Czytaj książkę: «Hüter der Nacht»

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Martina Simonis

Hüter der Nacht

Das Lied Aymurins

Band 2


Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Beatrice Rubin

Cover: Céline Neubig

Satz: Fabienne Steiger

eISBN 978-3-7245-2444-1

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2418-2

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

www.reinhardt.ch


Inhalt

Zweiter Gesang

Die Hüter der Nacht

Auf dunklen Wegen

Am Großen Tor

Die Straße des Todes

In den Feuern Khuums

Ende und Anfang

Im Mutterbau

Die verbotene Tür

Autorin

Zweiter Gesang

Hüter der Nacht

«Wir mögen Handelnde sein, aber wir sind nicht Herren unserer Taten. Manche Sünde trägt goldene Früchte, manche vermeintliche Guttat führt zu Elend und Leid.»

Son

Die Hüter der Nacht

Das leise Blubbern der Glimmflechtsuppe und das gelegentliche Kratzen des Kochlöffels waren die einzigen Geräusche, die den Höhlenraum füllten. Der schwere Topf, der an einem Dreibein über der Feuerstelle hing, schimmerte matt in dem gedämpften Lichtkegel, der durch den kleinen Spalt, der als Rauchabzug diente, ins Innere der Höhle fiel. Das übrige Felsgewölbe lag im grüntrüben Halbdunkel der Glimmflechtmalereien.

Joril hockte vor dem Kessel und sah zu, wie sich der warme Dampf seines Atems mit dem dünnen Qualmfaden des Feuers vereinigte und durch den Rauchfang in das Weiß des Himmels entschwand. Mit dem Dampf ließ er seine Gedanken aufsteigen, weit über die Wolken. Leicht wie Fledermausflaum schwebte er im endlosen Blau des Himmels und ließ den Blick über die wabernde Wolkendecke unter sich schweifen. Irgendwo dort unten lag es verborgen: Kjell, das verheißene Land.

Wäre ich doch wie Ygdrasil, dachte er. Ygdrasil würde nicht tatenlos dem Verrinnen der Zeit zusehen. Er würde sein Bündel schnüren und aufbrechen. Würde sich durch das unbewohnte Innere des Berges wagen und nie gesehene Höhlen erforschen. Und am Ende den verborgenen Ausgang finden, an dessen Fuße Kjell lag.

Aber Joril war nicht Ygdrasil, er war ein Hüter der Nacht und hatte darauf zu achten, dass das, was draußen war, draußen blieb, nicht umgekehrt. Und wer hätte einen buckligen Ygdrasil mit verkrüppelten Händen schon ernst genommen.

Verdrossen nahm Joril den Kochlöffel und rührte die Glimmflechtsuppe um. Als jüngster Pukh seiner Korja war er für den Küchendienst verantwortlich. Dazu gehörten die Überwachung der Vorräte, das Hegen der Glimmflechtzucht, das Säubern des Geschirrs und die Zubereitung des Mahls, das die Wachzeit beschloss. Mittlerweile konnte er im Handumdrehen ein Feuer entfachen und wusste, wie er die Krokstücke schichten musste, damit sie sauber und fast ohne Qualm abbrannten.

Um etwas Spannung in seinen Alltag zu bringen, hatte er ein Spiel erfunden. Er holte immer nur so viel Krok von der Darre, wie er zum Kochen brauchte. War die Suppe mit dem letzten verbrannten Krok fertig, hatte er gewonnen. War noch Krok übrig, ging die Sache unentschieden aus. Musste er ein weiteres Mal Krok holen gehen, hatte das Feuer gewonnen.

Heute sah es nicht gut für ihn aus. Ärgerlich betrachtete er die züngelnden Flammen, die das Krok, das er nachgelegt hatte, schon zur Hälfte aufgezehrt hatten. Das Feuer schien es seinem Magen gleichzutun, es war heute besonders hungrig. Dabei schimmerte die Glimmflechtsuppe noch immer grünlich weiß und weigerte sich, gar zu werden. Er würde um einen zweiten Gang zur Krokdarre nicht herumkommen. Ein einziges Mal hatte er – um zu gewinnen – die Suppe nicht lange genug gekocht, sie glomm noch leicht, als er sie seiner Korja servierte. Alle hatten furchtbare Bauchschmerzen bekommen, und das Krok war so dünnflüssig, dass es nicht zu gebrauchen war. Noch einmal würde er diesen Fehler nicht machen.

