Czytaj książkę: «Verkörperter Wandel»

Czcionka:

martin Witthöft


Verkörperter Wandel

Die Praxis der Integrativen Yogapsychologie


Impressum

© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2021

Lektorat: Pascal Frank

Titelfoto: © shevtsovy/istock.com

Der Auszug der Texte aus dem Yogasutra von Patanjali, herausgegeben von R. Sriram, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlags in ­Kamphausen Media, ISBN 978-3-89901-241-5

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-368-6


Hinweis:

Alle in diesem Buch vorgestellten Übungen dienen der Gesundheitsprävention oder unterstützen die Praxis der Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind vom Autor sowie Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden.

Die Behandlung und Diagnose von Krisen und Störungen mit einem Krankheitswert sind in Deutschland ausschließlich (Fach-)Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen und Heilpraktiker*innen mit einer entsprechenden Heilerlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz gestattet.

Sollten Sie sich in einer akuten oder andauernden Krise befinden, die das Denken, Fühlen und Handeln so beeinträchtigt, dass Sie nicht mehr in der Lage sind, Ihre persönlichen Probleme zu bewältigen, wenden Sie sich bitte an Fachkräfte wie oben aufgeführt mit entsprechender Heilerlaubnis. Im Fall einer akuten Krise, in der sich suizidale Gedanken oder Handlungen aufdrängen, suchen Sie bitte eine psychiatrische oder psychosomatische Ambulanz in Ihrer Nähe auf. Eine Haftung des Autors oder des Verlags für Personen,- Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort von Anna Trökes

Einführung

Teil I

Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation (MAP): Grundhaltung und Orientierung

Prolog

Die Wissenschaft vom Sein

Drei-Farben-Weiß: Das Erscheinen von Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation

Eine holistische Perspektive

Vom Yogasutra zur Psychopathologie: Eine yogapsychologische Brücke

Depression

Ängste

Teil II

Integrative Yogapsychologie: Das Absolute und das Konkrete

What You Gonna Say to the Real Me?

Kleshas in der Entwicklungspsychologie

Grundmuster der Charakteranalyse:Klesha-Reaktion auf Verletzungen in verschiedenen Entwicklungsstufen

Ein Mann Besatzung

Wir sind einander:Yoga und Beziehung

Folgen von Avidya:Eine yogapsychologische Perspektive zum Verständnis sexualisierter Gewalt im Yoga-Umfeld

Purushartha

Auf der anderen Seite

Die Alte Gestalt: Samskara – das Blockademodell der Yogapsychologie

Der andere Flügel: Pratipaksha Bhavana

Die neue Gestalt: Unterstützende Samskaras – das Ressourcenmodell der Yogapsychologie

Ressourcing: Die Quelle finden

Das Herz ist das Selbst

Herz-Geist-Yoga

Das Chakrenmodell in der Yogapsychologie:Alltag als Transformationsprozess

Svabhava und Svadharma: In den Eigenfarben des Selbst

Kaivalya: Verbundene Freiheit

Jyotismati

Teil III

Die Praxis der integrativen Yogapsychologie

MAP: Die Karten zur Selbst-Orientierung

Die Alte Gestalt: Das Auffinden biografischer Gefühle

Die Neue Gestalt: Das Auffinden der Ressourcen-Gefühle

Bhavana-Meditation

Das innere Kind und die Alte Gestalt

Embodiment: Die Verkörperung der Neuen Gestalt

Die fünf Fragen: Aufbruch in die Freiheit

Yoga entlang der fünf Fragen

Pulsation zwischen den Ressourcen

Epilog

Anhang

Dank

Literaturverzeichnis

Glossar

Über den Autor

Vorwort von Anna Trökes

Langsam spricht es sich in der westlichen Welt rum, dass Yoga noch viel mehr ist als Sonnengrüße, Armbalancen und kräftigende Standhaltungen. Nach mehreren Jahrzehnten der Körper-Übungspraxis lässt sich bei vielen Übenden ein zunehmendes Interesse beobachten, den Yoga in der Vielschichtigkeit seiner Wirkweisen verstehen zu lernen.

