Czytaj książkę: «Reine Nervensache»
Martin Arz
Max Pfeffer ermittelt wieder
Martin Arz, geboren 1963 in Würzburg, studierte Theaterwissenschaft, Völkerkunde und Kunsterziehung. Als freier Autor schrieb er für zahlreiche Magazine. Dann arbeitete er mehrere Jahre als PR-Berater für den weltgrößen Fast-Food-Konzern, bevor er sich ganz den Künsten widmete: der Malerei und dem Schreiben. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. »Reine Nervensache« ist der zweite Kriminalroman mit Max Pfeffer aus der Feder von Martin Arz. Im Januar 2004 erschien »Das geschenkte Mädchen«, der erste Pfeffer-Krimi, im September 2009 »Die Knochennäherin«, Pfeffers dritter Fall. Kriminalrat Pfeffer ermittelte außerdem im Frühjahr 2010 in Deutschlands erstem Twitter-Krimi »Der Tote vom Glockenbach«, der über Twitter publiziert wurde. Vor Max Pfeffer schickte Arz seinen abgebrühten Hobbydetektiv Felix in vier Kriminalromanen auf Verbrecherjagd. Arz lebt und arbeitet in München.
Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag als E-Books und in 3-D:
Das geschenkte Mädchen – Ein Fall für Max Pfeffer (2011)
Reine Nervensache – Max Pfeffer ermittelt wieder (2010)
Pechwinkel – Max Pfeffers 4. Fall (2011)
Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.
E-Book-Ausgabe, Juni 2012
Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design
© Hirschkäfer Verlag, München 2012
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-940839-25-1
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Inhalt
Intro
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
PS
intro
»Bist du bereit?«
»Was glaubst du?«
»Was ich glaube? Du fragst mich allen Ernstes, was ICH glaube?«
»Entschuldige. Das habe ich nicht so gemeint! Ich wollte nur …«
»Wozu machen wir das ganze, wenn du immer noch von Glauben redest? Untersteh dich, weiterhin deine beschränkten Sichtweisen auf mich zu projizieren. Von Glauben kann hier wohl nicht die Rede sein, findest du nicht auch?«
»Verzeih mir, ich wollte nur …«
»Findest du nicht auch?!«
»Natürlich. Verzeih, bitte, verzeih.«
»Gut, wenn du willst, werden wir uns noch ausführlich darüber unterhalten, was DU glaubst. Ich sehe Defizite, die manche erschüttern würden. Und entschuldige dich nicht immer. Ich verzeihe, das dürfte dir nur zu bekannt sein. Nun sag mir, ob du bereit bist.«
»Ja! Absolut!«
»Du musst nicht schreien. Ich höre alles, sogar deine Träume. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Du bist mein Werkzeug. Ich wünsche vorerst kein Fanal. Das muss klar sein. Nur einen kleinen, nun, nennen wir es Schlag auf den Hinterkopf, der ihr Denkvermögen anregt.«
01 Wenn man sie gefragt hätte, hätte sie klipp und klar »Nein« gesagt. Aber man hatte sie nicht gefragt. Dabei war ihr der junge Mann sofort mehr als komisch vorgekommen – was heißt komisch, gruselig, richtig eklig hatte er auf Nathalie gewirkt, als sie ihn an der Tankstelle das erste Mal wahrgenommen hatte.
Später, sehr viel später, als alles endlich vorbei und nichts mehr wie bisher war, sollte ihr die Szenerie und ihre »wahnsinnig negativen Vibes«, wie sie es dann auszudrücken pflegte, wieder einfallen.
Es war bereits kurz nach halb neun abends. Der Regen hatte nachgelassen, die gelben Neonlichter der Jet-Tankstelle spiegelten sich in den trüben Pfützen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde die Sonne es sogar noch einmal durch die Wolkendecke schaffen, bevor sie ganz unterging – sie schaffte es nicht. Der Himmel verdunkelte sich wieder mit schwarzen, tiefhängenden Gewitterwolken. Nathalie blickte durch das regennasse Seitenfenster des Minivans und bekam eine Gänsehaut. »Guck mal, der Typ da«, rief sie und gab Frank, der vor ihr auf dem Beifahrersitz lümmelte und eine Zigarette drehte, einen Schubs, woraufhin Frank mit einer unkoordinierten Bewegung gut die Hälfte der sorgsam auf dem Papier gestapelten Tabakkrümel im Wageninneren verteilte.