«Verloren!», brummte er unwillig und legte das letzte Stück Krok nach. Gierig verbiss sich das Feuer in dem länglichen Stück und ließ seine Flammen höher lodern.

Der alte Son, der in seiner Nische saß und Haargarn drehte, hob den Kopf. Er schnalzte kurz mit der Zunge und räusperte sich, wie immer, wenn er etwas sagen wollte.

«Probleme?», fragte er.

Joril blickte zu dem Weißrücken hinüber. Sons Schlafnische war als einzige unbemalt. In der ansonsten reich verzierten Höhle wirkte sie wie ein großes schwarzes Auge. Unergründlich und irritierend wie das schwarze Muttermal, das mitten auf Sons Stirn prangte, sodass man nie recht wusste, in welches Auge man blicken sollte. Joril schüttelte eilig den Kopf. Um nichts in der Welt hätte er den anderen von seinem geheimen Spiel erzählt, am allerwenigsten Son.

«Ich muss nur noch mal hoch, Krok holen, das ist alles.»

Sons seltsam blicklose Augen bohrten sich durch Joril hindurch, als wäre er Glas. Wie immer, wenn Son ihn ansah, fühlte sich Joril seltsam ertappt, auch wenn er gar nichts angestellt hatte. Außerdem hatte Son ein magisches Gespür für Unausgesprochenes. Joril fand es gespenstig, wie Son zielsicher zum Kern verheimlichter Probleme fand.

«Was gibt es heute?»

«Glimmflechtsuppe.»

«Wieder ohne Beilagen?»

«Wieder ohne Beilagen», gestand Joril. Son sagte nichts dazu, aber sein bohrender Blick war nicht zu missdeuten.

«Insektenmehl ist alle», erklärte Joril. «Pukhkraut haben wir noch für jeden eine Ration, die gibt es morgen früh. Dann ist auch das alle. Aber der Nachschubtrupp kommt sicher bald.»

Joril bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, doch Son ließ sich nicht täuschen. Er nickte nachdenklich.

«Das heißt ab übermorgen nur noch Glimmflechtsuppe zum Früh- und Spätmahl? Da werden Fox und Burin nicht zufrieden sein.»

«Nein, werden sie nicht», seufzte Joril. Wenn der Nachschubtrupp nicht bald kam, war schlechte Laune unabwendbar.

«Und wie sieht es mit den Glimmflechten aus? Haben wir davon noch genug?»

«Sie wachsen und gedeihen», sagte Joril nicht ohne Stolz. «Aber wenn es nur noch Glimmflechtsuppe gibt, könnte es knapp werden.»

Son nickte.

«Dann wollen wir hoffen, dass der Trupp bald kommt.»

Nachdenklich wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Zufrieden vor sich hin plappernd, kam Burin aus dem Gang, der zum Mutterbau führte, getapst. Er richtete seine zottige Gestalt zu voller Größe auf und streckte sich. Dann trat er zu Son und präsentierte stolz den leeren Pisseimer.

«Alles getränkt, wie du gesagt hast, Son. Hab nichts vergessen.»

Son nickte.

«Gut gemacht, Burin. Morgen noch die Wohnhöhle, dann sind wir durch für diesen Zyklus. Stell Eimer und Pinsel wieder in die Sammelhöhle, dann kannst du die Ruhzeit einläuten.»

Das Grinsen auf Burins Gesicht wurde noch breiter, seine kleinen knolligen Augen blinzelten vergnügt. Er gesellte sich zu Joril und ließ sich neben ihm nieder.

«Hast du gehört, Joril?», verkündete er stolz. «Son sagt, das hab ich gut gemacht!»

Joril nickte und lächelte. Er mochte Burin. Burin war zwar dumm wie Fledermauskrok, aber er war immer gut gelaunt und hilfsbereit. Burins Lächeln verflog allerdings, als er die leise vor sich hin simmernde Suppe sah.

«Glimmflechtsuppe», brummte er enttäuscht. «Ist das alles?»

«Für heute ja. Insektenmehl ist alle. Das gibt’s erst wieder, wenn der Nachschubtrupp da war.»

«Das ist schlimm!»

«Was ist schlimm?», fragte Fox, der gerade mit zwei Eimern Abraum aus dem Gang kam.

«Dass es nur Glimmflechtsuppe zu essen gibt.»

