Czytaj książkę: «Martin Fourcade»

Czcionka:

MARTIN FOURCADE

MEIN TRAUM VON GOLD UND SCHNEE

AUTOBIOGRAFIE

MARTIN

FOURCADE

MEIN TRAUM VON GOLD UND SCHNEE

Unter Mitarbeit

von Jean Issartel


Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1225-0).

Copyright - © Hachette Livre (Marabout) 2017

First published in 2017 by Hachette Livre

Titel der Originalausgabe: Martin Fourcade. Mon rêve d'or et de neige

Umschlagfotos: © JFK/EXPA/PRESSE SPORTS (vorn), © Julien Widmer (hinten)

Abbildungen im Innenteil (Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe):

S. 97 © Rolf Rosecki / Picture Alliance / DPPI

S. 98 (von links nach rechts): DR, DR, © Philippe Millereau / KMSP, DR, DR, DR

S. 99 DR, © Franck Faugere / DPPI, DR, DR

S. 100 © Martin Schutt / Zentralbild / Picture Alliance / DPPI; © Agence Zoom / DPPI © Omega

S. 101© Vianney Thibaut / Agence Zoom / DPPI ; © Franck Faugere / DPPI

S. 102 DR, DR (auch S. 192), DR, © Christian Manzoni / Nordic focus, © Philippe Millereau / KMSP / DPPI, Vianney Thibaut / Agence Zoom / DPPI

S. 102 © Philippe Millereau / KMSP; DR, DR, DR, DR, © Vianney Thibaut / Agence Zoom / DPPI; © Philippe Millereau / KMSP

S. 103 © Vianney Thibaut / Agence Zoom / DPPI

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 der deutschen Ausgabe

Copress Verlag in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit

ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

Übersetzung aus dem Französischen: Julia Hellmann

Satz und Redaktion der deutschen Printausgabe:

Verlags- und Redaktionsbüro München, www.vrb-muenchen.de

ISBN 978-3-7679-2061-3

www.copress.de

INHALT

Vorwort von Jan Frodeno

Vorwort von Tony Estanguet

Zum Auftakt: eine Erinnerung

Kapitel 1

Meine Geschwister

Immer der Erste sein

»Du wirst mich öfter im Fernsehen sehen als in echt

Kapitel 2

Auf den Spuren meines Idols

Eine Petition, um fortgehen zu dürfen

Den Tod vor Augen

Zurück zum Ausgangspunkt

Neustart wie im Flug

Kapitel 3

Meine Wettkampflust

Ein neues Exil

Überheblichkeit …

… oder Aufsässigkeit

Kapitel 4

Harte Lektion in Vancouver

Der Weg ist frei

Eine Zukunft ohne Illusionen

Meine Loslösung von Simon

Eine Nummer eins muss man erst mal werden

Kapitel 5

Der beste Biathlet der Welt

Intermezzo: Warum schreibe ich ein Buch?