Warum vertreten alle Yoga-Richtungen den Anspruch, uns aus leidhaften Erfahrungen herausgeleiten zu können? Warum fühlen wir uns tatsächlich nach (fast) jeder Yogapraxis wohler und sind besser gestimmt als vorher? Was wirkt hier?

Viele Antworten auf diese Fragen finden wir in den uns überlieferten Quellentexten, wie zum Beispiel dem Yogasutra. Wenn wir – mit der Unterstützung eines erfahrenen Lehrers/einer erfahrenen Lehrerin – diesen Text studieren, werden wir verstehen lernen, wie unser Geist funktioniert und womit er sich immer wieder selbst leidhafte Erfahrungen erschafft. Es werden uns Konzepte und vor allem Methoden – in Form von Übungs-Wegen (sadhana) – angeboten, die uns zeigen, wie wir alte, beschwerende Erfahrungen hinter uns lassen können und wie bestimmte Veränderungen unseres Verhaltens zu mehr Wohlbefinden führen. Die Quellentexte können das leisten, weil sie in Indien nicht als rein ­philosophische Texte (eben »Yoga-Philosophie«) verstanden werden, sondern als »Atma-Vidya«, also als eine Wissenschaft (vidya) vom Selbst (atman). Im Zentrum fast aller Lehren steht die Einladung zur Entwicklung von Meta-Perspektiven (Beobachter, Zeuge, Seher, drashthu), um uns selbst zu erforschen (svadhyaya), von einer Ebene aus, die es möglich macht, unseren Wesenskern (svarupa) bzw. unser unwandelbares Selbst (purusha oder atman) zu erkennen und zu erfahren.

So geschah es, dass sich die Yogapraxis in der für sie typischen Kombination aus Körperpraxis, Beschäftigung mit den Konzepten des Atman-­Vidya und der Verinnerlichung in der Reflexion oder Meditation allmählich immer mehr zu einer »Yogabasierten Psychotherapie« wurde – und damit zu dem, als was Yoga eigentlich gedacht war.

Wer so wie ich seit Jahrzehnten die Körperarbeit (asana, pranayama) und Meditation in Verbindung mit der ständigen Reflexion der Yogakonzepte unterrichtet, weiß, dass dieser Weg nur in genau dieser Vernetzung nachhaltig wirksam werden kann. Lehrerinnen und Lehrer wie ich verfügen über sehr viel Erfahrung in der Umsetzung der Konzepte und der Begleitung der Übenden auf ihrem Weg, aber wir waren lange Zeit selber dafür verantwortlich, schlüssige Theorien herauszubilden, warum der Yoga diese Wirkungen zeigt. Eine »Psychologie des Yoga« bildete sich erst langsam und vereinzelt heraus und blieb deswegen ohne Breitenwirkung.

Ich denke, das wird sich nun grundlegend ändern!

Mit »Verkörperter Wandel«, dem Buch, das uns Martin Witthöft hier vorlegt, steht uns nun endlich ein Grundlagenwerk (!) zu diesem wichtigen Thema zur Verfügung. Ein Grundlagenwerk, weil Martin sich dieses Themas wirklich grundlegend angenommen hat.

Mit großer Sorgfalt hat er Konzepte des Yoga, die sich mit unserem Gewordensein (vasanas und samskaras) und unserem aktuellen Sein und Verhalten (repräsentiert durch die Wirkkraft der kleshas) beschäftigen, zu Konzepten der modernen Psychologie wie Neuropsychotherapie, ­Bindungsforschung und Körperpsychotherapie, insbesondere der Biosynthese in Beziehung gesetzt.

Wir lernen verstehen, wie wir uns natürlicherweise zu einer »Gestalt« formen (bzw. durch Erziehung und gesellschaftliche Bedingungen zu ihr geformt werden), die zumeist in ihren Annahmen, Bewertungen, Glaubenssätzen und in ihren Verhaltens- und Handlungsmustern (= »alte Gestalt«) erstarrt ist. Yoga hilft uns mit seinen oft herausfordernden Praktiken wie intensives Atmen und vor allem der Meditation, dass wir uns als Erstes dessen bewusst werden und in der Folge für uns klären können, ob wir so weiterleben und weitermachen wollen – oder nicht.