«Das nennst du schlimm?», schnaubte Fox. Krachend stellte er die Eimer ab und riss sich das Tuch aus feinem Haargewebe, das er sich vor Mund und Nase gebunden hatte, vom Gesicht. Sein rotes Fell war grau von Steinstaub, nur dort, wo er sich mit dem Tuch geschützt hatte, leuchtete es wie die Flammen unter Jorils Kessel. «Schlimm ist was ganz anderes. Der Fels in der neuen Lagerhöhle ist so brüchig, dass es staubt, als würde man Chalk hauen.»

Er trat neben Joril und warf einen skeptischen Blick in den Kessel.

«Gar sieht anders aus. Spät dran wie immer, was Joril? Hast mal wieder deine Krallen gewärmt anstatt zu kochen?» Laut schnaufend packte er die Eimer und hievte sie hoch. «So wie das glimmt, hab ich noch genug Zeit, um den Abraum wegzubringen und ne Runde kroken zu gehen. Drin sieht man sowieso kaum mehr die Hand vor den Augen, das muss sich erst setzen, bevor ich weitermachen kann.»

Joril rührte schnell die Suppe um und schichtete mit dem Schürhaken die glühenden Krokstücke auf, um zu zeigen, dass er nicht untätig war.

«Wenn du kroken gehst, kannst du was Krok aus der Darre mitbringen? Ich brauche noch ein paar Stücke.»

«Wieso sollte ich dir Krok mitbringen?», fauchte Fox. «Hol sie dir selbst, laufen kannst du ja.»

Joril zuckte zusammen. Dass Fox ständig schlecht gelaunt war und dass man es ihm nie recht machen konnte, damit hatte er sich abgefunden. Aber warum musste Fox ihn immer wieder spüren lassen, dass er ein Krüppel war?

«Ich habe nur Sorge, dass das Feuer ausgeht, während ich weg bin. Wenn ich es wieder neu anfachen muss, dauert es länger.»

«Und das wäre schlimm!», kam Burin ihm zu Hilfe. «Ich hab Hunger!»

«Meinst du, ich hab keinen Hunger?», zischte Fox ihn wütend an. «Ich habe die ganze Wachzeit hindurch Stein gehauen, mir hängt der Magen in den Kniekehlen! Wenn du was zu Essen willst, geh doch du das Krok holen.»

Burin rollte mit den Augen.

«Ich geh da nicht hoch!»

Burin hatte panische Höhenangst, ein Gang auf die Darre war Höchststrafe für ihn.

«Dann schick Hamil und Kamil. Wo sind die beiden eigentlich?»

«Sie haben gesagt, sie wollten vor der Ruhzeit noch einmal auf Patrouille gehen.»

«Und das glaubst du? Die sind doch nur raus, um sich noch mal einen zu wichsen!»

Ein kurzes Schnalzen mit der Zunge gefolgt von einem leisen Räuspern ließ die Streithähne verstummen. Der alte Son hatte sich von seiner Koje erhoben. Er legte die Haarfäden beiseite, griff sich seine Krücken und schleppte sich auf seinen tauben Beinen zu ihnen herüber, die Füße wie Todholz über den Boden schleifend. Als er bei Fox angekommen war, richtete er sich auf und sah ihn mit seinen schwarzen, unergründlichen Augen an.

«Fox, du arbeitest mehr als wir alle, das wissen wir. Wir wissen auch, dass es nicht leicht ist, der Einzige mit Verstand und gesunden Gliedmaßen zu sein. Es bedeutet große Verantwortung. Nimm sie an!»

Fox schaute betreten auf den leicht schwankenden Son, dann zuckte er mit den Schultern.

«Ja, hab schon verstanden», brummte er. «Brauchst nicht noch mehr zu sülzen. Ich bringe was Krok …»

Weiter kam er nicht. In diesem Moment stürzten Hamil und Kamil in die Höhle und wedelten aufgeregt mit ihren kurzen Stummelarmen.

«Wir haben was gefunden!»

«Einen Wanderer …»

«… auf dem alten Pass!»

«Jenseits vom Kesselfels …»

«… wo wir lange nicht mehr waren.»

«Wir sind sicher …»

«… es ist ein Pukhjäger!»

«Es gibt sie wirklich!»

«Er ist riesig!»

