Die vorderen Hände

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Die vorderen Hände
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MARTIN ZELS





Die vorderen Hände



ROMAN










Die Arbeit an diesem Buch wurde durch das Bundeskanzleramt gefördert.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



1. Auflage 2021



© 2021 by Braumüller GmbH



Servitengasse 5, A-1090 Wien





www.braumueller.at





Lektorat: Johann Auer



Coverbild: shutterstock / © R-Tvist



ISBN 978-3-99200-295-5

eISBN 978-3-99200-296-2




Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen …



Ich schulde ihnen noch mein Leben.



F. Frey




Für Gretl. Das ist meine Mama.



Gesegnet seien ihre Hände!




Inhalt





Davor







Karla und der Klang der Nacht







Darius, seine Maschine und die Bobo Jager







Anton, roxane & freunde







Professor Kramers bester Student







Eine Idee Blau







Die Bobo Jager und der alte Kaiser







Karla, Anton und ein später Gast







Versuch zu dritt







Drei Träume







Rendezvous im Kaffeehaus







Nächtliches Ungemach







Nachts, die Träume, das Unsagbare







Programmänderung







Karla, Anton, Wien allein. Darius auf dem Weg.







Nasse Nacht, erster Bezirk







Anton träumt







Telefone. Ohne Ferdinand.







Die arme Sau







Zwei Vergeblichkeiten, ein Konzert







Parallelverschiebungen im roxane & freunde







Darius und Anton unter dem goldenen Spiegel







Sie hören: Karla Manhardt, Wien







Anton träumt nicht mehr. Anton brüllt. Alles andere läuft.







Cyrano auf sommerblauem Donauflimmern







Sturmtief Karla







Karla, Wien und das Wasser von Roxane







Pultleuchten







Donauflimmern







Der erste Tag und Karlas letzter Walzer







Danach







DANKE







Davor



Es war ja noch immer Sommer.



Noch immer Sommer in einer Zeit, in der kein Mensch mehr wusste, ob alles morgen noch so sein würde wie heute. Selbst in Wien, wo fast alles heute schon wieder so war wie gestern. Und das seit einer halben Ewigkeit.



Die Hitze war gerade noch hinnehmbar. Wenngleich man kein Meteorologe sein musste, um feststellen zu können, dass die Stadt in einem der kommenden Sommer endgültig unerträglich werden würde. Was sollten nur die Straßenmusiker dazu sagen? Oder die Würstlstand-Steher? Und was erst die Köche?



Es war ein Sommer, in dem es kaum zwei gleiche Meinungen gab, obwohl in der Öffentlichkeit nur noch eine galt. Noch war Widerspruch nicht verboten. Aber es kam schon vor, dass Journalisten plötzlich verschwanden oder Schreihälse tragisch verunglückten. Die Dichter ließ man noch in Ruhe.



In einer Stadt, in der die wenigen Reichen alle unglücklich waren, weil sie niemand mochte. Und die unendlich vielen anderen waren unglücklich, weil sie nicht zu den Reichen gehörten. Wer, um Himmels willen, sollte das alles noch verstehen? In einer Zeit, in der es keinerlei Bedeutung mehr hatte, ob irgendjemand etwas verstanden hatte. Was konnte ein Mensch ausrichten? Oder tausend?



Alle warteten. Einige sogar sehnsüchtig. Auf den, der als Erster die Hand heben würde. Auf die, die endlich vorangehen wollte. Und dann!



Darius schrieb auf seiner alten Schreibmaschine dazu:



wWien war wirklich schön,



doch schön amEnde



Ach, alles war ein hitziges Geschrei!



Und doch



Da wartete ein ganzes Heer,



so sehr, auf seinen Einsatz



Auf Jubeln, Trommeln, Pfeiferei



Und auf den zärtlich klaren Griff



der vorderen Hände …





Karla und der Klang der Nacht



„Kannst du mich nicht ein bissel öfter auch anschauen, wenn wir miteinander im Bett sind?“



Sie klappte seinen Arm unter ihren Kopf, legte sich rauchend neben ihn. Er sagte länger nichts, rauchte ihre Zigarette mit und vollführte dann einen seiner üblichen Rösselsprünge.



„Geh, Karla! Ich schau die Welt nicht an. Ich schmecke die Welt! Und du! Schmeckst wunderbar.“



Sie küsste seine Hand, legte sie beiseite, wie eine alte Zeitung, und schwang sich mit einem Satz aus dem Spiel. Und auf die Beine. Zuerst zog sie ihr Cordhemd an, das petrolfarbene. Dann beide Socken. Ging auf seine Seite des Bettes zu, und stand so, halbnackt, vor ihm. Sein Blick war lauernd ihrem Gang gefolgt.



