Czytaj książkę: «Menschenfischer»
Über dieses Buch
Kurz vor Ostern wird der Volontär Patric spontan und unvorbereitet in ein Interview geschickt. Die Künstlerin Elisa Hain will die Hintergründe des Rosenmontagsanschlags aufdecken, der Wochen zuvor verübt wurde. Bei dem noch nicht identifizierten Todesopfer, so behauptet sie, handele es sich um ihre Nichte Susanne. Während die Künstlerin den bizarren Leidensweg ihrer Nichte beschreibt, führt sie den Volontär zu Orten, an denen sich Susannes Lebensgeschichte zugetragen haben soll.
Als Patric von dem Klub der Menschenfischer erfährt, einem skurrilen Geheimbund stadtbekannter Gestalten, wittert er einen Knüller. Doch bald kann er nicht mehr zwischen Schein und Sein unterscheiden.
Markus Veith
Menschenfischer
© 2014
Die handelnden Personen und ihre Schicksale sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt.
1. Auflage März 2014
©2014 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund
Verlag:
OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
Printed in Germany
ISBN 978-3-942672-24-5
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Inhaltsverzeichnis
Zitat
Ostern 2005
Gründonnerstag
Karfreitag
Karsamstag
Ostern 2006
Ostersonntag
Über den Autor
„Mache dir auf jeden Vers
deine eigene Melodie,
und auf jede Melodie
deinen eigenen Vers,
und lass sie
– wenn es geht –
andere singen.“
S. J. L.
Ostern 2005
Gründonnerstag
Damit hatte Patric nicht gerechnet. Und er hasste es, unvorbereitet zu sein.
Er war noch damit beschäftigt, die Artikel aus dem Archiv zu überfliegen, da erschien Elisa Hain bereits in der Redaktion. Bei der Begrüßung streifte sein Blick die Wanduhr: neun Uhr vierzig. Sie war zwanzig Minuten zu früh!
Aus den alten Reportagen wusste er immerhin, dass Frau Hain das Hans-Köppchen-Haus leitete. Von Beruf Sozialpädagogin, hatte sie sich nebenher einen nicht unbedeutenden Namen als bildende Künstlerin gemacht. Bei den Artikeln waren allerdings ausschließlich Fotos von den Werken der Künstlerin, nicht von ihr selbst. ‚Darauf hat sie bestanden‘, hatte ihm Britta erklärt, bevor sie zu einem Pressetermin musste. ‚Die Hain betont immer ausdrücklich, sie wolle ihre Kunst präsentieren, nicht sich selbst.‘
Patric verstand nicht viel von Kunst, aber ungeachtet dessen, dass er den tieferen Sinn dieser Werke – sofern es ihn gab – nicht begriff, hätte er keine ästhetischen Bedenken gehabt, sich eine Hain-Skulptur in die Wohnung zu stellen.
Er hatte schon befürchtet, sie sei eine aufgetakelte Fregatte, die ihn mit esoterisch-kreativen Impulsen zumüllt. Aber sein Klischeedenken hatte ihn in die Irre geleitet. Sie war überraschend jung, Mitte dreißig etwa. Rein äußerlich betrachtet hätte er sie durchaus als interessant bezeichnet, ohne es als Floskel zu meinen. Vor allem das resolute Auftreten der Künstlerin beeindruckte den jungen Mann. Sie hatte kurze, schwarze Locken und ein schmales Gesicht mit energischem Kinn. – Energisch. Ja, das Wort passte. Ihr Händedruck hatte sich wie eine Schnappfalle angefühlt. Ihre Bewegungen und ihre Kleidung, Jeans und Leder, wirkten maskulin, doch weder übertrieben noch aufgesetzt. Keine Handtasche oder Ähnliches. Das einzige, an ihr eher unschlüssig wirkende Accessoire war eine rote Nelke, die am Kragenaufschlag ihrer Lederjacke steckte. ‚Auch gewerkschaftlich aktiv, hm? Elisa dampft in allen Gassen‘, mutmaßte Patric. ‚Liebhabern fordert sie sicher ein hohes Maß an Selbstbewusstsein ab. Sofern sie Männer bevorzugt.‘
Als er die Frau in den Besprechungsraum führte, blieb sie im Türrahmen stehen. „Hier ist es ungemütlich“, äußerte sie nach einem Blick durch das nüchterne Zimmer. „No chance. Gehen wir woanders hin.“
Patric hob die Brauen, konnte aber nicht behaupten, dass ihm dieser offen und direkt geäußerte Wunsch (vielmehr Befehl) ungelegen kam. Sollte er sich, schlecht vorbereitet wie er war, vor der Dame blamieren, bekam es in der Redaktion wenigstens niemand mit.