«Und seine Haut …»

«… ist ganz kahl …»

Sprachlos und mit offenem Mund starrten die Pukh die Zwillinge an, deren Fell sich vor Aufregung sträubte. Seit Pukhgedenken war niemand mehr auf dem alten Pass gesichtet worden, die Hüter der Nacht bewachten einen vergessenen Weg. Und gerade hier sollte plötzlich ein Mensch auftauchen? Aufgeregt scharten sich Fox, Burin und Joril um die Zwillinge. Jeder wollte mehr wissen und überschüttete die beiden mit Fragen, die unbeantwortet blieben, weil die beiden nicht wussten, wem sie zuerst antworten sollten. Es war der alte Son, der dem Tumult ein Ende setzte. Er klopfte mit seiner Krücke auf den Boden und räusperte sich. Sofort verstummten die Pukh. Son war der Älteste in der Korja. Keiner wusste, wie alt Son war, er war schon immer hier gewesen, schon als Burin, der Zweitälteste, in die Korja kam. Seinem Wort wie seinem Schweigen folgte man. Als Stille eingekehrt war, wandte er sich an Hamil und Kamil.

«Ihr habt einen Wanderer gefunden?»

«Ja!»

«Und ihr seid sicher, dass es ein Mensch ist?»

«Ja doch! Er sieht genau so aus, wie es in den alten Erzählungen heißt: riesig groß mit einer Haut so glatt wie Kiesel.»

«Habt ihr gefragt, was er auf dem Pass will?»

Hamil und Kamil schüttelten die Köpfe.

«Nein, das ging nicht.»

«Er liegt einfach da …»

«… und rührt sich nicht.»

Son runzelte die Stirn.

«Lebt er oder ist er tot?»

Hamil und Kamil sahen ihn betreten an.

«Das wissen wir nicht», gestanden sie. «Wir haben ihn nicht angefasst.»

«Dann müssen wir ihn in die Höhle bringen», entschied Son. «Vielleicht lebt er noch. Er wird erfrieren, wenn wir ihn liegen lassen.»

«Na und?», grollte Fox. «Nur ein toter Pukhjäger ist ein guter Pukhjäger!»

Son sah ihn tadelnd an.

«Die Menschen, die den Alten Pass begehen, jagen keine Pukh mehr. Nicht seit der Allianz!» Dann warf er den Blick in die Runde.

«Fox und Burin, ihr begleitet die beiden nach draußen und bringt den Wanderer her. Joril, du bleibst hier, kümmerst dich um die Suppe und machst die Gästekoje sauber. Wir brauchen einen Platz, wo wir ihn hinlegen können.»

Traurig sah Joril den Vieren nach, die aufgeregt nach draußen eilten.

«Es tut mir leid», sagte Son leise. «Einen musste es treffen. Das nächste Mal bist du dran!»

Welches nächste Mal?, dachte Joril verstimmt, als er Besen und Kehrschaufel holte, um den Staub und Dreck, der sich in der Gästekoje angesammelt hatte, wegzufegen. Ich wette, es wird kein nächstes Mal geben. Ich werde hier in der Höhle vergammeln, bis ich alt und weißscheckig bin wie Son.


Der Länge nach ausgestreckt lag der Wanderer in der Gästekoje. Neugierig standen die Pukh vor der Nische und bestaunten Hamils und Kamils Fund. Selbst liegend wirkte er riesig. Er füllte die Koje, die für zwei bis drei Gäste ausgelegt war, komplett aus, stehend hätte er sicher mit der Hand an die Höhlendecke fassen können. Der Körper des Fremden war mit Tüchern verhüllt, nur Kopf, Hals und Hände waren unbedeckt. Die Haut dort war nackt und schimmerte dunkelgrün im Licht der Glimmflechtmalereien. Die einzig sichtbare Körperbehaarung war das lange Haar, das den Kopf umfloss.

Wie alle Pukh kannte Joril die alten Geschichten über die Menschen, über ihre Riesenhaftigkeit und ihre verzehrende Gier nach Fleisch. Und wie alle Pukh hatte er sich ausgemalt, wie die Pukhjäger wohl aussahen. Grob, derb und hässlich hatte er sie sich vorgestellt, mit verzerrten Gesichtszügen, wie es zu ihrer Gesinnung passte. Doch der Wanderer, der ausgestreckt in der Koje lag, war nichts davon. Alles an ihm war feingliedrig und ebenmäßig, auf seinem Gesicht lag Ruhe und Frieden. Joril hatte noch nie ein so schönes Wesen gesehen.

«Ist er tot?», fragte er leise.

Son ließ sich Zeit mit der Antwort. Nachdenklich ließ er seine Hand über den schlanken Körper des Fremden gleiten

und legte testend zwei Finger auf die Halskuhle.

«Ja, er ist tot», sagte er schließlich.