»Spinnst du?«, rief er und wischte sich Tabak von der Hose. »Mann, kannst mich doch nicht einfach so schubsen, wenn ich …«
»Sorry«, entgegnete Nathalie. »Aber guck dir doch mal den Typen da an!« Sie deutete auf den Mann, der mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und triefend vor Nässe an der Ausfahrt der Tankstelle stand. Unter den rechten Arm hatte er eine kleine Reisetasche geklemmt. Er musterte die wenigen Autos, die tankten. Obwohl Nathalie seine Augen nicht sehen konnte, lief ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht, dessen war sie sich ganz sicher. Intuition – mehr nicht, aber auch nicht weniger.
»Wenn ich einen richtig trashigen Splattermovie über einen durchgeknallten Massenmörder drehen würde, der Nachts mit einem abgehackten Kopf in der Reisetasche per Anhalter durch die Prärie gondelt und so scary-movie-mäßig weitermetzelt, dann würde ich den Typen da nehmen«, sagte sie. Und trashige Splatterfilme hatte sie mehr als genug gesehen, damals, als sie vierzehn war und mit dem unglaublich erwachsen wirkenden Markus gegangen war. Noch mehr als an Schockerfilmen war Markus allerdings an Nathalies Unschuld interessiert gewesen, doch das war dem Mädchen erst nach drei Wochen aufgefallen und sie hatte schnell die Konsequenzen gezogen, weil sie ihre Unschuld vorerst behalten wollte. Zuvor hatten sie sich nachmittagelang die schlechtesten Billigproduktionen reingezogen, hatten unzählige Köpfe in Großaufnahme und Zeitlupe rollen, kilometerweise Eingeweide aus aufgeschlitzten Bäuchen quellen und hektoliterweise Blut in alle Richtungen spritzen sehen. In fast der Hälfte dieser Filme hatte es einen wahnsinnigen Axtmörder gegeben, der dann mit abgetrennten Leichenteilen durch die Lande gezogen war. Und nicht selten waren diese Typen so gestylt gewesen wie der Kerl vorne an der Straße. Dunkle Regenjacke, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass man die Augen nicht sehen und das blasse, unrasierte Kinn nur erahnen konnte.
Frank sah kurz in die angegebene Richtung, rollte dann mit geübten Fingern das Zigarettenpapier um den Tabak und zuckte mit den Schultern. »Sonst gehts dir aber noch gut?!« Er tippte sich an die Stirn. »Du spinnst echt, Nathalie. Das ist nur irgendein armer Tramper, den es ordentlich geduscht hat beim letzten Gewitter.« Er befeuchtete vorsichtig die Gummierung des Papers mit der Zunge und vollendete seine Selbstgedrehte. Zufrieden sah er die Zigarette an, so zufrieden, als hätte er ein einzigartiges, wertvolles Kunstwerk geschaffen. Er öffnete die Wagentür und stieg aus. »Rauch draußen«, murmelte er überflüssigerweise und ging kurz zu Benni, der immer noch neben der Zapfsäule darauf wartete, dass der Van endlich vollgetankt war.
Die beiden Jungs tauschten ein paar Sätze aus, die Nathalie nicht hören konnte. Benni sah kurz in den Wagen hinein und als er Nathalies Blick bemerkte, warf er ihr einen kleinen Luftkuss zu. Dann grinste er. Das Mädchen musste lächeln, sie revanchierte sich mit einem hingehauchten Kuss. Frank war unterdessen vor zur Straße gegangen, wo er sich die Zigarette anzündete. Die Blicke des nassen Kapuzenmannes folgten ihm, wie Nathalie mit Argwohn bemerkte. Sie musste schließlich über sich selbst lachen. Ein echter wahnsinniger Axtmörder würde im wirklichen Leben sicherlich nicht als wandelndes Splattermovieklischee durch die Nacht reisen.