„Unten an der Ecke ist ein Café, wo wir uns …“
„Great“, nickte die Künstlerin.
Sie ging voraus und hielt dem Jüngeren die Tür auf, während der noch seine Umhängetasche auf Vollständigkeit durchwühlte. Im Hausflur nahm sie die Treppe statt des von ihm bevorzugten Lifts. Patric vermerkte geistige Notizen: Wie die Riemann in den meisten ihrer Filme und anglizismenverliebt. Die Idee, sie in einem späteren Artikel zu gebrauchen, verwarf er schnell.
Draußen überließ sie ihm die Führung. Es war Gründonnerstag. Der Frühling hielt sich kühl zurück, als fände er Sonnenwärme noch nicht angebracht. Weiter oben pulsierte der Betrieb der Innenstadt, doch das Café Clochard befand sich in einer benachbarten Gasse und war um diese Tageszeit kaum besucht.
Elisa Hain wählte kurz entschlossen einen Tisch am Fenster. Die Lederjacke schwang sie über die Stuhllehne, setzte sich, kramte sofort eine Gauloises-Packung aus der Innentasche und öffnete sie. Etliche Zigaretten fehlten bereits, ein Feuerzeug steckte in der Lücke. Sie zog es heraus.
Patric nahm den Stuhl ihr gegenüber. „Kaffee?“
Das Feuerzeug verharrte in ihrer Hand, die Flamme vibrierte wie eine Fackel vor dem Zigarettenende. Die Künstlerin schien die Frage nicht gehört zu haben. Ihre Miene hatte sich plötzlich verfinstert.
Der junge Mann folgte ihrem Blick in die hinterste Ecke der Kneipe, wo außer den zwei Opas, die wie üblich Schach spielten, nichts Ungewöhnliches zu sehen war. Er wandte sich wieder ihr zu. „Frau Hain?“
Sie zuckte zusammen, sah verwirrt um sich, als habe er sie aus einem Tagtraum gerissen. „Ja?“
„Entschuldigung … Möchten Sie einen Kaffee?“
Sie nickte, entzündete endlich die Gauloises und unterdrückte ein Husten.
Patric orderte zwei Kaffee bei der Kellnerin. Dann begann er, in der Tasche nach seinem Aufnahmegerät zu kramen.
Als er vor vier Wochen sein Volontariat beim Westfälischen Kurier begonnen hatte, war sein MP3-Player den technikbegeisterteren Redaktionskollegen sofort aufgefallen. Das Gerät war nicht größer als zwei aneinandergelegte Finger, besaß eine Diktierfunktion und sogar Lautsprecher. Andere Mitarbeiter hatten Patric eher belächelt. Ihm war klar, dass bei Lokalreportagen Block und Stift voll ausreichten. Er hätte sich dieses zierliche Wunderwerk auch niemals selbst gekauft, aber seine Tante hatte es bei eBay ersteigert und ihrem Neffen zum Geburtstag geschenkt. Inklusive einer Handvoll USB-Stecker. Sie war der Meinung, ein guter Reporter müsse auch gut ausgerüstet sein. Patric seinerseits sah den größten Vorteil des Gerätes immer noch darin, unterwegs Musik hören zu können. Er hatte die Aufnahmefunktion des Players bisher erst ein Mal gebraucht, als er, am Morgen nach einer Fete noch ziemlich verkatert, in einer Pressekonferenz hatte sitzen müssen. Er stellte den kleinen technischen Gehilfen auf die Tischplatte. Als er die Aufnahmetaste drücken wollte, wurde seine Hand festgehalten.