Kapitel 6

Gold für mich, Silber für Simon

Ein vorgezeichneter Plan

Kleine Auszeit

Am Ende meiner Welt

Im Superheldenkostüm

Wettkampfpause

Kapitel 7

Ich bin ein Tier

Ich sterbe vor Angst

Ein Schreckgespenst namens Bjørndalen

Ein Lebenstraum

Geteilte Freude

Ich weiß, dass er stolz auf mich ist

Noch einmal Gold

Mach es wie Killy

Es fehlen nur drei Zentimeter …

Kapitel 8

Meine kleine Firma

Da wir gerade von Geld reden

Die Angst, in ein Loch zu fallen

Schwierige Monate

(K)ein perfekter Tag

Kapitel 9

Mein schönstes Rennen

Das Auge des Tigers

Ein verlockendes Angebot

Ein schwarzer Streifen

Ich werde einfach nicht verlieren

Kapitel 10

Trainings-Auszeit in Norwegen

Ein Gefühl des Verrats

Warum ich niemals dopen könnte

Geschichte schreiben

Anhang

Das kleine Einmaleins des Biathlons

Danksagung

Register

Vorwort von Jan Frodeno1

Als ich das erste Mal von Martin hörte, war ich unweit von seiner Heimat in dem französischen Höhentrainingszentrum Font-Romeu. Das in den 1960er-Jahren gebaute Zentrum ist sicherlich eine der beliebtesten Adressen für den europäischen Spitzensport, wenn es um Höhentrainingslager geht, und für mich war es eine der ersten Erfahrungen mit dem Training in der »dünnen Luft«, wie wir sagen. Persönlich musste ich schnell einsehen, dass ich extrem auf die erschwerten Bedingungen reagierte, und manch einer hätte vermuten können, dass ich eher als Sporttourist angereist wäre denn als jemand, der unbedingt eine Goldmedaille bei den nächsten Olympischen Spielen gewinnen wollte.

Wir waren damals mit der Nationalmannschaft vor Ort, und dabei kam uns auch eine Gruppe auf Rollerskis entgegenkam, die mit einer solchen – scheinbaren – Leichtigkeit den Berg hoch fuhr, dass ich das bis heute nicht vergessen habe. Durch meine sehr begrenzte Ski-Langlauf-Erfahrung wusste ich, wie anstrengend diese Disziplin ist – diese Anstrengung auf diesem Terrain so elegant aussehen zu lassen, inspirierte mich. Am selben Abend hörte ich von den Physiotherapeuten erstmals den Namen Martin Fourcade, der zu dieser Gruppe gehörte. Das nächste Mal begegnete er mir bei den Olympischen Spielen in Vancouver, und seither höre ich ihn andauernd, wenn ich im Winter die Sportnachrichten sehe. Jedesmal denke ich dabei wieder an diese Szene am Berg vor vielen Jahren, als wir beide einem Traum hinterherjagten – und muss lächeln.

Was Martin als Sportler auszeichnet, sind für mich insbesondere zwei Dinge: Biathlon ist eine der anspruchsvollsten Sportarten, die einen extremen Trainingsaufwand fordert, und um der Beste zu sein, musst du diesen Sport leben und lieben. Das merkt man immer wieder an seinen Aussagen, und damit inspiriert er Menschen auf der ganzen Welt dazu, Sport zu treiben. Als leidenschaftlicher Sportler ist es für mich in der heutigen Zeit aber auch wichtig, dass ich ihm und seinen Leistungen Glauben schenken kann: Wie kaum ein anderer traut sich Martin, für den sauberen Sport zu kämpfen. Und dafür sage ich: Chapeau, mon ami!

Vorwort von Tony Estanguet2

Ich habe Martin kurz vor dem Ende meiner eigenen Karriere kennengelernt, als er seine gerade begann. Aber wir sind uns nicht einfach nur über den Weg gelaufen. Das war eine echte Begegnung, so bedeutungsvoll, wie Treffen im sportlichen Umfeld sein können. Wir erlebten intensive Momente der Freude zusammen, insbesondere als ich die Ehre hatte, ihm die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen von Sotschi zu überreichen. Auch Momente des Zweifelns vor unseren größten Wettkämpfen und viele Momente der Entspannung, als wir am Wochenende zusammen Skilaufen oder Surfen gingen, nur zum Spaß … Aber was mich am meisten geprägt hat, ist die Wirkung, die Martins Leistungen in Sotschi auf meinen erstgeborenen Sohn hatte, als er mit sechs Jahren bei seinem ersten Biathlonwettkampf zuschaute: Von jetzt auf gleich wurde dieser Sport zu seiner Leidenschaft. Zuerst machte er Biathlon-Rollenspiele, indem er Martins Gesten bei uns im Wohnzimmer nachahmte, später wollte er diesen Sport in echt praktizieren. Und es gefiel ihm sehr. Seitdem denke ich immer, wenn ich Martin im Fernsehen sehe, an all die Kinder, bei denen er die Begeisterung weckt, sich die Ski anzuschnallen.