Frank schlenderte ein wenig an der Straße entlang, inhalierte bei jedem Zug an der Zigarette so tief, als sei es seine letzte. Dabei achtete er darauf, dass jede seiner Bewegungen möglichst lässig aussah. Standbein, Spielbein, Drehung nach rechts, dabei ein klein wenig den Rücken rund machen, gerade so viel, dass er keinen Buckel bekam, damit die mächtigen Brustmuskeln stärker unter dem engen T-Shirt hervortraten. Drehung nach links, dabei den Hintern anspannen, ein wenig recken, damit die Ärmel höher rutschten und die Ausläufer seines großen Tribals, das er sich von Bizepsansatz zu Bizepsansatz quer über die Schulter hatte tätowieren lassen, sichtbar wurden. Seine Eltern hatten angesichts dieser »Verstümmelung« tobend das Geld für den Führerschein gestrichen, doch Frank war lieber ohne Auto als ohne Tätowierung …
Seine sorgsam einstudierten Posen, die seinen Körper in jeder Sekunde optimal zur Geltung bringen sollten, gingen Nathalie auf die Nerven. Auch der Kapuzenmann machte nun ein paar kurze Schritte hin und her, dabei behielt er Frank fest im Visier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Frank den Blick erwiderte und freundlich lächelnd hinübernickte. Sofort kam der Kapuzenmann mit seiner kleinen Reisetasche zu Frank und sie begannen zu plaudern. Nathalie öffnete die Wagentür und beugte sich hinaus.
»Benni«, rief sie ihrem Freund zu, der eben den Zapfhahn zurück in die Halterung der Säule steckte und nach seinem Geldbeutel kramte. »Benni, hör mal bitte. Wenn Frank mit diesem Typen da ankommt … also, ich meine, den nehmen wir bitte nicht mit. Auf keinen Fall. Versprochen? Den finde ich nicht so prickelnd!«
»Hey, Süße.« Benni, der ihr nicht ganz folgen konnte, beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen herzhaften Kuss. Sein Dreitagebart, der ihm etwas so wahnsinnig Verwegenes gab, kitzelte an ihrer Oberlippe. »Wo brennts denn?«
»Frank hat da diesen komischen Tramper an der Backe.« Sie deutete hinter sich zur Straße hin. Benni hob den Kopf und spähte in die Richtung.
»So what?«
»Ich finde den Typen voll daneben! Bitte versprich mir …«
»Ich hab Jo gesagt, dass wir ihn bis Vierkirchen mitnehmen können!«, rief da Frank und näherte sich mit großen Schritten dem Van, den sich Benni von seinem Onkel für diesen Abend geliehen hatte, weil Bennis Golf in der Werkstatt war. »Ist doch kein Problem, oder!«
»Äh …«, Benni stockte und sah zu Nathalie hinunter, die ihm einen kurzen flehenden Blick aus ihren braunen Augen zuwarf. Dann musterte er seinen Kumpel Frank und den Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Der Tramper mochte Anfang zwanzig sein, sein Gesicht lag zwar im Schatten der Kopfbedeckung, doch selbst Nathalie konnte beim näheren Hinsehen keinerlei Spuren von Wahnsinn und Mordlust darin erkennen. Eher erinnerte er sie mit seiner seltsam ausdruckslosen Miene und den müden Augen an einen bedröppelten Hund. Nathalie strich sich eine Strähne ihrer naturblonden wilden Mähne aus dem Gesicht und lehnte sich mit einem Seufzer zurück.
Benni sagte: »Nö, ist kein Problem, oder Nathalie? Vierkirchen liegt ja fast auf der Strecke. Ich zahl nur noch schnell, dann kanns losgehen.«
»Ich möchte vorne sitzen«, sagte der Kapuzenmann, der nach Franks Angaben Jo hieß. Seine Stimme war dunkel und kratzig, aber angenehm. Ihr Klang machte bei Nathalie noch mehr an negativen Eindrücken wett als sein Hundeblick. Doch er sagte »ich möchte«, fordernd, befehlend, nicht »darf ich« oder »kann ich«, schon gar kein »bitte«. Nathalie überlegte, ob es auch den Jungs aufgefallen war. Wohl kaum. Sie war froh, dass Jo nun vorne saß und Frank neben ihr. Es beruhigte sie.
»Willst du deine Tasche nicht lieber hinten in den Kofferraum tun?«, fragte Frank, beugte sich vor und griff nach dem Gepäckstück, das Jo auf seinem Schoß hielt. Mit einem heftigen Ruck seines linken Arms verhinderte Jo, dass Frank die Taschenhenkel fassen konnte.