„Warten Sie.“
„Worauf?“, fragte er irritiert.
„Wer sind diese beiden Männer da?“ Sie wies mit der Zigarette zu den Schach spielenden Opas. „Kennen Sie die?“
„Die? Och, die sind immer hier. Gehören quasi zum Inventar.“ Er schmunzelte. „Jedes Mal, wenn wir für Besprechungen oder Interviews herkommen, brüten die zwei über ihren Figuren. Kann mich nicht erinnern, mal ihre Stimmen gehört zu haben. Keine Ahnung, ob sie auch miteinander reden.“ Er neigte sich vor und sprach gedämpft weiter, wobei er belustigt gluckste: „Neulich äußerte ein Kollege den Verdacht, man habe das Clochard bestimmt um die beiden herum gebaut. Und ein anderer behauptete, jedes Mal, wenn er sie beobachte, gewinne der mit den weißen Figuren. Komisch, oder?“
Elisa Hain lächelte nicht einmal. Muskeln wölbten sich an ihrer Schläfe. Sie sog hektisch am Filter und musste erneut husten. Ihre bisherige Souveränität schien wie fortgewischt.
„Ist was nicht in Ordnung?“
„Doch, doch“, murmelte sie fahrig. „Wahrscheinlich …“ Der Satz versiegte. Schroff winkte sie ab.
Während die Kellnerin die Getränke brachte, wühlte Patric erneut in seiner Tasche. Diesmal nach Block und Kuli. Er wollte beides zusätzlich parat haben.
Dies war natürlich nicht sein erstes Interview. Schon vor seinem Volontariat hatte er als freier Mitarbeiter für den Kurier gearbeitet, doch war es ihm bisher gelungen, solche Termine nie völlig blind anzugehen. Die Order für dieses Treffen hier war ihm aber erst vor einer Stunde durch Britta vermittelt worden.
‚Bleib ruhig‘, hatte die erfahrenere Kollegin ihm geraten. ‚Die Hain ist keine Riesennummer. Sie ist bestenfalls lokalprominent. Sorry, aber Brechtmann sagt, du bist der Einzige, der momentan frei ist.‘ – ‚Ich kenne die Frau gar nicht. Nie von ihr gehört. Du darfst zu deiner Stadtratsitzung und mich hängt man in die Seile. Super!‘ – ‚Sieh es als Kaltstart-Praxis. Wirst’e hier noch häufiger erleben.‘
Britta war fünf Jahre älter als er und seine Ausbildungsredakteurin. Patric mochte die attraktive Reporterin sehr und glaubte auch bei ihr ein gewisses Interesse an ihm zu erkennen. Sie hatte ihm oft geholfen. Aber heute war auch ihr Terminkalender voll.
‚Schau mal im Archiv nach‘, hatte sie ihm noch eilig geraten. ‚Szporniak hat einiges über sie verfasst. Die Hain kümmert sich um die Jugendlichen in der Nordstadt. Brennpunkt-Kids und so. Wirkt ziemlich resolut. Macht manchmal auf exzentrisch, wenn es um ihre Kunst geht. Manfred meinte aber, das täuscht.‘ – ‚Du hast sie zumindest mal kennengelernt.‘ – ‚Ja. Aber nur flüchtig und am Telefon. Ich sag dir gleich: Die Gute kann ziemlich aufbrausen, wenn sie falsch zitiert worden ist. Schreib Hain bloß mit a-i!‘
Elisa Hain (‚mit a-i!‘) hatte sich wieder im Griff. Sie saß zurückgelehnt, rauchte und beobachtete ein wenig belustigt, wie der Volontär mit Block und Kuli und Tasche hantierte, bis endlich alles an seinem Platz war.