„Anton, komm, küss mich auch!“



„Aber gern, Madame!“



Schwerfällig hob er seinen massigen Oberkörper, nur so weit wie nötig, fasste mit einer Hand den nackten, schmalen Hintern der jungen Frau und drückte sein Gesicht in ihren Schoß. So tief, wie er es eben vermochte, so fest, wie sie es gerade noch gernhatte. Ungelenk, wie er war. Und so müde auch.



Er schmatzte. Sie störte sich nicht daran, drehte sich aber bald kichernd aus seinem Griff. Er schnalzte mit der Zunge, tschlak, hustete, und ließ sich wieder fallen. Sie dachte an ein altes Schiff.



Ihr dunkler Pagenschnitt fiel ins Gesicht, als sie in die karierten Boxershorts stieg. Vielleicht ein wenig wie Jugendstil, hatte sie vor dem Schneiden zum Friseur gesagt.



„Sehen wir uns?“



Dann ihre weiten Jeans, die Knöpfe zu, er ließ sie nicht aus den Augen.



„Ich weiß nicht. Musst du sagen. Ist dir das nicht zu spät, immer erst nach meiner Küche?“



Nach meiner Küche. Vor meiner Küche. In meiner Küche. Durch meine Küche. Neben meiner Küche. Es ist aber nicht mehr seine Küche.



Dachte sie.



„Ist mir egal. Am Vormittag geh ich eh schon länger nimmer an die Hochschule.“



Sagte sie.



„Du kommst einfach wieder vorbei, wenn du Lust hast, oder?“



Sagte er. Und dachte nichts.



Sie ließ den halb wachen Mann liegen und die Tür halb offenstehen. Man musste sie ohnehin hinter ihr schließen. Sie klemmte. Karlas Schuhe waren nicht zu hören. Und das nächtliche Pfeifen im Treppenhaus, das war wohl jemand anderer.



Dam dam dam dam – Bumm bumm – Dam dam dam dam – Bumm bumm – Dam dam dam daaam daaam, tam tam! Bumm bumm …



Auf dem Weg nach Hause pulsierte in ihr nicht die beinahe vergangene, viel zu warme Nacht, schon gar nicht der längst wieder schnarchende Koch und sein schwerfälliges Fleisch. Nein, Anton, ich kann dir nicht sagen, was ich von dir will, ich kann ja nicht einmal sagen, was ich gerade brauche. In ihr pulsierte jetzt auch nicht ihre Hingezogenheit zu sehr verschiedenen Männern, Darius zum Beispiel, oder einer von den Sängern an der Hochschule, Paul, nein, ich glaube, er heißt gar nicht Paul. Ich will bloß nicht so allein sein, versteht ihr das? Doch, er heißt Paul.

 



Töne pulsierten in ihr. Wunderbare Töne.



Dam dam dam dam, da-da-da da-da-da, dam dam dam dam!



Und die so versöhnliche, gleichmäßige Ruhe der sonst taghellen, hochmütigen Wienerischkeit. Die alten Straßen und Gassen stimmten sie hinüber nach Moll. Langsam, und schwer, dieser Kontrapunkt. Hier, die ewig alte Traurigkeit dieser Stadt, verbannt in U-Bahnschächte, Tagträume und auf Stehbalkone. Und dort, der unstillbare Lebenshunger, der nachts aus jedem Haus sickerte und jeden halbtrunkenen Suchenden ansprang.



Darius. Du tust mir leid. Was für ein niederschmetterndes Gefühl für mich, dass du mir leidtust. Ich weiß nicht einmal, warum. Und noch viel niederschmetternder muss es doch für dich sein; ich hoffe, du bemerkst es gar nicht. Ich mag einfach nicht aufhören mit dir. Deine Monologe, diese rätselhaften Ausflüge. Dich dabei anschauen, ja, ich höre oft gar nicht hin. Auch deine Gedichte! Die feine Art, wie du sie liest. Egal, ob sie gut sind oder nicht. Sie sprudeln immer so lebhaft aus dir heraus, Darius, sie lassen uns alle leben. Das allein ist wunderbar!



Und doch. Und doch. Und doch.



Keiner dieser Bildersätze, keiner dieser munter fließenden Gedanken konnte Karla in eine so sprühende Lebendigkeit versetzen, wie die Musik das konnte. Auch die herrliche Unruhe und der unerklärliche Übermut, die nachts in den Gassen Wiens herumlungerten, vermochten nicht, was die Musik vermochte.