»Nein«, sagte er barsch und eine Spur zu aggressiv. Seine Stimme überschlug sich fast. »Hände weg von meiner Tasche!« Nach einer kurzen Pause hängte er noch ein halbherziges »Bitte« dran.
»Schon gut, Mann! Keine Folklore.« Frank lehnte sich zurück und grinste. »War ja nur ein Vorschlag. Hast wohl einen Goldschatz dabei?! Könntest aber wenigstens deine Kapuze abnehmen, nur so aus Höflichkeit.«
»Nein«, kam es erneut aggressiv von vorne.
Benni hatte endlich gezahlt und stieg wieder in den Wagen. Bevor er den Motor anließ, fiel sein Blick auf die schmutzige Reisetasche auf Jos Schoß. »Komm, ich tu die noch in den Kofferraum«, sagte Benni und hatte die Griffe schneller in der Hand, als Jo zunächst reagieren konnte.
»Nein!«, zischte Jo und schnappte seine Tasche. Eine kurze, absurde Rangelei um das durchnässte Gepäck entstand, bis Benni, verblüfft von Jos heftiger Reaktion, die Griffe losließ und »Mann, schon gut« sagte. »Anschnallen, es geht los.«
Auf der Fahrt, die sie zunächst auf der Bundesstraße Richtung Dachau führte, versuchte Frank ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Hast echt Glück, dass wir fast in dieselbe Richtung müssen, Jo. Wir sind auf dem Weg zu einem Kumpel, dessen Eltern haben sich in der Nähe von Weichs einen voll geilen alten Bauernhof gekauft. So richtig heimatfilmmäßig, das Teil. Von siebzehnhundertnochwas. Angeblich. So voll mit Holzverkleidung und fetten Geranien am Balkon und so. Na, dem seine Alten haben Kohle wie andere Leute Silberfischchen.« Frank lachte blöde.
Jo grunzte grimmig, die Bauernhöfe von Franks Freunden schienen ihn mäßig zu beeindrucken.
»So was kostet heute eine Menge. Noch dazu im Einzugsgebiet von München«, plapperte Frank munter weiter. »Da macht er heute eine Grillparty. Bestimmt voll cool. Party all night long und morgen wird die Schule geschwänzt. Aber Kacke, dass es ausgerechnet heute so ein Gewitter geben musste. Dabei war das bisher doch der absolute Hammersommer. Jeden Tag über dreißig Grad und kein Wölkchen am Himmel. Und das seit Mai, aber grad heute, wenn die Party steigt, muss es pissen. Na, hat ja zum Glück auch wieder aufgehört und es ist immer noch pisswarm draußen. Voll thailandmäßig. Warst du schon mal in Thailand?«
Mehr als ein Grunzen kam nicht vom Kapuzenmann.
»Und du?«, unternahm Frank einen erneuten Anlauf. »Was machst du so in Vierkirchen? Wohnst du da?«
»Hmmm«, antwortete Kapuzenjo unbestimmt.
»Jo. Was soll das eigentlich für ein Name sein?«, fragte Frank weiter. »Ist das eine Abkürzung für Josef? Joe oder Sepp war dir wohl zu prollig?«
»Stimmt«, sagte Jo kurz angebunden und sah aus dem Fenster.
»Mann, kapier doch endlich, dass dein neuer Freund nicht reden will. Lass ihn in Ruhe«, sagte Nathalie zu Frank, bevor der zu einer neuen Frage ausholen konnte. Ihre anfänglichen Bedenken gegen den Tramper hatten sich zerstreut. Obwohl ihr aufgefallen war, dass er unangenehm roch – nach Muff, nach nassem Hund. Sie war sich sicher, dass nur er diesen Geruch mit in den Wagen gebracht haben konnte, denn die drei Jugendlichen hatten sich für die bevorstehende Grillparty zurecht gemacht und eingeduftet. Frank neigte in fast allem zur Übertreibung, so auch beim Einsatz seines Lieblingsduftwassers Acqua di Giò. In einem völlig finsteren Raum voller Leute würde man Frank absolut zuverlässig herausriechen. Und Benni, mit dem Nathalie erst seit zwei Wochen ging, hatte heute das sündteure Vetiver von Etro aufgelegt. Sie liebte den Duft, er törnte sie an, besonders in Kombination mit Bennis Dreitagebart. Nicht mehr lange, und sie würde seinem Drängen nachgeben und ihm das schenken, was sie Splatterfilm-Markus verwehrt hatte. Sie wollte, dass Benni ihr erster war. Obwohl er manchmal ein Kotzbrocken sein konnte, wenn er es heraushängen ließ, dass seine Eltern mehr Geld hatten als ein durchschnittlicher Pubertierender Pickel.