„Also gut.“ Unbehaglich rutschte Patric auf dem Stuhl hin und her. Er hatte sich vorgenommen, seine Karten auf den Tisch zu legen und seine Unwissenheit zuzugeben, selbst wenn dies unprofessionell wirken sollte. „Ich weiß, Sie sind der Redaktion durch Ihre Projekte bekannt. Unser Feuilletonist, Herr Szporniak, hat ja schon mehrmals über Sie geschrieben, aber … nun ja, er ist derzeit im Urlaub …“ Er ärgerte sich selbst über seine behutsame Formulierung. „Daher sitze ich jetzt mit Ihnen hier. Aber, und nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Frau Hain, ich …“
„Sie sitzen hier nicht, weil Sie Herrn Szporniak vertreten“, unterbrach ihn die Künstlerin und ließ zum ersten Mal so etwas wie ein dünnes Lächeln erkennen. „Ich habe explizit darum gebeten, dass Sie sich mit mir treffen.“
Patric war baff. Das hatte man ihm nicht gesagt. „Aber …“, er räusperte sich, „eigentlich ist Kultur nicht mein Ressort. Jedenfalls noch nicht. Was Sie machen, ist mir zwar bekannt, aber nur …“
Sie schüttelte den Kopf. „No problem. Was ich Ihnen erzählen werde, hat nichts mit einem meiner Projekte zu tun. Ich möchte Ihnen eine Geschichte anvertrauen. Und ich will mit Ihnen darüber sprechen, da ich weiß, dass Sie auch literarisch tätig sind.“
Der junge Mann sank gegen die Stuhllehne.
In der Tat hatte er Ende des vergangenen Jahres seinen ersten Roman veröffentlichen können. Das war durchaus bekannt. Erst vor einigen Wochen hatte es im Kurier gestanden (natürlich mit der Erwähnung, dass Patric Kolbe seit Jahren als Mitarbeiter der Redaktion tätig sei) und in der Stadtbibliothek hatte er bei einer offiziellen Buchpremiere einige Kapitel vorgelesen. Die Veranstaltung war recht gut besucht gewesen; schon möglich, dass die Hain unter den Zuhörenden gesessen hatte. Wollte sie ihm jetzt etwa …
Patric schob seinen Argwohn rasch beiseite. Nein, Elisa Hain dürfte es sich in ihrer Position kaum leisten können, ihm auf solch dubiose Weise eine Romanidee anzubieten.
„Sie wollen also gar nicht, dass ich einen Artikel schreibe?“
„Ob die Story als Artikel oder Roman oder überhaupt an die Öffentlichkeit kommt: Whatever, diese Entscheidung überlasse ich Ihnen.“ Die Künstlerin betrachtete die Glut ihrer Gauloises, als rede sie mit ihr. „Nun?“
Der Volontär atmete durch. „Worum geht es denn?“
Sie warf den beiden Schachspielern einen flüchtigen, deutlich ablehnenden Blick zu und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Was wissen Sie über den Rosenmontagsanschlag?“
Patric runzelte die Stirn. Dieser Vorfall lag schon fast sechs Wochen zurück und war landesweit durch die Presse gegangen. Damals hatte er sein Volontariat noch nicht begonnen, war nicht in der Stadt, sondern bei seinen Eltern im Sauerland gewesen, um seinen neuen Roman zu vollenden. Abseits des Karnevaltrubels. Er ärgerte sich immer noch darüber, dass etwas so Spektakuläres ausgerechnet dann geschehen war, als er woanders die Ruhe hatte genießen wollen. In Gedanken spulte er die Fakten ab, die er damals aus den Nachrichten gesaugt hatte:
Die Bombe war gegen fünfzehn Uhr an der Claaßenpassage detoniert. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Umzug sich jedoch bereits über die Wallstraße Richtung Friedensplatz bewegt. Die meisten Jecken, die für das Spektakel in die Innenstadt gepilgert waren, hatten sich also am anderen Ende der City aufgehalten. Trotzdem gab es ein Opfer: eine Frau. Zunächst war man davon ausgegangen, dass sie etwas mit dem Anschlag zu tun habe, aber dann hatten Spezialisten festgestellt, dass die Kofferbombe von jemand anderem gezündet worden sein musste.