Dass wir uns gleich so gut verstanden haben, liegt sicher auch daran, dass wir einen recht ähnlichen Werdegang haben. Bei Martin wie auch bei mir entstand die Begeisterung, sich sportlich zu betätigen, schon sehr früh. Wir sind beide in einer sportbegeisterten Familie aufgewachsen. Mit zehn Jahren Abstand folgte jeder von uns dem Vater und den großen Brüdern bei ihren sportlichen Ausflügen. Um es den »Großen nachzumachen« probierten wir alle möglichen Sportarten aus, die sich anboten, wobei wir die in der Natur am liebsten mochten und die Pyrenäen für uns ein perfektes Spielfeld waren.

Hockey, Skilanglauf, Surfen, Kajakfahren, Mountainbiking …

Martin ist nicht nur ein Biathlet. Er ist ein richtiger Sportfan, der es liebt, aktiv zu sein. Und zwar so sehr, dass es ihn kaum auf einer Tribüne hält, wenn er mal bei einem Wettkampf zuschaut, egal in welcher Sportart.

Was uns ebenfalls verbindet, ist die besondere Geschichte mit unseren älteren Brüdern. Wie Martin auf den Spuren seines Bruders Simon wandelte, um ihm auf dem Weg zum Biathlon-Leistungssport nachzufolgen, machte ich das Gleiche mit meinem Bruder Patrice, der bei den Olympischen Spielen in Atlanta eine Bronzemedaille im Kanuslalom (Einer-Canadier) holte. Wie Martin bin auch ich nach und nach vom Status des kleinen Bruders, der dem großen nacheifert, in den des Konkurrenten gewechselt.

Diese etwas außergewöhnliche Geschichte der Rivalität unter Brüdern war nicht immer leicht. Aber heute glaube ich, dass wir ermessen können, in welchem Maße die sportlichen Laufbahnen unserer älteren Brüder eine unerschöpfliche Inspirationsquelle waren. Dass wir einzigartige Emotionen bei Olympia erleben durften, verdanken wir zu großen Teilen ihnen.

Das war es dann aber auch schon mit den Parallelen. Martin ist ein Mutant! Wenn wir zusammen »zum Spaß« Skilaufen gehen, läuft er in der gleichen Zeit, in der ich versuche, meinen Söhnen auf einem gewöhnlichen Hügel hinterherzukommen, eine rote Skipiste hoch … Und wenn er im »Off-Modus« ist, fährt er sechs Stunden lang mit dem Rad durch die Berge und überquert dabei mehrere Pässe!

Besonders beeindruckend finde ich seine Konstanz. In meinem Sport muss man vier- oder fünfmal im Jahr auf Topniveau sein, doch Martin bestreitet an die dreißig Rennen jedes Jahr. Und oft ist es er, der am Ende die Arme nach oben reißt. Er läuft wie ein Kompressor!

Abgesehen von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit und seiner taktischen Intelligenz ist Martin aber auch ein engagierter Athlet mit einer außergewöhnlichen Neugier, Offenheit und Direktheit. Für die Kandidatur von Paris als Austragungsort der Olympischen wie der Paralympischen Spiele des Jahres 2024 hat er sich schon stark gemacht, als wir noch nicht einmal offiziell Kandidaten waren. Dann war er drei Jahre lang immer bereit, wenn man im Rahmen der Bewerbung seine Unterstützung brauchte – sogar zwischen den Weltmeisterschaftswettkämpfen –, bis Paris dann am 13. September 2017 das Rennen für 2024 machte.

Martin ist noch keine dreißig Jahre alt und hat die Geschichte des Biathlons schon sehr geprägt. Er ist eine Ausnahmeerscheinung, wie es sie nur selten gibt, und ein echtes Vorbild – nicht nur für meinen Sohn, sondern für Millionen Franzosen und Sportfans auf der ganzen Welt. Sein Traum von Olympia ist der Traum von vielen Millionen Menschen geworden. Das ist die Macht des Sports: die Inspiration zu weiteren Träumen von Gold und Schnee.

Für Manon und Inès, meine zwei großen Lieben.

Zum Auftakt: eine Erinnerung

Alles geht sehr schnell, nachdem ich die Ziellinie überquert habe. Ich habe gerade noch Zeit, Florent, meinen Physiotherapeuten, zu umarmen und meine Lebensgefährtin Hélène, die in Frankreich geblieben war, anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich sie liebe, bevor ich vom Protokoll verschluckt werde.