»Nö, wieso?« Frank ließ sich nicht bremsen. »Wenns ihn stört, kann er es ja sagen! Gell, Jo? Und jetzt tu nicht so geheimnisvoll. Was …«
»Es stört«, unterbrach ihn der Kapuzenmann. »Ich sage, es stört, okay?! Nichts gegen dich und ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr mich mitnehmt, aber ich habe keine Lust zu reden, okay?« Er drehte sich kurz um und sah Nathalie mit seinem bedröppelten Hundeblick flehend an. Das Mädchen schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. Der Blick des Trampers wurde hart und kalt, er verzog den Mund zu einem kurzen fiesen Grinsen. So kurz, dass Nathalie sich nicht wirklich sicher war, ob sie es gesehen oder sich nur eingebildet hatte. Ihr fröstelte, nicht nur, weil die Klimaanlage des Wagens auf Hochtouren lief.
»Toll, bist ja eine richtige Stimmungskanone«, sagte Frank schmollend und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Das nächste Mal kannste an der Tanke verrecken.«
»Hey, Frankie. Lass mal gut sein!«, rief Benni seinen Freund zur Raison.
Es folgte ein Schweigen, das vom lauten Rauschen der Klimaanlage unterstrichen wurde und beinahe körperlich fühlbar war. Sie hatten Dachau hinter sich gelassen und fuhren weiter Richtung Ampermoching. Die Bundesstraße war schwach befahren um diese Uhrzeit. Nur gelegentlich durchschnitt der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos die Dunkelheit der Sommernacht. Bei der Abzweigung nach Biberbach sagte der Kapuzenmann plötzlich fordernd: »Hier links.«
»Links?«, fragte Benni, »Nach Biberbach? Hast du nicht was von Vierkirchen gesagt?«
»Ja. Es gibt nicht nur einen Weg dorthin. Wir fahren durch Biberbach und dann rechts.« Es dauerte wieder einen Moment, bis er ein »Bitte« hinzufügte.
Benni tat, wie ihm geheißen. Der Fremde wusste mit Sicherheit am besten, wo er hin wollte. Nachdem sie den kleinen Ort hinter sich gelassen hatten, führte die Straße durch einen Wald, der kein Ende zu nehmen schien und vor allem deshalb den Autoinsassen irgendwie gruselig vorkam, weil vereinzelt geisterhafte Nebelschwaden durch das Unterholz zogen. Doch es waren nicht die dichten Schwaden schottischer Hochmoore, die in alten Edgar-Wallace-Filmen baskervillsche Hunde ankündigten, sondern eher dampfiger Dunst wie nach einem Tropengewitter. Der Kapuzenmann fing aus heiterem Himmel zu kichern an.
»Was ist denn nun so witzig?«, fragte Frank.
»Nichts«, entgegnete Jo und kicherte weiter. »Voll gruselig hier, was? Halt da vorne mal kurz. Ich muss noch was abholen.«
»Hier?«, fragte Benni ungläubig und sah sich suchend um. »Mitten im Wald? Was willste denn hier abholen? Hier ist doch nix.«
»Da vorne«, wiederholte Jo knapp und deutete in die Dunkelheit, dabei tropfte etwas von seiner Hand auf das Armaturenbrett. Nathalie sah es genau.
Nach kurzer Fahrt tauchte im Licht der Scheinwerfer am Straßenrand inmitten einer winzigen Lichtung ein kleines Haus auf, hinter dem ein zarter Nebelschleier vorbeizog. Ein mannshoher Maschendrahtzaun umgab das Grundstück. Dunkle Kiefern drängten dicht an die Umzäunung heran.