„Soweit ich weiß, sind die Ermittlungen noch im Gange. Das Letzte, was die Kripo verlauten ließ, war, dass die Bombe vermutlich unkontrolliert und zu früh losgegangen sei, bevor die Täter sie irgendwo in der Menschenmenge platzieren konnten. Es dürften also kaum Profis am Werk gewesen sein. Oder es war nur eine Warnung. Meines Wissens hat sich bisher keine Organisation zu dem Anschlag bekannt.“ Er kicherte. „Vielleicht schämen die sich, weil es schief gelaufen ist. Aber diese Frau soll es übel zerrissen haben. Angeblich ist ihre Identität noch immer nicht sicher. Wird scheinbar von niemandem vermisst. Oder sie war eine Touristin, die niemandem erzählt hat, wo sie hinfährt und dann zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dumm gelaufen. Die Ecke an der Claaßenpassage sieht jedenfalls ziemlich ramponiert aus. Wenn man bedenkt, dass alles viel schlimmer hätte ausgehen können …“
Elisa Hain atmete scharf ein. „Meiner Meinung nach“, sagte sie gedehnt und drehte langsam die Tasse in ihrer Hand, „werden Vorfälle dieser Art nach zweifelhaftem Maß gewertet. Ich bin jedes Mal irritiert, wenn es heißt: Gott sei Dank, nur eine Tote.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch“, wandte Patric behutsam ein, „aber ich möchte ebenfalls behaupten, dass es glimpflich abgelaufen ist. Verhältnismäßig. Bedenkt man, dass sich zur selben Zeit auf dem Friedensplatz annähernd zweitausend Menschen aufhielten, eher noch mehr. Der Anschlag hätte auch gelingen können.“
Er bemerkte, wie Elisa Hain bei seinen Worten die Zähne zusammenbiss. „Und ich behaupte“, sagte sie, und ihre Stimme klang fest wie die eines Staatsanwalts während seines Plädoyers, „ich behaupte, dass das Attentat durchaus gelungen ist. Das Ziel war nicht der Rosenmontagszug. Die Bombe hat exakt die Person getötet, für die sie gedacht war.“
Der junge Mann starrte sie an. Eine Ahnung beschlich ihn. „Sie wissen, wer diese Unbekannte gewesen ist?“
„Sie hieß Susanne Nemus.“ Sie schluckte. „Meine Nichte.“
Patric schimpfte sich stumm einen Volltrottel.
„Ich nehme es Ihnen nicht übel“, fuhr die Künstlerin leise fort. „Bisher habe ich bei der Kriminalpolizei keine Aussage gemacht und bin noch unschlüssig, ob es nicht besser ist, es dabei zu belassen. Anyway: Ich weiß genau, dass es Susanne gewesen ist. Sie sollte zum Schweigen gebracht werden. Alles andere drum herum war nur Augenwischerei.“
Der Herzschlag des jungen Reporters wechselte in einen Spurt. Wenn das wahr sein sollte und sich beweisen ließe … Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, während seines Volontariats auf eine solche Sensation zu stoßen. Und er schätzte die Leiterin des Köppchen-Hauses nicht als Klatschtante ein, die irgendeinen Quatsch erzählte, um sich interessant zu machen. Innerlich jauchzend versprach er dem Gott des Journalismus ein Dankesopfer.
Doch ermahnte er sich zur Besonnenheit. Er bemühte sich, nicht zu zittern, als er das Aufnahmegerät einschaltete. „Also gut. Dann erzählen Sie mal.“
Sie zögerte, zündete sich eine neue Zigarette an. „Ich muss weit ausholen, fürchte ich. Es ist komplizierter, als Sie sich vorstellen.“
Patric sah, wie auch ihre Finger zitterten. Ihr Blick schien in der Luft nach Zeilen zu suchen, die sie ablesen konnte. Er kam auf den Gedanken, dass Elisa Hain ihre Geschichte nicht nur aufdecken‚ sondern sie vor allen Dingen jemandem erzählen wollte. ‚Um sie sich selbst zu erklären. Wenn sie schon zögert, zur Polizei zu gehen, kann es wirklich nicht leicht sein.‘
Die Künstlerin blies den Rauch empor. „Ich lernte Susanne auf der Bestattung meines Bruders – ihres Vaters – kennen …“
„Moment“, unterbrach der junge Mann sofort.