«Wie schade», flüsterte Joril.

«Hast du Fledermauskrok im Hirn? Sei froh, dass er tot ist, so richtet er kein Unheil an», fauchte Fox. «Außerdem, was schert uns das?»

«Wir hätten etwas über die Außenwelt erfahren können», verteidigte sich Joril.

«Ich kann dir alles über die Außenwelt erzählen, was du wissen musst. Wenn es schneit, siehst du keinen Eisstrom. Ist der Himmel bewölkt, liegt er kalt und grau im Talgrund, scheint die Sonne, schimmert er so grell, dass du nicht hinsehen kannst. Mal braust der Wind, mal geht eine Mure ab. Mehr passiert da draußen nicht.»

«Aber diesmal ist etwas passiert!», trumpfte Hamil auf.

«Genau! Wo Hamil recht hat, hat er recht», sprang Kamil seinen Zwillingsbruder bei. Sie würden sich ihren Fund nicht von Fox kleinreden lassen. «Was er wohl auf dem Alten Pass wollte?»

Fox zuckte nur mit den Schultern.

«Kann uns egal sein. Die Frage ist: Was machen wir mit ihm?»

«Essen», schlug Burin vor und rieb sich den Bauch. «Fleisch ist gut! Ich hab mal Fledermaus gegessen. Vielleicht schmeckt er ähnlich.»

Fox spie aus.

«So was esse ich nicht!»

«Nur ein kleines bisschen? In die Suppe?», bettelte Burin.

«Burin!» Tadelnd richtete Son seine unergründlichen Augen auf Burin. «Kennst du nicht die Geschichte?»

Son schloss die Augen und begann mit leiser, eindringlicher Stimme zu erzählen.

«Am Anfang war alles eins, und alles war Aoum, und es gab nichts außerhalb Aoums, denn Aoum war grenzenlos. Lange Zeit lebte Aoum und war zufrieden, der Freude in seinem Inneren nachzuspüren. Doch die Freude wurde übermächtig und wollte geteilt werden. So erträumte Aoum in der ersten Nacht Sol, die Herrin des Lichts, damit die Freude sichtbar würde. In der zweiten Nacht erträumte Aoum Sal, das ewige Gewoge. In der dritten Nacht erträumte Aoum Seller, den Herren aller Stofflichkeit. Dann sagte Aoum zu seinen Kindern: ‹Geht und träumt eine Welt, damit ich gesehen werde.› Und Sol, Sal und Seller gingen hin und erträumten Ur. Seller erträumte das Erdreich, Sals Traum schuf Bewegung und Wind, und Sol erträumte die Sonne. Doch das nackte Ur zeigte noch nicht das Wesen Aoums. Und so schufen sie mächtige Berge und rauschende Flüsse, um das Land zu gestalten, und schmückten die Erde mit allerlei Pflanzen. Zum Schluss setzten sie Tiere hinein, damit Ur bevölkert werde.

Zufrieden wanderte Aoum durch das Land Ur und bestaunte dessen Schönheit. Als Aoum müde wurde, setzte es sich an den Rand einer Quelle und dachte nach. Aoum fühlte, dass etwas fehlte, denn es gab noch kein Wesen, das die Schönheit Urs erkannte und besang. Da nahm Aoum einen Zweig der Esche, unter der es saß, und hauchte ihm Leben ein. Du bist Al, der mit dem alles beginnt, sagte es zu Al und gab ihm Tatkraft und Stärke. Aoum wanderte weiter. Als es eine prächtige Ulme erreichte, nahm es wieder einen Zweig und hauchte ihm Leben ein. Du bist Mol, die mit der alles gedeiht, sagte Aoum zu Mol und gab ihr Ruhe und Erkenntnis. Und Al und Mol fanden Gefallen aneinander und zeugten viele Kinder, die wieder Kinder zeugten.