Falls wir spüren, dass sich etwas in uns wandeln möchte, bietet der Yoga uns Konzepte an, die uns darin unterstützen, zu einer »neuen Gestalt« zu finden. Diese Gestalt zeigt die Wesenszüge von zunehmender Bewusstheit, Achtsamkeit, Klarheit und innerer Freiheit, aber auch von Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und einem lebendigen Mitfließen mit den sich ständig wandelnden Strömungen des Lebens.

Diesen Prozess der Umkehr (pratipakshabhavana) und der Wandlung beschreibt Martin genau und nachvollziehbar. Er weist uns auf unsere Ressourcen hin, auf die Kraft, die sich auftut, wenn wir zu unserem eigenen Weg (svadharma) und zu unserer eigenen, authentischen Gestalt (svabhava) finden.

Wesentlich ist meiner Ansicht nach, dass er seinen Leser*innen eine Vielzahl von Übungen mit auf den Weg gibt. Die meisten dieser Übungen sind so angelegt, dass sie zu einer achtsamen und von Selbstmitgefühl geprägten Selbstreflexion einladen, die hilft, mehr Klarheit und Einsicht in das eigene Fühlen und Denken und das daraus resultierende Verhalten und Handeln zu gewinnen.

»Verkörperter Wandel. Die Praxis der integrativen Yogapsychologie« ist somit ein unverzichtbares Handbuch für Yogalehrende, Meditationslehrer*innen und vor allem für alle, die Yogalehrer*innen ausbilden. Es ist aber auch ein wertvoller ­Begleiter für die Yoginis und Yogis, die als Übende auf dem Yogaweg unterwegs sind und merken, dass eine Sehnsucht in ihnen sie hinausführen möchte über die stete Verfeinerung der asanas – nämlich in die Begegnung mit sich selbst.

Die Themen der Yogapsychologie sind vielschichtig, komplex und gehen oft sehr tief. Martin ist das Kunststück gelungen, diese Tiefe zu bewahren und trotzdem einen Ton zu finden, der von Leichtigkeit und Verständlichkeit geprägt ist. Dabei helfen die diversen biografischen Einschübe sehr, mit denen Martin sich uns als ein Spiegel anbietet, und seine sehr schöne, oft bildhafte Sprache.

Ich wünsche diesem reichhaltigen, so spürbar auf Erfahrung beruhenden Buch eine vielfältige, interessierte und offene Leserschaft, und empfehle es gleichermaßen gerne vom Kopf und vom Herzen.

Anna Trökes

Berlin, März 2021

Einführung

Meine erste Berufsausbildung erhielt ich auf einer Schule für zeitgenössische interdisziplinäre Kunst. Bis heute profitiere ich sehr von dieser großartigen Zeit. Unter einem Dach vereinten sich unterschiedliche Disziplinen wie Malerei, Schauspiel, Tanz und Akrobatik. In den verschiedenen Fächern lernte ich, bisher vertraute Dinge immer wieder neu und frisch zu betrachten, aber auch infrage zu stellen und zu erneuern, indem ich sie mit scheinbar Fremdem in Beziehung setzte.

Ausgelöst durch eine frühe Krise, hatte ich schon in der Kindheit begonnen, mich mit spirituellen Themen auseinanderzusetzen. So standen immer auch der Mensch, seine Verkörperung und die vielschichtige Bedeutung seiner gegenseitigen Beziehungen im Zentrum meiner gestalterischen Arbeit, der Zeichnungen, Bilder und Installationen. Existiert ein alle Menschen und Wesen verbindendender Seinsgrund? In welchem Verhältnis steht dieser zur Individualität des Menschen, seinem freien Ausdruck?

Die kreative Auseinandersetzung führte mich über eine Weiterbildung zum Yogalehrer in eine fünfjährige Ausbildung, die sich mit der »Biosynthese«, einem somatisch und tiefenpsychologisch fundierten Verfahren, befasste. Obwohl sich der Schwerpunkt meiner Tätigkeit damit verlagerte, ich immer mehr mit Gruppen, Paaren oder im Einzelsetting arbeitete, blieben das Grundthema meiner Arbeit, ihr Motiv und ihre kreative Haltung identisch.