Frau Hain hob die Hand. „Ich weiß: Wieso kennenlernen, wenn wir verwandt gewesen sind. – Meine Beziehung zu Harald konnte man lange als … gereizt bezeichnen. Eine dumme Streiterei. Längst passé und hier nicht von Belang. Sie wissen vielleicht, wie sich so etwas hochschaukeln kann. Vor allem zwischen Geschwistern, die ein großer Altersunterschied trennt. – Jedenfalls hatte ich meine Nichte zuvor zehn Jahre nicht gesehen. Zuletzt siebenundachtzig, zu ihrer Kommunion. Da war Susanne neun. Ein ungemein hübsches Kind. Ich weiß noch, wie ihr früher oft gesagt wurde, dass sich später sicherlich erst die Jungs und dann die Männer um sie reißen würden. Ihre Augen … sie waren fantastisch. Wie zwei Bergseen: blau und geheimnisvoll, unergründlich. Aber zehn Jahre später …“ Ein missmutiger Laut entrang sich ihr. „Diese Entwicklung konnte nicht allein von Trauer herrühren. Ihre Eltern lebten bereits über acht Jahre getrennt und …“
„Stop, Moment!“, schaltete Patric sich erneut ein. „Bitte. Nicht durcheinander.“
„Okay.“ Sie nickte gefasst. „Susannes Eltern lebten seit neunundachtzig nicht mehr zusammen, haben sich aber nie scheiden lassen. Fragen Sie mich nicht nach Details. Ich habe mich erst wieder mit meinem Bruder versöhnt, als er nicht mehr bei seiner Familie wohnte. Dagmar und er vollführten eine Schlammschlacht, die an Scheußlichkeit kaum zu überbieten war. Vorwürfe, Ehebruch, die ganze Palette. Zuerst wurde Susanne monatelang hin und her geschoben wie eine Blumenvase, dann riss die Mutter sie schließlich an sich.“
„Es kam zu einem Prozess?“
„Ja.“ Sie strich ihre Zigarette am Aschenbecherrand ab, spitzte sie wie einen Bleistift an. „Zugegeben. Mein Bruder war kein Unschuldslamm; kann man nicht behaupten. Es gab Zeiten, da habe ich ihn ein Schwein geschimpft. Doch wenn ich heute daran denke, dass er schließlich mit Dagmar verheiratet war“, sie rollte mit den Augen, „dann kann ich seine frühere Lebensweise sogar nachvollziehen.“
„Susannes Mutter hat also die Vormundschaft erhalten?“
„Nicht nur das. Harald besaß eine florierende Spedition. Der Anwalt, der Dagmar im Prozess vertrat, war ein gerissenes Kerlchen. Er erstritt für sie das Haus am Weilerwäldchen. Vielleicht kennen Sie es: diese alte Villa in Weilersbach. Darüber hinaus erhielt sie gepfefferte Alimente und das Urteil berechtigte sie, Harald den Kontakt zu seiner Tochter zu untersagen. Really, dieser kleine Winkeladvokat muss wie ein Wirbelsturm prozessiert haben. Weiß der Kuckuck, wie er das hinbekommen hat. Und Dagmar hat diese Entscheidung rigoros ausgenutzt. Sie hat Susanne abgeschottet und ihr jeglichen Umgang mit der väterlichen Verwandtschaft verboten. Auch mit mir.“
Patric wollte den Überblick behalten. „Zur Zeit der Trennung … da war Susanne wie alt?“
„Elf. Der Prozess muss schrecklich für sie gewesen sein. Und die Folgen …“ Elisa Hain verharrte. Als sie zu heftig an der Zigarette sog, musste sie husten. „Es war falsch“, krächzte sie. „Es war einfach falsch.“ Sie räusperte sich, verzog dabei das Gesicht, als müsse sie einen Frosch verschlucken. „Ich glaube, Harald hatte einfach irgendwann die Schnauze voll von dieser Misere und wollte endlich seine Ruhe haben. Außerdem hatte er Karin kennengelernt. Eine sehr nette Person und nach diesem Debakel genau die richtige Frau für ihn. Bei ihr wurde er zahm und liebenswert wie ein Schoßhündchen. – Na ja, eher wie ein Bernhardiner. Bis zu seinem Tod lebte er mit ihr zusammen.“