Von der Mixed Zone, wo ich live mit den verschiedenen Fernsehsendern spreche, werde ich zur Blumenzeremonie geschoben. Ich entdecke meine Eltern auf der Tribüne und winke ihnen zu. Ich würde sie gerne anfassen, um sicher zu sein, dass diese verrückte Situation tatsächlich echt ist, aber meine Verpflichtungen lassen das nicht zu. Ich gebe Cathy, der Pressesprecherin des Teams, den Blumenstrauß, damit sie ihn meiner Mutter überreicht, während ich zur Pressekonferenz eskortiert werde.

Bei den vielen Glückwünschen stelle ich fest, dass ein erfolgreicher Wettkampf sogar viel länger dauert als nur 15 Kilometer3. Nachdem ich mich den Fragen der Journalisten gestellt habe, stehe ich vor den Ärzten zum Dopingtest. Im Warteraum habe ich Zeit, auf mein Handy zu schauen. Eine Flut an Glückwünschen trifft ein. Nur zehn Minuten nach dem Rennen sind es schon mehr als 150 Nachrichten, und mein Telefon hört nicht auf, alle zwei Sekunden zu vibrieren!

Ich möchte auf jede einzelne antworten – was ich übrigens auch machen werde –, aber zu diesem Zeitpunkt bin ich schlicht überwältigt. Ich schreibe eine Nachricht an Thierry Dusserre, meinen Jugendtrainer, und danke ihm für seine Unterstützung, ohne die ich nicht so weit gekommen wäre, und eine weitere an Pascal Étienne, der mich letztes Jahr trainiert hat und aktuell gegen eine Krebserkrankung kämpft – diesen Kampf wird er nur wenige Tage später verlieren.

Endlich werde ich in den Untersuchungsraum gerufen. Die Stimmung hier ist seltsam, sehr misstrauisch scheint mir. Das hier ist weit entfernt von der Routine bei den Dopingtests während des Biathlon-Welt-Cups. Aber das gehört dazu. Nach der Blutentnahme muss ich nackt vor einem Unbekannten in einer Toilette, deren Wände, Boden und Decke aus Spiegeln bestehen, meinen Urin abgeben. Eine seltsame Erfahrung für einen 21-Jährigen, auch wenn ich nicht zu den schamhaftesten Naturen gehöre.

Nachdem ich zum fünften Mal die Nummer der wohl wichtigsten Probe meiner bisher kurzen Karriere überprüft habe, fahre ich in einem großen Geländewagen zurück ins Olympische Dorf in Whistler. Also nicht mehr im Bus – die ersten Annehmlichkeiten beginnen.

Doch auch dann ist der Zeitplan eng: Ich muss etwas essen, mich massieren lassen für die Regeneration und mich fertig machen für die Siegerehrung in der Stadt. Ich begegne einigen Athleten des französischen Teams. Wir können nur kurz sprechen, doch ich spüre, dass die mit einem Lächeln vorgetragenen Glückwünsche von Herzen kommen.

Es ist 18.00 Uhr, als ich zur »Medals Plaza« aufbreche. Ich bin aufgeregt und kann es kaum erwarten, endlich in den Händen zu halten, wovon alle sprechen seit dem Massenstart vor fünf Stunden.

Ich komme viel zu früh an dem Ort an, an dem die Zeremonie stattfindet. In einem Raum hinter der Bühne bin ich in Gesellschaft der anderen Medaillenträger des Tages. Das Protokoll des IOC ist so zuverlässig wie streng. Ein verspäteter oder nicht erscheinender Medaillengewinner wäre bei einer solchen Institution undenkbar.

Eingesunken in riesige Sofas nutzen wir diesen ersten ruhigen Moment des Tages, um etwas zu verschnaufen und uns gegenseitig zu gratulieren. Silvan Zurbriggen, der gerade die Bronzemedaille in der Super-Kombination gewonnen hat und wie ich Rossignol fährt, schüttelt mir die Hand. Ich erinnere mich noch daran, wie beeindruckt ich von der Größe seiner Hand war! Plötzlich komme ich mir sehr jung vor neben all diesen Sportlern, die schon mehrfach mit Medaillen gekrönt wurden.