In den folgenden Jahren entwickelte sich die Einsicht, dass Yoga und Psychologie nicht nur voneinander profitieren – sie erschienen mir wie zwei Seiten derselben Praxis. In dieser Verbindung lagen die Antworten, nach denen ich gesucht hatte, und so begann ich ihre gemeinsame Essenz eingehender zu erforschen.

Die Traditionen des Yoga lehren uns die Verbindung zum Absoluten, unsere Heimkehr in das Ganze, das All-Eine. In der Psychologie beschäftigen wir uns hingegen mit den Beziehungen im Konkreten, zu uns selbst, den Menschen, Situationen und Dingen, die uns prägen.

Die vielleicht grundlegendste Verbindung zwischen dem Absoluten und Konkreten erleben wir in den Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und lebendiger Pulsation, dem prozesshaften Sein. Das dabei entstehende Akronym »MAP« verweist auf das englische Wort für »Karte«. So wurde auch die Idee der Orientierung ein Leitgedanke des vorliegenden Buches.

Entlang dieser Linie entstand in den vergangenen 20 Jahren eine eigenständige Methode: die integrative Yogapsychologie. Mit einem breiten Repertoire an Tools und Skills bildet sie heute die Grundlage für eine ganzheitliche yogapsychologische Beratung, yogapsychologisches Coaching und Yogapsychotherapie. Sie ist zugleich eine vielseitige Inspiration für die psychologische Erweiterung des klassischen Yogaunterrichts.

MAP-Sensing steht dabei für das feine, sinnliche und zugleich zielvolle Vorgehen beim Suchen, Finden und Begleiten eines letztendlich immer prozesshaften Weges.

Damit richtet sich dieses Buch einerseits an interessierte Yogapraktizierende, andererseits – und insbesondere – aber auch an professionelle Yogalehrende, Therapeut*innen, Berater*innen etc.

Jedes der Kapitel verbindet Erfahrungen und Einsichten der alten spirituellen Traditionen mit Erkenntnissen der modernen, zeitgenössischen Psychologie. Quellentexte des Yogasutra, der Sankhya Karika oder Bhagawadgita begegnen der modernen Neuropsychologie, Körperpsychotherapie, Charakteranalyse und anderen humanistischen Ansätzen.

Die einzelnen Abschnitte und ihre Inhalte sind aufbauend strukturiert, können aber immer auch einzeln und themenbezogen gelesen und verstanden werden. Die durchgängig begleitenden Übungen erlauben die eigene praktische Erfahrung, lassen sich aber auch problemlos auf Coaching- bzw. Unterrichtssettings übertragen. Illustrierende Fallbeispiele ermöglichen zudem ein Anwendungsverständnis für die Beratung, das Coaching oder die Psychotherapie. Die Personen in den Beispielen sind fiktiv und setzen sich aus Aspekten verschiedener Fälle zusammen.

Der Text ist in drei Teile gegliedert und behandelt die integrative Yogapsychologie von den Grundlagen bis zur Praxis:

Der erste Abschnitt beginnt mit einer vergleichenden Betrachtung von Entwicklungsbiologie und den Ursprüngen des Yoga. Über die Paral­lelität dieser Perspektiven entsteht ein erweitertes Verständnis der Ebenen Fühlen, Denken und Handeln. Anschließend folgt eine Einführung in die Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation mitsamt ihren spirituellen und psychologischen Dimensionen. Sie bilden die Grundlage der integrativen Yogapsychologie.

Der zweite Teil verbindet Aspekte des Yogasutra mit zeitgenössischen Erkenntnissen, insbesondere der Neuropsychologie, um ein eigenständiges, psychologisches Ressourcen- und Blockademodell zu entwickeln. Entlang der Chakren werden sieben Entwicklungsfelder vorgestellt, die eine klare Orientierung innerhalb der prozesshaften Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen.