Zwei der Nachkommen aus dem Schoße Als und Mols hießen Viril und Vera. Sie vermählten sich und bekamen zwei Söhne, Ygdrasil und Vandrasil. Ygdrasil war wunderschön behaart, sein Fell schimmerte wie die Früchte der Kastanie. Gleich seinen Eltern liebte er den Wald und alles, was es in ihm zu sammeln und zu ergraben gab. Von ihm stammen die Pukh ab. Vandrasil dagegen war fast kahl auf die Welt gekommen. Rastlos und frierend zog er durch die Wälder auf der Suche nach Wärme. So erjagte er das erste Okapu und hüllte sich in dessen Fell. Doch die Jagd hatte ihn hungrig gemacht, sodass er bald wieder jagen musste. Jede Jagd aber führte ihn weiter weg von zu Hause, bis er eines Tages die Grenzen Urs überschritten hatte und in ein neues, fremdes Land kam. Das Land gefiel ihm, er ließ sich nieder, nahm sich eine Frau und zeugte viele Kinder. Er ist der Stammvater der Menschen. Ygdrasil dachte oft an seinen Bruder und fragte sich, wo er wohl sei und ob es ihm gut gehe. Vandrasil dagegen, dessen Geist auf die Zukunft und das Neue gerichtet war, vergaß bald Viril und Vera und den Bruder Ygdrasil. Und so blieben seine Nachkommen unwissend.»

«Aber wir sind Nachkommen Ygdrasils und wissen, dass wir Geschwister sind. Darum essen wir keine Menschen», beschloss Son seine Erzählung.

Andächtige Stille füllte die dämmrige Höhle. Sons Geschichten hatten diese Wirkung. Sie entführten jeden, der sie hörte, in eine Welt, die größer war, eine Welt, in der alles seinen Platz und seinen Sinn hatte.

«Echt krass», sagte Hamil schließlich, «woher kennst du nur all diese Geschichten?»

«Man könnte meinen, du wärst unter den Zofen der Königin aufgewachsen», lachte Kamil.

Hamil nickte.

«Man sagt, sie kennen alle Geschichten, die je erzählt wurden.»

Aber so leicht ließ sich der hungrige Burin nicht abspeisen.

«Vielleicht hat der Mensch, den wir nicht essen dürfen, etwas Essbares dabei?»

«Deine erste vernünftige Idee, seit ich dich ertragen muss», brummte Fox. Er griff sich den Rucksack, der neben der Gästekoje mit dem toten Wanderer lag. «Mal sehen, ob ich was finde.»

Fox öffnete den Rucksack, wühlte zwischen weiteren Tüchern und zog schließlich einen gelben Klumpen heraus, an dem offensichtlich schon ein Teil abgeschnitten worden war. Misstrauisch roch er daran und würgte.

«Das riecht so verfault, das kann kein Pukh essen.» Er ließ den Klumpen wieder in den Rucksack fallen. Er suchte weiter und zog einen hellbraunen Laib aus dem Rucksack. Dieser sah anders aus. Er hatte eine dunkle, harte Kruste, doch das Innere war weich und duftete. Vorsichtig brach Fox ein Stück heraus und aß es.

«Das ist in Ordnung», meinte er und reichte es an Burin weiter. «Hier, für dich, Fresssack. Aber gib den anderen auch was ab.»

«Er hat etwas in der Hand», sagte Joril plötzlich und zeigte auf die über der Brust gefalteten Hände. Vorsichtig, als hätte er Angst, den Toten aufzuwecken, griff er unter die Arme des Fremden und zog einen hellen Haarzopf hervor. Seltsam berührt sah er auf den Zopf in seiner Hand. Fast war ihm, als würde der Zopf Wärme abgeben und für einen kurzen Moment sah er das Gesicht einer jungen, strahlend schönen Menschenfrau vor sich. Erschrocken reichte er den Zopf an Fox weiter.

Misstrauisch schnupperte dieser an dem Haarstrang. «Eindeutig kein Pukhhaar», meinte er naserümpfend. «Zu borstig. Aber vielleicht kannst du was damit anfangen?» Er gab den Zopf Son. Testend fuhren Sons Hände über das Haar,

schließlich nickte er.

«Es ist steifer als Pukhhaar, aber als Matte ließe es sich sicher verweben.»

«Sollten wir ihn nicht zurücklegen?», fragte Joril schüchtern. «Er muss dem Fremden viel bedeutet haben.»

«Na und?», meinte Fox. «Jetzt bedeutet er ihm nichts mehr, weil er tot ist. Spar dir dein Mitgefühl für die Lebenden auf und mach hier keinen auf Menschenfreund. Die haben das nicht verdient!» Ärgerlich stand er auf, nahm Son den Zopf aus der Hand und trug ihn zu der Ablage, wo der Korja-Khan seinen Haarvorrat verwahrte.

«So», sagte er, als er sich wieder zu den anderen gesellte. «Bleibt die Frage, was wir mit ihm tun.»