Ich unterhalte mich lange mit Magdalena Neuner, die ich gerade erst kennengelernt habe. Sie gewann soeben ihre zweite Goldmedaille im Biathlon. Trotzdem wirkt sie ein bisschen schüchtern, aber sehr nett. Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich den amerikanischen Star Bode Miller, um ihn um ein Foto zu bitten, doch er steht etwas abseits, hat seine Kappe tief ins Gesicht gezogen und ist offenbar sehr mit seinem Smartphone beschäftigt.

Nach einer nicht enden wollenden Wartezeit ertönt schließlich die Olympische Hymne. Ich betrete die Bühne nach dem Slowaken und dem Russen, die mich auf das Podium begleiten. Ich sehe auf Anhieb die Franzosen und muss beim Anblick der wehenden blau-weiß- roten Fahnen lächeln. Ich brauche ein paar Sekunden, um einen Anhaltspunkt auf dieser Seite der Bühne, mit der ich noch nicht vertraut bin, zu finden. Endlich bekomme ich die Medaille. Meine Medaille.

Sie ist nur aus Silber, aber für mich ist sie die schönste überhaupt: wellig und eingraviert mit indigenen Stammesmotiven aus British-Columbia.

Es fällt mir schwer, mich von diesem wunderschönen Ding abzuwenden. Meine allererste echte Medaille …

Die Melodie der russischen Nationalhymne für den Olympiasieger Evgeny Ustyugov bringt mich zurück in die Gegenwart. Aus Respekt nehme ich meine Mütze ab und schaue zum französischen Team. Sie sind alle da: Stéphane Bouthiaux, mein Trainer, Siegfried Mazet, mein Schießtrainer, Christian Dumont, der Sportdirektor des französischen Verbandes, unsere vier Musketiere des Gleitens – die Techniker Gaël Gaillard, Christian Favre, Olivier Gonon und Greg Deschamps –, aber auch die Damentrainer Polo Giachino und Lionel Laurent. Links von den Athleten und den Offiziellen der französischen Delegation entdecke ich meine Mutter und meinen jüngeren Bruder Brice, meinen Onkel mit der Kamera in der Hand und meinen Vater, der irgendetwas mit seiner blau-weiß-roten Fahne verdeckt.

Simon, meinen vier Jahre älteren Bruder, durch den ich zum Biathlonsport gekommen bin und der wie ich zur französischen Nationalmannschaft der Olympischen Spiele in Vancouver gehört, sehe ich nicht. Aber ich weiß, dass er da ist.

Als er in Kanada ankam, hatte er einen Weltcup-Sieg in der Tasche und war überzeugt, dass er nun seine Karriere krönen werde. Doch dann lief er durch die olympischen Wettkämpfe wie ein Geist – weit, sehr weit entfernt von seinem üblichen Niveau. Er ist der Star des französischen Kaders – als ich ihn im Zielbereich umarmte, sagte ich zu ihm: »Eigentlich hättest du diese Medaille gewinnen sollen.« Ich halte weiter nach ihm Ausschau, und als ich ihn endlich entdecke, gefriert mir das Blut in den Adern. Da steht er, weinend. Versteckt hinter der Flagge meines Vaters.

Ich erlebe den schönsten Moment meines Lebens, während er den wohl schlimmsten durchmacht. Ich will nun nur noch eins – dieses Podest verlassen, um bei ihm zu sein. Mein Bruder ist verzweifelt, und das ist wichtiger als jedes olympische Podium.

Kapitel 1

Meine Geschwister

Wie könnte ich meine Familie nicht erwähnen, meine beiden Brüder Brice und Simon, wenn ich versuche, den Ursprung meines sportlichen Werdegangs zu analysieren? Alles führt mich in unsere Kindheit zurück, wenn ich daran denke, wie meine Leidenschaft für den Sport geweckt wurde.

Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass alles schon dort entschieden wurde: in dieser freien, glücklichen Kindheit, die uns unsere Eltern boten – mir und meinen Geschwistern Brice als Nesthäkchen und Simon als dem Erstgeborenen.