Im letzten Abschnitt wird der Theorieteil in die Praxis überführt. Dabei steht jeder der Übungsbeschreibungen eine begleitende Einführung zur Seite. Diese sorgfältige Einbettung ermöglicht die Erweiterung der persönlichen Übungspraxis und bildet eine verantwortungsvolle Grundlage für die Übertragung in die professionelle Arbeit mit Gruppen und Klient*innen.

Für den Erhalt einer Tradition können neue Einflüsse und Perspektiven eine große Herausforderung bedeuten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Kunst, Spiritualität oder Wissenschaft handelt. Nicht selten fühlen sich die Bewahrer der Tradition von den Erneuerungen bedroht. Polarisierende Konflikte sind die Folge.

Das vorliegende Buch möchte mit der Verbindung zwischen Yoga und Psychologie generell nicht reformieren und infrage stellen, sondern eine alternative, erweiterte Sicht anbieten. Dabei geht es vor allem um die Orientierung am eigenen Selbst, das immer auch ein verbundener Teil und damit Ausdruck der Gesamtheit ist.

Wenn es uns gelingt, der Intelligenz dieser gestaltenden Quelle zu vertrauen, können wir beginnen, uns von alten Glaubenssätzen, Konzepten und Ideologien zu lösen – als achtsame, mitfühlende und lebendige Wesen in einer sich beständig wandelnden Welt.

Teil I


Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation (MAP): Grundhaltung und Orientierung

Prolog

Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment. Ein Jahr zuvor hatte ich meine Ausbildung zum Yogalehrer absolviert und eine weitere Ausbildung in tiefenpsychologisch orientierter Körperpsychotherapie abgeschlossen.

Unsere Tochter war gerade drei Jahre alt. Wir saßen auf dem Balkon und genossen den weiten Blick über das Tal. Die Sonne schien heiß. Ich schnitt auf einem Teller Gemüse für das Mittagessen, während sie am Tisch eines dieser wunderbaren Bilder malte.

Nach ihrer Geburt waren meine Frau und ich aufs Land gezogen, etwas abseits des Dorfes, in die Nähe eines Bauernhofs, von Wiesen und Wäldern umgeben. Jetzt im Juli war das dominante Gelb der Löwenzahnblüte schon den feinen Farben der Wiesenkräuter gewichen. Die Kühe standen auf ihrer täglichen Wanderung nah am Haus, und wir hörten ihr Schmatzen und Reißen am Gras.

Als meine Tochter von ihrem Stuhl aus über den Balkonrand zu den Kühen schaute, bat ich sie, sich nicht weiter über das Geländer zu beugen. Das sei gefährlich, sagte ich. Meist antwortete sie dann: »Ja, ja.« Ein Ja zu viel, wie ich als Vater finde. Doch dieses Mal schaute sie mich nur an und erklärte: »Du musst keine Angst haben! Jeder Mensch hat Schutzengel, die ihn bewachen.« Ich war überrascht, legte das Gemüse auf den Teller ab und fragte: »Jeder Mensch?« »Ja!«, antwortete sie, als wäre es selbstverständlich. »Jeder Mensch hat drei Schutzengel. Einen blauen, einen grünen und einen roten!« »Woher weißt du das«, fragte ich, »habe ich auch drei Schutzengel?« »Natürlich! Der blaue und der rote sitzen auf deiner Schulter.« Sie zeigte rechts neben meinen Kopf: »Und der grüne ist auf der anderen Seite.«

Damals lebte ich beruflich wie privat in einer herausfordernden Zeit. Der dauernde Wechsel zwischen meiner Rolle als Vater, meiner inneren Arbeit und der gerade beginnenden Tätigkeit mit Klient*innen machte mir zu schaffen. Ich erlebte die Übergänge oft als mühsam und empfand sie als Bruch. Gab es nicht ein gemeinsames inneres Zentrum dieser Lebensfelder, eine beständige Essenz, auf die ich mich ausrichten könnte? So würden alle Wechsel und ihre entsprechenden Rollen rein äußerlich bleiben. Die Suche nach einer in sich ruhenden und zugleich mit dem Leben verbundenen Nabe beschäftigte mich sehr.