Verdrossen betrachtete Joril seinen Gefährten. Fox war der ältere und er war ihm Achtung schuldig. Aber er ärgerte sich, dass Fox seinen Vorschlag nicht einmal in Betracht gezogen hatte.

«Der Fremde hätte es verdient, dass wir das, was ihm lieb und teuer war, achten», wehrte er sich. «Vielleicht gehörte der Zopf seiner Mutter Königin, die nun um ihren schönen Geliebten trauert.»

«Schön? Was soll an nackter Haut schön sein?», brummte Fox.

«Muss lausig sein, so ohne Fell», meinte Hamil. Und Kamil ergänzte: «Kalt und ungemütlich.»

«Wahrscheinlich», meinte Fox. «Deswegen müssen sie sich mit diesem Gelumpe behängen.» Angewidert befühlte er die Jacke des Toten. «Ganz rau. Keiner trägt so was ohne Not.»

«Aber sie leben», sagte Son. «Und offensichtlich haben sie einen unblutigen Weg gefunden, um sich gegen die Kälte zu schützen.»

Eine kurze Stille trat ein. Fox war der Erste, der wieder das Wort ergriff.

«Und nun? Was sollen wir mit ihm machen? Hier liegen bleiben kann er nicht.»

«Wir könnten ihn in die Khuumran-Kammer hängen», schlug Burin vor.

«Mach doch die Augen auf, Idiot», fauchte Fox. «Da passt er gar nicht rein, selbst in Schlafhaltung ist er dafür zu lang. Außerdem haben wir keine Matte, die groß genug wäre.»

«Wir könnten ihn zurück auf den Pass legen …» schlug Hamil vor.

«Da hält er sich eine Weile! Und wir wüssten, wo er ist», ergänzte Kamil.

«Genau», bestärkte ihn Hamil. «Vielleicht wollen die vom Nachschubtrupp ihn auch mal sehen!»

«Damit der nächste Wanderer ihn findet und sich wundert? Habt ihr Fledermauskrok im Hirn? Da können wir auch gleich ein Schild aufstellen ‹Zum Oberen Tor›!»

Son schüttelte den Kopf.

«Wir werden ihn dem Eisstrom übergeben», entschied er. «An der Fledermausnase ist das Eis nicht einsehbar, da besteht keine Gefahr, dass der Körper entdeckt wird. Dort mag er seine Ruhe finden.»

«Wir sollten ihn ehren, bevor wir ihn wegbringen», sagte Joril, mehr zu sich als zu den anderen. «Er muss ein mutiger Mann gewesen sein, dass er sich alleine auf den Alten Pass gewagt hat.»

Fox spie aus.

«Einen Menschen ehren? Hat dich die Spinne gebissen?»

Son legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

«Joril hat recht. Die Gesetze Khuums gelten für jedermann. Dem Lebenden hätten wir Gastfreundschaft gewährt. Wie könnten wir dem Toten die Ehrung verweigern.» Er wandte sich an Joril. «Joril, hältst du die Klangrede?»

Joril nickte. Er richtete seine krumme Gestalt auf und konzentrierte sich. Zuerst suchte er den Ton in seinem Kopf, dann legte er die Lippen locker aufeinander und begann, den schwebenden Grundton zu summen, der der seine war. Nach und nach fielen die anderen mit ihren eigenen Tönen ein, bis ein vielstimmiger Akkord den Raum füllte. Als die Luft in der Höhle ein wogender See aus Klang und Vibration war, erhob Joril seine Stimme. Gleich der zarten Rauchspirale eines verglimmenden Feuers legte sich die Melodie über die Stimmen der anderen. In der alten, wohlklingenden Sprache der Lieder begann er, dem toten Wanderer die letzte Ehrung zu singen.

«Schlafe, Fremder, schlafe

Schlafe den langen Schlaf.

Träume, Fremder, träume

Träume den langen Traum.

Woher du kamst?

Wir wissen es nicht.

Wohin du gehst?

Wir wissen es nicht.

Denn schlafwandelnd gehn …»

Weiter kam er nicht. Denn plötzlich geschah das Unerwartete. Der tote Wanderer öffnete die Augen.

Ein kurzer Aufschrei aus sechs Kehlen setzte der Klangrede ein Ende. Die sich in langsamen Kreisen wiegende Melodie riss ab wie der Flug eines vom Blitz getroffenen Sturmvogels. Erstarrt und mit offenen Mündern standen die Pukh vor der Schlafkoje und versuchten zu begreifen, was nicht zu begreifen war.