Heute waren es ausgerechnet ihre zwei Lieblingssätze aus Carl Orffs „Carmina Burana“.



Erst Moll. Der Anfang. O Fortuna!



Dann Dur. Uf dem anger!



Unermüdlich jubelte und polterte die altmodische, zutiefst bayerische Orchestergewalt in ihr dahin, O Fortuna! Daran angepasst, ihr rascher Gang. Rhythmisch tummelten die Beine sich zwischen den stampfenden Pauken, wie ein Hund, der ungeduldig auf sein Stöckchen wartet.



Sie liebte ihren Stock.



Sie liebte ihn viel mehr als ihre eigenen Hände, langsam erhoben sie sich schon, und mitten hinein in die Nacht wollten sie. Ihre Hände. Die bald vor ihr tanzten, elegisch erst, dann zunehmend forscher. Die ein ganzes Orchester herumkommandierten. Ihres. Das sofort reagierte, links und rechts, das in ihr drin gierig umsetzte, was die junge Dirigentin forderte, und sei es noch so kühn oder ungewöhnlich. Auch da hinten, das Blech: O Fortuna! Kleinste Bewegungen im Zeigefinger konnten in einem Handumdrehen ganze Klangwolken zersetzen oder neu entstehen lassen, ganz wie sie wollte, einfach nur, weil sie es wollte.



Wenn das nur in echt auch so ginge!



All diese Orchesterleichen an der Hochschule, dachte sie, obwohl sie noch so jung sind, schon tot. Und ihr entfuhr ein leises „Oida!“ Wenn nur diese eine Wendung hier je so funktionieren würde, wie ich sie jetzt höre!



Sie war längst stehengeblieben, hatte die Augen zu. Auch ihre Beine waren geschlossen, ihr Körper, in Spannung, ganz aufrecht, der Schwerpunkt leicht nach vorn, so wie es sein musste. Im Geist führte sie ihren weißen Stock in der linken Hand. Daumen und Zeigefinger hielten ihn, ruhig, aber doch mit etwas Druck.



O Fortuna! Velut Luna statu variabilis, semper crescis aut decrescis – Schicksal! Wie der Mond dort oben, so veränderlich bist Du, wächst Du immer oder schwindest …



Mit ihrem rechten Arm hielt sie den Raum. Lächelnd. Wie eine alte Hirtin. Vorne an der Straße bimmelte die erste Tram des Tages. Auf der anderen Seite der Gasse stand ein alter, rauchender Mann und schüttelte unaufhörlich den müden Kopf. Sein verträumt vor sich hin urinierender Rauhaardackel zwang ihn schon seit einer gefühlten Ewigkeit dazu, Karlas nächtliches Publikum zu verkörpern.



Oder zog ihn noch etwas anderes magisch an?



Er war sich auf einmal nicht mehr sicher.



Diese wild atmende, junge Frau, die da mit hoch erhobenem, witterndem Kopf unter einer Laterne auf dem Trottoir stand. Sie dirigierte doch etwas offensichtlich Großes – und es war dem müden Alten plötzlich nicht mehr klar, ob er einfach nur zuhören sollte oder bereits im nächsten Augenblick diensteifrig einsetzen? Fortissimo!



Schon atmete er rhythmisch mit, schon erhellte sich sein Blick, richtete sein gebeugter Körper sich auf, und –



Schließlich war es der Hund, der jäh den unmittelbar bevorstehenden Einsatz des Chores verhinderte. Nach seinem frühmorgendlichen Geschäft im Geist wieder auf die Gasse zurückgekehrt, stand da plötzlich diese böse fuchtelnde Frau. Und da hatte er sofort zu bellen. Selbstverständlich, jawoll!



Karla zuckte zusammen, öffnete die Augen und ging sofort weiter. Erwischt, stumm, plötzlich fröstelnd.



Der Alte sank in sich ein. Um ein Haar hätte er laut losgesungen.



„Entschuldigen vielmals.“



Er sagte es leise, mehr zu sich selber, warf den glimmenden Zigarettenstummel in die glitzernde Urinlache und zog ungnädig an der Leine. „Gemma!“



Der Hund kläffte kurz. Das Herrchen nickte.



Das Schloss klemmte. Jedes Mal wieder. Fast so wie das bei Anton. Erst mit diesem immer gleichen, kurzen Ruck zum Bauch hin ließ sich die Tür leise öffnen. Nichts in diesem kleinen Hinterhofpavillon war so gebaut, dass es genau das tat, was es sollte.