Mag sein, dass ich schon immer ein Wettkämpfer war – aber meine besondere Stellung in der Mitte meiner Geschwister wird auch ihren Teil dazu beigetragen haben.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich vor Simon zunächst Angst hatte. Mein großer Bruder war vier Jahre älter als ich, und wenn ich als Kind mit Brice raufte, dem Jüngsten, nahm er automatisch eine Verteidigungshaltung ein. Also musste ich auch ihn angreifen. Und das war etwas ganz anderes …

Das soll aber nicht heißen, dass wir in einem kampflustigen Klima aufwuchsen. Ganz im Gegenteil, meine Eltern, und insbesondere meine Mutter, hassten es, wenn wir Konflikte mit Fäusten statt mit Worten lösten. Trotzdem kam es häufig dazu, weil uns unsere Eltern auch sehr viel Freiraum ließen.

Meine Mutter ist Logopädin und mein Vater Bergführer. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, übernahmen sie ein sehr isoliert liegendes Ferienhaus, eine halbe Autostunde entfernt von Font-Romeu-Odeillo-Via, einer im Naturpark Pyrénées Catalanes gelegenen Gemeinde. »La Cassagne«, wie das Ferienhaus hieß, war ein wunderschönes Anwesen aus Stein, mit Scheunen und einem Stall, Gemeinschaftsräumen und großen Gästezimmern. Und das alles mitten in der Natur, 15 Kilometer entfernt von den nächsten Nachbarn.

Ein Freund meiner Eltern hatte Bienenstöcke in der Nähe aufgestellt und schenkte uns massenweise Honig, den Brice und ich an die Feriengäste verkauften. Es kam regelmäßig vor, dass wir allein waren, um diese in Empfang zu nehmen, bevor unsere Eltern zurückkamen. Wir übernahmen Verantwortung, waren selbstständig, frei. Glücklich. Meine Mutter kümmerte sich um den Obst- und Gemüsegarten, um die Zubereitung der Mahlzeiten und um die Gäste, nachdem sie ihre Sprechstunde in der Praxis in Saillagouse beendet hatte. Sie sorgte auch für die Verpflegung meines Vaters, wenn er mit einer von Packpferden begleiteten Wandergruppe auf eine einwöchige Tour ging.

Später als Teenager erlaubte mein Vater mir einige Male, ihn zu begleiten. Ich lief im Tempo der Erwachsenen, sechs oder sieben Stunden lang pro Tag, führte die Pferde und half mit, das Biwak aufzubauen. Ich liebte diese Momente und war stolz darauf, zu sehen, wie erstaunt die Erwachsenen über meine Ausdauer waren. Ich war der kleine Liebling, der kleine Star der Gruppe …

Unser Leben in La Cassagne kommt mir vor wie ein Traum. Brice und ich vertrieben uns die Zeit damit, auf einen riesigen Baum zu steigen: Wir stellten uns vor, dass er ein Raumschiff wäre. Wir standen uns sehr nahe. Jedes Jahr im Juni spielten wir unsere ganz eigene Version der »French Open« – als die beiden einzigen Spieler dieses Turniers, das wir auf einem unebenen Feldweg vor unserem Haus absolvierten.

Brice war jahrelang mein liebster Spielkamerad. Simon dagegen hatte sich schnell von uns gelöst und spielte lieber mit gleichaltrigen Freunden.

Auf dem Schulweg mussten wir eineinhalb Kilometer laufen bis zu der Straße, an der uns ein Kleinbus, der die kleinen Dörfchen abfuhr, einsammelte. Mein Vater hatte zusätzlich zu seinen Packpferden noch drei andalusische Rösser, die sonst im Schlachthof geendet wären, zu uns geholt. Sie waren wahrscheinlich noch nie geritten worden, aber Brice und ich wussten, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Es dauerte einige Zeit, bis meine Mutter verstanden hatte, dass es Pferdehaare waren, die sie auf unseren Hosen fand, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen. Wir ritten heimlich auf ihnen bis zur Straße, um nicht zu Fuß gehen zu müssen.