Der Fremde lag mit entrücktem Ausdruck auf seinem Lager aus Stein und blinzelte. Einmal. Zweimal. Dann begannen die Augen über die Höhlendecke zu wandern, bis sie erstaunt auf den vor der Koje versammelten Pukh hängen blieben.

«Stimme Aoums», lächelte er, als sein Blick auf Joril fiel.

Joril wusste nicht, was er antworten sollte. Die sanfte, leicht schleppende Stimme des Fremden verunsicherte und faszinierte ihn zugleich. So schüttelte er nur mit dem Kopf.

Zum Glück war der begriffsstutzige Burin nicht so schüchtern. Er kratzte sich am Kopf, drehte sich zu Son um und fragte verwundert:

«Ist er jetzt doch nicht tot?»

Die Frage schien den Fremden zu irritieren. Er blinzelte erneut und drehte den Kopf.

«Wo … bin ich?», fragte er schwerfällig, als wüsste er selbst nicht, ob er träumte oder wachte.

Kamil streckte den Fuß vor und zupfte vorsichtig mit den Zehen an der Jacke des Fremden.

«Nicht tot!», konstatierte er.

Da der Fremde sich nicht wehrte, wurde Burin mutiger. Er beugte sich vor und stupste ihn mit der Hand kurz an. Die Folge war weitreichender, als er beabsichtigt hatte. Langsam wie eine aus dem Kälteschlaf erwachende Fledermaus richtete sich der unheimliche Gast auf. Mit einem Aufschrei sprang Burin zurück und zwängte sich zwischen seine Gefährten.

Verwundert betrachtete der Fremde seine eigenen Arme und Beine, dann sah er auf.

«Wo … bin ich?», wiederholte er seine Frage. «Und … wer seid ihr?»

Es war der alte Son, der den Bann brach. Er packte seine Krücken, trat einen Schritt vor und deutete eine Verbeugung an.

«Sei gegrüßt, Fremder. Mein Name ist Son. Du bist bei der Korja der Hüter der Nacht vom Oberen Tor», erklärte er. «Wir wachen über den Alten Pass. Dort haben wir dich gefunden und in unsere Höhle gebracht.»

«Höhle?», wiederholte der Fremde und sah sich um. Das Wort schien etwas in ihm zum Klingen zu bringen, denn er runzelte die Stirn, als versuchte er sich zu erinnern.

«Höhle … Khuum …. Ich bin in … Khuum?»

Son nickte.

Wieder wanderte der Blick des Fremden über die Gefährten, diesmal forschend.

«Und ihr seid … Pukh?»

Wieder nickte Son.

«Wir sind Pukh», bestätigte er.

Langsam streckte der Fremde die Beine aus, hob ungelenk die Hand und fuhr tastend über den Fels, auf dem er saß.

«Er ist echt!», stellte er verwundert fest. «Ihr seid echt!»

«Ja, wir sind echt! Der Einzige, der nicht echt ist, bist du!»

Fox, der bis jetzt geschwiegen hatte, schob Kamil beiseite und baute sich vor dem Fremden auf. Seine misstrauischen Augen waren zu Schlitzen verengt, die Nackenhaare sträubten sich feindselig.

«Wir mögen kleiner sein als ihr, aber wir sind nicht dumm. Als wir dich auf dem Alten Pass fanden, lagst du steif wie ein Stück Krok und warst mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Eindeutig tot. Wäre Son nicht gewesen, wir hätten dich gar nicht hier rein gebracht. Und plötzlich machst du die Augen auf und lebst. Also, was für ein Zaubertrick ist das, mit dem du dir Zugang zu unserer Höhle erschlichen hast?»

Der Fremde starrte Fox an. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Schließlich schüttelte er den Kopf.

«Ich kann mich an keinen Alten Pass oder einen Zaubertrick erinnern», antwortete er. «Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass ich schlief. Ich träumte. Da war warmer Mutterboden um mich. Dann hörte ich Aoum singen und wachte auf. Mehr weiß ich nicht …»

«Du hast Joril gehört», erklärte Son. «Da wir dachten, du wärest tot, ehrten wir dich mit einer Klangrede. Joril ist unser Klangredner.»

Etwas Seltsames geschah, als Son Jorils Namen erwähnte. Ein kurzes Schaudern durchlief den Fremden, er versteifte.

«Joril Ygdrasil, sang und bereiste viel», sagte er geistesabwesend. Seine Stimme klang dumpf und entrückt, so als gehörte sie nicht zu ihm.