Könnte noch aus der Kaiserzeit stammen, der kleine Bau. Ein einziger, doch recht großer Raum, verwinkelt, in dem alles Platz hatte, was eine junge Wiener Dirigierstudentin brauchte.



Aber was war der früher einmal gewesen? Wirklich eine Art Depot für die Kutsche, mit kleinem Stall für zwei Pferde, wie sie immer dachte?



Karla warf den Rucksack auf die alte Chaiselongue. Weinrot, dunkles Holz, die Beine wackelten, der dicke Koch hätte schon nicht mehr drauf gedurft. Es war zu warm hier, wie immer im Sommer. Aber sie traute sich nie, die Fenster zu kippen, wenn sie aus dem Haus ging. Und wenn sie sie jetzt aufmachte und Licht anknipste? Dann wäre das wegen der Gelsen verheerend. Ihre Nerven, später, das leise Surren! Ausgeschlossen.



Ein letztes Glas Roten, Fenster auf, und Licht blieb aus.



Im Dunkeln saß sie vor ihrem Klavier, auf Opas alter, grüner Holzkiste, müde die Elfenbeintasten anstarrend, die im fahlen Halbdunkel immerzu auf sie warteten. Den ganzen Tag, jeden Tag. In der linken Hand das Glas, in der rechten die Zigarette. Es machte nichts, dass jetzt ein paar Tränen kamen, sie machte auch keinerlei Anstalten, sie von der Wange zu wischen. Es war eben Sommer. Und es war eben Nacht. Und wenn man da so sitzt, und wenn alles dabeisitzt, was man immer wieder und wieder mit sich klären muss, und zu bedenken hat, jeden Tag – genau, dann sind ein paar Tränen vollkommen in Ordnung.



„Komm, mach den Orff noch ein bissel an!“



Es kam aus dem Klavier.



Für Karla war es nichts Besonderes mehr, dass da jemand sprach, mit ihr, aus dem Klavier. Aber sie war dennoch jedes Mal zu Tode erschrocken. Natürlich war sie das. Nicht mit jedem Menschen sprach jemand aus einem Klavier! Einfach so.



Bald war sie aber mit dieser angenehm tiefen Stimme übereingekommen, dass man hier auch gut zu zweit leben konnte. Wenn man unter sich war. Also war ihr Mann im Klavier entsprechend diskret. Er meldete sich nicht, wenn jemand zu Besuch war, und er achtete auch sonst sehr darauf, dass Karla in der richtigen Stimmung für ein paar Worte war.



„Ja, vielleicht hast du recht. Ich geh lieber mit dir und dem Orff ins Bett.“



„Als mit?“



Seine Stimme ließ sie plötzlich hell lächeln.



„Vergiss es.“



„Gut. Ich habe es schon vergessen.“



Er hatte Manieren. Schon seine Sprache. Zu Karlas großem Bedauern war er aber selten bereit, etwas von sich preiszugeben, schon gar nicht, wenn es um persönliche Dinge ging.



„Du kannst einschalten, ich mache später aus, wenn du schläfst.“



„Das ist lieb von dir. Danke.“



„So gern, Karla.“



Sie drückte die Zigarette aus, fuhr mit dem Finger ein paar Mal über den Rand des halbvollen Glases, bis es etwas müde einen hohen Streicherton von sich gab, ließ es dann auf dem Klavier stehen. Und ging ohne Zähneputzen hinüber zum Bett.



Cis.




War heute nichts los



Nur ein kätzchen ging baden



Stand bis zu den Waden schon imSee



Und drehte um



Frag nicht warum



Hier weiß es auch keiner.





Darius, seine Maschine und die Bobo Jager



Es war erstaunlich. Darius fand das heutige Gedicht selber schön! Dabei war es an Seichtheit kaum zu überbieten.



Nichts, was er sich herzuzeigen getraut hätte.



Lag es an der Hitze, die allmählich geeignet war, Wien zur erweiterten ungarischen Tiefebene zu machen? Oder waren es die vielen tief- oder schwachsinnigen Nachtgespräche mit den „Bobo Jagern“, die in letzter Zeit fast ein wenig überhandnahmen?



„Darius, Süßer, wenn du zu lange in der Theorie verweilst, geht die Praxis leise scheißen.“



Irgendwann einmal hatten sie gefunden, zu fünft – sie waren sonst wohl insgesamt zehn, manchmal dreizehn, auch schon mal sechzehn, je nachdem –, es mag wohl um halb drei Uhr morgens vor dem Café Alt Wien gewesen sein, vielleicht aber auch an einem verregneten Samstagvormittag im Café Jelinek, da hatten sie also gefunden, „Bobo Jager“, das sei doch ein guter Name für sie! Eine herrlich doppeldeutige Umschreibung für echte Künstler sei das! Und auch für echte Möchtegernkünstler, kühne Dönerstandphilosophen, Hexen, täglich betrunkene Rationalisten, Endzeitspirituelle. Kurz: ein guter Name für Leute, die sich ständig wegen Sachen stritten, die normale Menschen in der Regel nicht interessierten. Und auch gar nicht verstanden.