Unser Lebensstil hatte vielleicht ein bisschen was hippiemäßiges. Dazu gehörte ein Fernsehzimmer, das aber nur selten benutzt wurde – und nur nach eingehender Diskussion mit meiner Mutter über das Programm. Erlaubt waren zum Beispiel Tierfilme, am Sonntagnachmittag durften wir auch manchmal eine Zeichentrickserie sehen. Mama zog Gesellschaftsspiele dem Fernsehen vor. Und natürlich wollte ich auch beim Memory nur höchst ungern verlieren …

Obwohl meine Eltern mit dem Ferienhaus und ihren beruflichen Verpflichtungen sehr eingespannt waren, fanden sie immer mal wieder Zeit, um mit der ganzen Familie in Urlaub zu fahren. So kam es, dass wir den Sommer des Jahres 1996 in Québec verbrachten. Simon und ich erinnern uns besonders gut an diese Zeit, weil wir damals im Fernsehen die Olympischen Spiele in Atlanta ansehen durften – im Wohnzimmer der kanadischen Freunde meiner Eltern, die eine Bienenzucht in Saint-Laurent-de-l‘Île-d‘Orléans hatten. Meine Mutter behauptet, sie habe damals auf dem Sofa vor dem Fernseher in unseren Augen ein Funkeln gesehen, das wohl zur Initialzündung für unsere Sportbegeisterung wurde …

In einem anderen Sommer, ein paar Jahre früher, machte auf einer Fahrt ins Landeszentrum der Motor unseres Renault Express nach fünfzig Kilometern schlapp. Mein Vater beschloss deshalb, bei Argelès-sur-Mer ein Segelboot für einen Mittelmeertörn zu mieten. Einer meiner Cousins, der uns damals begleitete, hatte eine ungefähre Vorstellung und vielleicht auch ein paar Kenntnisse vom Segeln – aber das genügte meinem Vater, um sich mit uns aufs Schiff zu begeben. So war das immer: Nie schien er groß beunruhigt zu sein, immer hatte er scheinbar alles im Griff, auch wenn er sich selbst wohl tief im Innern eingestehen musste, dass es manchmal grenzwertig war, in welche Situationen uns seine Aktivitäten brachten. So erinnere mich daran, dass meine Brüder, mein Cousin und ich uns die Zeit im Beiboot vertrieben, während das Segelboot auf den Wellen trieb – bis ich ins Wasser geschleudert wurde, mitten auf dem offenen Meer …

Mag sein, dass sich die Zeiten geändert haben – damals erschien uns all das als ganz normal. (Tatsächlich würde ich heute nicht mal ein Zehntel der Aktivitäten, die uns damals zugemutet wurden, mit meinen Töchtern machen.)

Einmal reisten wir nach Marokko für eine Trekkingtour im Atlasgebirge, wo mein Vater bereits einige MTB-Touren für Kunden organisiert hatte. Die Schluchten, durch die wir gingen, waren überschwemmt, und unser lokaler Guide zeigte sich dementsprechend beunruhigt – doch mein Vater entgegnete ihm nur, dass er schon wisse, was er tue. Am Ende saßen wir in der Nähe des Dorfes unseres Guides fest, weit ab vom Schuss. Er lud uns zu sich für drei Tage ein, bis der Weg wieder frei war. Diese Zeit war für mich sehr beeindruckend. Die Leute im Dorf hatten fast nichts und schienen sich doch zu freuen, das Wenige mit uns zu teilen. Sie wollten ein Fest für uns veranstalten. Und so feierten wir: drei Tage lang. Beim Abschied habe ich einem Jungen, der kaum jünger war als ich, meine Kappe geschenkt. Noch heute sehe ich seine leuchtenden Augen vor mir. Er strahlte mich an, als hätte ich ihm mein Haus geschenkt. Das hat mich tief berührt. Ich muss damals etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, und ich habe diesen besonderen Moment nie vergessen.

