuche in die Stadt‘; kurz nach seiner Ankunft in Moskau stirbt er an Lungenpest. „Wenn keine außerordentlichen Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr einer Epidemie“ (35f.): Dafür steht in der UdSSR des Jahres 1939 ein seinerseits außerordentlicher Organismus zur Verfügung – der Geheimdienst NKVD, der sofort seine „Schwarze[n] Raben“ (d. h. Häftlingstransporter) ausschickt (45). „Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente […]“, wie Ulickaja kommentiert (107). Die doppelte Brisanz des Plots ist klar: Für Valerij Frid, bei dem Ulickaja sich mit ihrem Szenario bewirbt, ist vor dem Hintergrund seiner eigenen Lagervergangenheit die positive Rolle des NKVD inakzeptabel; heute wirft der Text die heikle Frage nach den Vorteilen eines um demokratische Grundrechte unbesorgten Pandemiemanagements auf, immerhin „hat uns China ja vorgeführt, um wie viel besser ein autoritäres System auf eine solche Krise reagieren kann“ (Zeillinger 2021).
Ulickaja stellt sich diesen Ambivalenzen: Die „Operation Seuche“ (2021: 93) vollzieht sich im Schatten jenes „Sehr Mächtigen Mann[es] mit georgischem Akzent“, der eine ebenso groteske wie gefährliche Figur abgibt; so in einer Szene, da der zuständige Volkskommissar dem historisch ahnungslosen Diktator die drohende „Katastrophe“ unter Verweis auf den Schwarzen Tod zu erklären versucht (42f.). Dabei verharmlost Ulickaja das Sujet keinesfalls zur bloß amüsanten Politparodie. Ein gewisser Oberst Pawljuk, der aus anderem Anlass abgeholt zu werden glaubt, erschießt sich in seinem Arbeitszimmer, nachdem er ein Schreiben „An den Genossen Stalin“ auf dem Tisch deponiert hat (54); in den finalen Triumph, der bei dröhnender Marschmusik „[a]lle Helden unserer Geschichte“ vorm Krankenhaustor versammelt, mischen sich strategische Misstöne, als ein Genosse aus nonsanitären Gründen erneut mitgenommen wird… während die Frau eines quarantänisierten Arztes zu ihrer Erleichterung erfährt, dass es „Nur die Pest!“ war: „Und ich dachte…“ (101).
„Schlimmer als die Pest“, betitelt Ulickaja ihr Nachwort; angesichts der „Wechselwirkungen“ zwischen der „Grausamkeit der Natur“ und jener von „Machtapparaten“ kommt sie zur Conclusio, dass die Pest „nicht das schlimmste Unglück für die Menschheit“ sei – und schließt mit der Hoffnung auf eine Post-Corona-Reform des „politische[n] Weltsystem[s]“ (107–111).