»Dauert nur ein paar Minuten«, sagte Kapuzenjo. »Bin gleich wieder da.« Er öffnete die Beifahrertür und sprang hinaus. Er ließ die Tür offen stehen und lief leichtfüßig in die Dunkelheit. Schwül-heiße Luft strömte in den Van. Das letzte Gewitter hatte nur Feuchtigkeit, aber keine Abkühlung gebracht.
»Na, klasse!«, konstatierte Frank und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Typ hat wohl die Vollmeise. Und jetzt?«
»Wie und jetzt?«, fragte Benni und beugte sich über den Beifahrersitz, um die Tür zu schließen. Die Klimaanlage des Vans arbeitete nur dann gut, wenn keine Außenluft einströmte. »Nix und jetzt. Wir warten, bis der Typ wieder zurückkommt. Oh, er hat übrigens seine kostbare Reisetasche hier stehen gelassen.« Benni deutete auf das Gepäckstück, das auf dem Beifahrersitz stand.
»Da ist irgendwas auf das Armaturenbrett getropft«, sagte Nathalie leise. »Vorhin, als er auf das Haus gedeutet hat.«
Benni musterte das Armaturenbrett und fand einen dunklen Fleck. Vorsichtig stippte er mit dem Zeigefinger hinein und untersuchte den Finger im fahlen Licht der Wageninnenbeleuchtung. »Hmmm, zu dunkel für Wasser, würde ich meinen. Irgendein Saft oder Ketchup oder so.«
»Oder Blut«, entwich es Nathalie.
»Bist du schon wieder bei deinen Splatterphantasien?« Frank zog amüsiert die Augenbrauen hoch.
»Ach, vergiss es.« Nathalie winkte ab und sah in die Nacht hinaus. Ihr Magen rebellierte wie so oft, wenn sie Stress hatte oder etwas in der Luft lag, doch sie beschloss, sich keine Sorgen zu machen. Sie warteten schweigend. Die Minuten zogen langsam dahin, zäh und klebrig wie Sirup. Das Haus lag nach einer Viertelstunde immer noch im Dunkeln. Kein Licht, keine Anzeichen, dass jemand dort etwas abholte, geschweige denn eben hineingegangen war. Um sich nicht wieder in ein Axtmörderambiente hineinzusteigern, dachte Nathalie in die entgegengesetzte Richtung. Sie wies die Jungs darauf hin, dass dieser Jo das Haus offenbar gar nicht betreten hatte und fügte hinzu: »Der müsste doch längst zurück sein, oder? Da läuft irgendeine Verarsche. Dunkles Haus im Wald, gruseliger Tramper, die vergessene Tasche, das Blut oder was immer das sein soll auf dem Armaturenbrett – da verarscht uns einer. Ist hier irgendwo ’ne versteckte Kamera?« Sie sah sich suchend im Auto um.
»Wer soll uns denn verarschen?«, fragte Benni. »Quatsch. Der Typ ist vielleicht ausgerutscht auf dem feuchten Boden und liegt jetzt da draußen mit gebrochenem Genick oder so.«
»Gut, dann schauen wir nach«, sagte Nathalie und stieg aus dem Wagen. »Frankie, du kommst mit und Benni bleibt im Wagen, falls …«
»Falls was?«, fragte Frank provozierend.
»Nix.«
»Du meinst, falls es doch eine Falle sein sollte. Dann kann er wenigstens nicht alle von uns auf einen Schlag erwischen, oder?« Frank verdrehte die Augen und tippte sich an die Stirn.
»Penner! Kommst du nun mit?«
»Ich muss eh im Wagen bleiben, weil ich der einzige von uns bin, der einen Führerschein hat, logo, oder?«, sagte Benni. »Und wartet, mein Onkel hat immer Taschenlampen im Wagen. Für alle Fälle.« Er wühlte im Handschuhfach und holte zwei große Mag-Lites heraus. »Hier. Damit kann man im Zweifelsfall auch psychopathischen Mördern eins über die Birne ziehen.« Die beiden Jungs lachten. Es klang angestrengt.