Immer der Erste sein

Natürlich war Sport in diesen privilegierten Lebensbedingungen in den Bergen unsere Hauptbeschäftigung. Ski alpin, ausgedehnte Schneeschuhtouren oder Skilanglauf im Winter, Wandern, Fahrradfahren oder Laufen im Sommer. Mir kam es von Anfang an auf den Wettbewerb an: Egal mit welcher Art der Fortbewegung, ich musste immer als Erster auf dem Gipfel sein. Simon begann mit Eishockey – selbstverständlich habe ich es ihm nachgemacht. Zuvor hatte ich es auch bereits mit Judo versucht, aber nun wurde mir klar, dass Kontaktsportarten nichts für mich sind. Was das Eishockey betrifft, dürften auch die nicht unerheblichen Kosten eine Rolle dabei gespielt haben, dass wir diesen Sport bald wieder aufgaben. So entschieden wir uns für den Skilanglauf, der für unsere Familie sowieso etwas ganz Natürliches war. Im Skiclub bekamen wir es dann zunächst mit Trainern zu tun, denen der Spaß an der Bewegung in der freien Natur wichtiger war als das reine Techniktraining. Dennoch erkannte man schon in diesen ersten Anfängen, dass die drei Fourcade-Brüder nicht ganz unbegabt waren. In meinem Fall wurde auch schnell eine gewisse Vorliebe für den Wettkampf erkennbar …

Mein Ehrgeiz beschränkte sich nicht nur auf den Sport. Wenn ich eine gute Note aus der Schule mit nach Hause brachte, auf die ich stolz war, so war es mit Sicherheit die beste. Wenn ich nur der Zweitbeste war, war ich enttäuscht und zeigte dies auch.

Aber im Sport war es noch schlimmer. Im Collège von Font-Romeu, wo ich den Sportzweig besuchte, hatte ich hauptsächlich mit Kindern zu tun, die sich mit Leichtathletik beschäftigten, während ich beim Skilanglauf blieb. Was mich aber nicht daran hinderte, loszuheulen, wenn ich beim Schul-Crosslauf nicht gewann. (Zum Glück für mich geschah das aber nur ein einziges Mal – in der sechsten Klasse. Danach besetzte ich das oberste Treppchen des Siegerpodests bis zum Übertritt ins Gymnasium.)

Simon war bei all dem als großer Bruder perfekt. Mehr als einmal verteidigte er mich, wenn andere mich verprügeln wollten. (Sogar Thibaut, der später einer meiner besten Freunde wurde, wollte mich anfangs vermöbeln. Viele Jahre später gestand er Simon, dass er nur deshalb davon abgesehen hatte, weil er es nicht mit ihm zu tun bekommen wollte.)

Mit seinen Freunden hatte Simon sich für Biathlon entschieden, und ich folgte meinem großer Bruder auch darin. Zunächst von Weitem, auch wenn ihn dies ärgerte. Ich glaube, dass er sich damals noch selbst suchte. Er hatte die Reife, sich einer Aktivität mit vollem Einsatz zu widmen. Und er war umso mehr dazu entschlossen, alles für eine wirklich gute Leistung zu geben, als er die bittere Enttäuschung erlebte, sich anders als seine besten Freunde nicht für die französischen Meisterschaften qualifizieren zu können.

Ich war damals ein begabter Dilettant. Als solcher gehörte ich zum Team der Pyrénées-Orientales, das regelmäßig mit unseren Konkurrenten aus den Hautes-Pyrénées ins Trainingslager oder zu Wettkämpfen in die Alpen fuhr. Dort habe ich dann Hélène getroffen …

»Du wirst mich öfter im Fernsehen sehen als in echt …«

Wenn ich die Briefe lese, die wir uns damals schrieben, schäme ich mich fast ein wenig, so kindisch scheinen sie mir. Ein kleiner Junge war ich, als wir uns bei den französischen Clubmeisterschaften in den Alpen trafen. Ich muss damals erst elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, aber ich war nicht auf den Mund gefallen und hatte keinerlei Hemmungen. Hélène war ein Jahr älter als ich. Sie gefiel mir, und so fragte ich sie mit in unter der Tür durchgeschobenen Briefchen, ob sie mich küssen wolle. Erstaunlicherweise wollte sie nicht! – Ich glaube, sie hielt mich für einen ungehobelten Kerl, und damit hatte sie auch gar nicht unrecht.

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