Zurück in der Küche, noch berührt vom schönen Engelbild meiner Tochter, setzten sich etwas später – fast plötzlich – Vatersein, Meditation und Psychologie wie Puzzleteile in mir zusammen. Ich erkannte, dass ich lernen musste, mich dem Leben selbst anzuvertrauen, um die in mir empfundenen Brüche zu überwinden. »Du brauchst keine Angst zu haben …«, hatte sie so unbeirrt gesagt. »Wir alle werden beschützt. Du auch!«

Aber was bedeutet es, mich dem Leben anzuvertrauen? Wer oder wo ist das Leben? Sofort schoss mir die die Antwort ins Bewusstsein: Das Leben ist hier, in mir, unmittelbar. Dem Leben vertrauen bedeutet, meinem Körper, meinen Gefühlen und meinem Geist zu vertrauen. Jede dieser drei Ebenen hat einen vollkommen reinen und makellosen Anteil, gleich den drei Wesen, von denen meine Tochter so selbstverständlich sprach. Das konnte ich spüren.

Dem Bild folgend, steht der rote Engel für das beständige und ausgleichende Pulsieren meines Körpers, für die Essenz jeder lebendigen Körperlichkeit. Alles was lebt, pulsiert. Denn das Leben ist kein Zustand, sondern drückt sich in einer fortdauernden, rhythmischen Bewegung aus.

Der grüne Engel steht für den Urgrund meiner emotionalen Ebene: das Mitgefühl. Voraussetzung für wahrhaftige Begegnung, Ausgangspunkt jeder Beziehung und Quelle der Liebe.

Zuletzt repräsentiert der blaue Engel die Essenz meines geistigen Feldes: die Achtsamkeit. Tor meines Bewusstseins in die Welt, stiller Beobachter und anhaftungslose Quelle des Seins. Was für eine Freude!

Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit bilden als Kernqualitäten die Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Konkreten. In ihrer gemeinsamen Mitte befindet sich die eigenschaftslose Quelle des Seins. Alle drei fühlen sich wie der intimste Teil von mir an, sind zugleich aber das, was mich liebevoll und beständig über meine Persönlichkeit hinausführt.

Ich verstand, dass im Spektrum meiner verschiedenen Tätigkeiten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation der heilsamste Ausdruck meines Selbst waren. Dieser Einsicht bin ich seither beständig gefolgt. Mit den Jahren ist sie zur Grundlage eines einheitlichen und zugleich vielseitigen Modells geworden, in dem sich das Wissen der traditionellen Spiritualität und einer modernen transpersonalen Psychologie miteinander verbinden.

Ein wesentlicher Punkt besteht dabei in der Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen immer dann – und oft wie von »selbst« – geschehen, wenn wir das werden, was wir sind. Mitfühlend und achtsam betrachtet, ist jeder Ausdruck unserer Seele, mag er zunächst auch noch so niedrig oder egoistisch erscheinen, immer auch ein notwendiger Teil unserer spirituellen Entwicklung. Wenn ich lernen will, mich dem Leben hinzugeben, werde ich Fehler machen. Aber, wie Miles Davis so treffend sagte: »When you hit a wrong note, it’s the next note that makes it good or bad.«

Das Leben ist nun mal nicht perfekt. Perfektion ist ein Konzept, ein Hindernis, eine Idee des Egos. Wenn wir lernen, die nächste Note aus dem Zentrum von Mitgefühl und Achtsamkeit zu spielen, können wir uns dem pulsierenden Leben vollständig anvertrauen. Dann stehen wir weniger zwischen dem Absoluten und dem Konkreten, sondern erscheinen als die Verkörperung des einen im anderen.

Staunend und dankbar betrachtete ich meine Tochter beim Essen. Fühlen, Denken und Handeln kamen bei ihr aus einer Quelle und widmeten sich in diesem Augenblick leidenschaftlich den Kartoffeln. Die Kühe waren ein Stück weitergezogen und suchten die Kühle im Schatten eines Baumes. Am Horizont tauchten Wolken auf, und die Luft roch bereits nach der erdigen Feuchte des Regens.