Nathalie schnappte sich eine der Taschenlampen, strich sich den khakifarbenen Minirock zurecht und ging los Richtung Haus. Das Gartentor war nur angelehnt. Das Mädchen ließ den Lichtkegel ihrer Mag-Lite über die Hausfassade tanzen. Das Gebäude machte einen leicht heruntergekommenen Eindruck. Die Fassade schien schmutzig braun und von den geschlossenen Fensterläden löste sich in großen Flächen die alte grüne Farbe. Ein zweiter Lichtkegel gesellte sich zu ihrem. Frank hatte zu ihr aufgeschlossen. Gemeinsam betraten sie den Garten, den sie bei Sonnenlicht sicherlich als romantisch-verwildert bezeichnet hätten. Nun im Dunkeln schien er ihnen düster-verwahrlost.
»Hallo!«, rief Frank. »Hallo, Jo. Bist du da irgendwo?« Keine Antwort. »Falls du ausgerutscht bist und dir das Genick gebrochen hast, lass es uns wissen!«
»Sehr witzig«, meinte Nathalie. »Hier liegt jedenfalls niemand. Vielleicht sollten wir mal um das Haus herumgehen.« Sie stapften durch das nasse Gras, beleuchteten abwechselnd die Fassade des Hauses und die dunklen Kiefern hinter dem Garten mit den Taschenlampen. Keine Spur von Jo oder sonstwem. Als sie das Haus umrundet hatten, warf Nathalie einen kurzen Blick zurück zum Auto an der Straße. Benni hatte die Innenbeleuchtung angelassen und saß relaxt hinterm Steuer. Als hätte er ihren Blick bemerkt, winkte er kurz.
»Lass uns mal schauen, ob jemand zu Hause ist«, sagte Frank und schritt zur Eingangstür. Er rüttelte dramatisch am Knauf und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Nathalie um. »Hey, das gibts nicht!«
»Was?« Nathalie war sofort von seiner Erregung erfasst. »Ich wusste es doch, die Tür ist offen, oder?«
»Äh …« Frank entspannte seine Gesichtszüge und löste seine Hand von dem Knauf. »Nein, abgesperrt.«
»Depp«, rief Nathalie, wütend über sich selbst, dass sie auf Franks Spiel hereingefallen war. »Hinterm Haus war doch noch eine Tür, da können wir es ja auch noch versuchen.«
Sie gingen zur Hintertür, die offenbar von der Küche zu einer kleinen Terrasse führte. Auch hier rüttelte Frank dramatisch am Knauf, doch er konnte sein Spielchen nicht durchziehen. Denn wie erwartet und gleichzeitig befürchtet, ließ sich die Türe öffnen. Der Junge stand einige Sekunden unschlüssig vor dem Dunkel, das im Inneren des Hauses lauerte.
»Jetzt reicht es echt!« Nathalie trat neben Frank und packte seinen Oberarm. Frank lebte praktisch im Sportstudio, sofern es die Abiturvorbereitungen erlaubten. Zwar behauptete er immer, er trainiere so viel, weil die Mädels drauf stehen würden, doch in Wahrheit stand vor allem sein Ego auf einen durchtrainierten Körper. Seine harten Muskeln zu fühlen gab Nathalie zusätzliches Selbstvertrauen. »Hier läuft was ganz Schräges.«
Nathalie erinnerte sich an die zahllosen Horrorfilme, die sie gesehen hatte. Da gab es immer, selbst in den besser gemachten, eine klassische Sequenz, in der einer der jung-dynamischen, attraktiven Hauptdarsteller, meist die knackige Blondine, aus welchen Gründen auch immer ein gruseliges Gemäuer, alternativ dazu einen finsteren Keller, betreten musste. Ebenso üblicher- wie unlogischerweise stolperte die Blondine sinnlos »Hallo, hallo«-rufend in die Dunkelheit hinein, geradewegs dem Psychopathen mit der Kettensäge in die Arme, statt als allererstes einen Lichtschalter zu suchen, um die Lage besser überblicken und dem Killer vielleicht entkommen zu können. Nathalie tastete an der Wand entlang, fand schnell den Schalter und machte Licht. Die beiden Jugendlichen betraten zögernden Schrittes langsam das Haus.