Vielleicht doch einfach wegschmeißen, das heutige Gedicht?



Oder wenigstens in den Stapel ganz unten?



Darius betrachtete das eingespannte Papier mit einer Mischung aus übermütigem Trotz und sehr kindlicher, echter Freude. Und gleich darauf kam sie wieder hoch. Schon wieder. Er hasste sie. Er wollte nicht mehr damit leben müssen! Und war aber dann doch ein wenig zu ehrlich, immer schon, um sie einfach vor sich selber zu verstecken: seine Scham. Und die Angst auch. Seine übergroße Angst.



Die Bobo Jager.



Schätzten und überschätzten sich mit Hingabe. Jüngere bis mittelalte Zeitgenossen, meist männlich, die sich im Laufe ihrer zusammen durchwachten Jahre ganz langsam zu so etwas wie Scheinexistenzen entwickelt hatten, unbrauchbar für den großen Rest. Der freie Markt duldete sie ja noch, am Rand, als Kleinkonsumenten. Und doch: Dem alles beherrschenden, weltbürgerlichen Zeitgeist, diesem Kraken, der inzwischen auch Studenten, Geringverdiener und Existenzgründer mit sich riss, wollten sie sich einfach nicht überlassen. Besonders, wie sie waren.



Natürlich konnte es sein, dass es jemand von den anderen aus dem Stapel zog, das heutige Gedicht. So wie sie es oft taten, und dann lasen sie laut vor, viel zu laut, was sie in ihren Händen hielten, nachts, wenn sie mal wieder in seinem Zimmer gelandet waren. Was ihn manchmal ehrte, meistens aber heillos überforderte. Weil er nicht so weit war, einfach klar und deutlich „Nein“ zu sagen.



Mit lautem Ratschen zog er das Blatt aus der Maschine. Und legte es hinten im Regal ganz oben auf den Stapel.



Die Bobo Jager.



Man brauchte solche Leute in der heutigen Zeit nicht. Leute, die sich in Unterschieden wohl fühlten. Leute, die selten waren, störten nun. Mehr als sie wirken konnten.



Nur, wie wurde man die los?



Man konnte sie ja schlecht aus der Stadt jagen. Schon gar nicht aus einer Stadt wie Wien! Früher hatte es sogar zum guten Ton gehört, den einen oder anderen Künstler, die eine oder andere Zeitgeistabtrünnige persönlich zu kennen! Und sei es nur, um sich abgrenzen zu können, genüsslich, von denen. Wenn man vom Nachbartisch her auf ihre palavernden Runden schielte. Im Kaffeehaus. Beim Wirt. Im Foyer.



Seine Maschine.



Er schrieb schon seit Jahren die verschiedensten Formate. Gedichte. Kurzgeschichten. Kleine Erzählungen. Auch ein Theaterstück gab es inzwischen. Aber noch nicht: den Roman! Irgendwann würde er kommen. Irgendwann musste er ja kommen. Irgendwann – war es vorletzten Herbst gewesen? – war er mittags aufgewacht und hatte auf seinem Dachbodenabteil fieberhaft nach der alten Schreibmaschine gesucht. Die seine Mutter auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Weil sie zu billig gewesen war. Seine Mutter hatte ein Auge für gute, alte Dinge, besonders wenn sie zu billig waren. Und diese Maschine hatte er ihr weggenommen. Manche Söhne dürfen so etwas. Er hatte sie mitgenommen. Für –

 



Wer wollte schon wissen, wofür?



Er hatte sie erst nicht halb so sehr geschätzt, wie seine Mutter gehofft hatte. Hatte sie deshalb gelangweilt oben auf seinem Dachboden verstaut, wieder zurück in Wien.



Aber an einem Mittwochmorgen wollte er plötzlich seine Gedichte nur noch mit einer Maschine schreiben. Mit genau dieser Maschine. Man konnte ein Gedicht nicht am Computer schreiben! Nie mehr, ab jetzt.



Er forderte, dass man sich künftig vorher überlege, was man zu sagen habe, er wollte, dass schon das fehlerhafte Schriftbild, die noch nicht fertige Form, den Lesern sofort zeige, dass das Momentaufnahmen waren