»Hör zu«, sagte Nathalie bestimmt, »wir gehen schnell in jeden Raum und machen alle Lichter an, die wir finden. Alle! Erst dann schauen wir uns um.«
Frank hatte nichts dagegen. Schnell durchschritten sie die Küche, den engen Flur, das kleinen Wohnzimmer, das Schlafzimmer, ebenso Bad oder Toilette. Obwohl sie ihr Augenmerk auf Lichtschalter gerichtet hatten, war den beiden gleich aufgefallen, dass Jo oder wer immer hier wohnte, kein gutes Händchen für Inneneinrichtung hatte und vor allem öfter lüften sollte. Als sie sich genauer umsahen, entdeckten sie ein Chaos an zusammengewürfelten Sesseln mit speckigen Bezügen und Stühlen unterschiedlicher Epochen im Wohnzimmer, dem Wust aus Kissen, Kleidung, Decken und Undefinierbarem in allen Schlafzimmerecken, die fein säuberlich zusammengeschnürten Stapel von Zeitungen entlang der Badezimmerwände, die Pyramide aus milchigen Einmachgläsern, in denen Undefinierbares schwamm, in der Mitte der Küche, die grässlichen unmodernen Tapeten, die sich an zahllosen Stellen von den Wänden lösten, die Schimmelflecken in der Toilette, die von oben bis unten mit kitschigen Marienbildchen tapeziert war. Im Flur hingen an der einen Wand große Schwarzweißfotos von Unfallopfern, Großaufnahmen von entstellten, zerfleischten, malträtierten Gesichtern, die gegenüberliegende Wand war mit unzähligen Gekreuzigten übersät, Hunderte von gemarterten Christuskörpern aus Holz ohne Kruzifix. Im Schlafzimmer bemerkte Frank das Riesenposter, das genau dem Bett gegenüber an der Wand hing. Es zeigte die berühmte Szene aus dem Film Das Schweigen der Lämmer, in der die beiden Wachmänner, die den Kannibalen Hannibal Lector in seinem Hochsicherheitskäfig bewachen sollten, brutal ermordet wurden und in einer melodramatischen Inszenierung wie geschlachtete Engel an den Gitterstäben gefesselt hängen.
»Boah, wie widerlich«, rief Nathalie, die innerlich einen Kampf zwischen Schock, Ekel und Neugier ausfocht. Eben noch hatte die Neugier überwogen, nun hielten sich die Gefühle die Waage. Zum ersten Mal war Nathalie froh, dass Frank so ein Eau-de-Toilette-Junkie war, denn der Duft brachte etwas Vertrautes, Angenehmes in diese streng müffelnde Bruchbude. Franks zu riechen beruhigte sie mehr, als sie es sich selbst eingestehen konnte.
»Und guck mal hier.« Frank deutete auf den Nachttisch, dort lagen mehrere Rollen Küchenpapier. Dann zeigte er auf einen Haufen zerknüllter Küchentücher, die auf und neben dem Bett lagen. Mit spitzen Fingern hob er ein Knäuel auf. »Jede Wette, dass der sich einen auf das Bild da wichst. Muss der krank sein.«
Im Wohnzimmer fiel Nathalie ein riesiges Ölgemälde auf, das über einer verschrammten Anrichte hing. Das Bild war schlecht gemalt, doch der Dargestellte kam Nathalie bekannt vor.
»Das solltest du dir mal ansehen«, sagte Frank und lenkte Nathalie davon ab, was sie eben in der Zimmerecke erspähte: Dort lagen achtlos auf einen Haufen geworfen mehrere ramponierte Tierpräparate – Wiesel, Vögel und ein Fuchs. Nathalies Blick blieb sekundenlang an einer ausgestopften Hauskatze hängen.
Frank hielt ihr ein Album unter die Nase. »Das lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch da.« Sie blätterte darin herum. In dem Album klebten säuberlich ausgeschnitten und chronologisch sortiert zahllose Artikel über den Kannibalen von Rotenburg, der einst monatelang die Schlagzeilen beherrscht hatte. Der unscheinbare Mann hatte per Internet einen Kandidaten gesucht, der sich von ihm schlachten und verspeisen lassen wollte – und einen Berliner Ingenieur gefunden, dessen sehnlichster Wunsch es angeblich gewesen war, so zu sterben und gegessen zu werden. Hinter der romantischen Fassade eines Fachwerkhauses in einem kleinen hessischen Dorf war es dann zu der Tat gekommen. Der Mord war erst Jahre später aufgeflogen, als eine Sonderkommission der Polizei einschlägige Chatrooms observierte und dabei auf eine neue Suchanzeige des Kannibalen stieß.