„Wann ist Ihr Bruder gestorben?“
„Vor sieben Jahren. Siebenundneunzig. Krebs.“ Sie hatte die Zigarette ausgedrückt, rührte nun nachdenklich in ihrer Tasse. „Wissen Sie, ich habe mich niemals gern mit den Toten beschäftigt. Ich mache Kunst, um etwas zu erschaffen. Und ich arbeite mit Jugendlichen, um ihnen ein besseres Vorankommen zu ermöglichen. Mein ganzes Wirken ist Leben. Beerdigungen finde ich abscheulich. Ich muss immer daran denken, wie schmucklos der Sargdeckel auf der Seite des Verbrauchers ist. Aber ich wollte meine Nichte wiedersehen. Das war für mich der Grund, zu der Trauerfeier zu gehen.“
Patric wollte ihr sagen, dass sie sich vor ihm gewiss nicht rechtfertigen müsse, hielt es dann aber für besser, wieder auf die Geschichte einzulenken. „Susanne dürfte zu dem Zeitpunkt …“ Er kniff die Augen zusammen.
„Sie war neunzehn“, kam Elisa Hain ihm zuvor.
„Und war ihre Mutter auch bei der Beisetzung?“
„Sure. Schließlich war sie die Witwe.“ Sie sprach die Worte wie den Titel eines Theaterstückes aus. „Formell war dem leider nicht zu widersprechen. Ich unterstelle dieser Frau aber, dass sie nur kam, um Susanne im Auge zu behalten. – Es war beschämend: Jeder wusste genau, wie dreist damals die Unterhaltsforderungen aus Harald herausgewrungen worden waren, und ich vermute, der eigentliche Grund, weshalb sie ihr albernes Geschluchze ins Taschentuch heuchelte, war der, dass sie sich nicht sicher war, ob sie jetzt noch Anspruch auf Fortzahlungen hatte. Sein Vermögen erben konnte sie nämlich nicht. Dafür hatte Harald gesorgt. Und Karin … Ach, sie war zu höflich. Sie brachte es nicht fertig, Dagmar zu sagen, dass sie beim anschließenden Essen im Lokal nicht erwünscht sei. Aber vielleicht tat sie es Susanne zuliebe nicht.“
Ihr Mund verbog sich missmutig und ihr Blick verlor sich in der Fensteraussicht. „Auf der Straße hätte ich meine Nichte nicht wiedererkannt. Ich war entsetzt, was aus dem Mädchen geworden war. Impossible. Sie war so hübsch. Früher. Und ihre Augen“, sagte sie schwärmerisch, „diese Augen …“
„In welcher Weise hatte sie sich verändert?“
„Sie war … füllig geworden. – Nein. Nein, sie war fett“, verbesserte sie sich. „Richtig fett. Sie kennen den Unterschied; er gilt für Frauen wie für Männer: Es gibt Üppige oder Mollige, denen steht ihre Figur. Sie passt zu ihnen, solange sie offensiv mit ihren Pfunden umgehen. Und es gibt Fette, denen das einfach nicht gelingt. Die sich ungünstig kleiden und dadurch noch unförmiger aussehen. – Und Susanne … In ihrem schwarzen Schlabberlook sah sie aus wie ein Schlackehaufen. Ihre natürliche Schönheit war total verhunzt. Sie wirkte … unästhetisch.“ Elisa würgte das Wort förmlich aus. „Absolut inakzeptabel.“
‚Die typische Äußerung einer Künstlerin.‘ Patric verkniff sich ein Schmunzeln. „Sie sagten, Dagmar habe ihre Tochter im Auge behalten.“
„Ja. Solange sich das Mädchen im Saal aufhielt, ist ihr das gelungen.“ Die Frau lächelte spitzbübisch. „Aber sie auch auf die Toilette zu begleiten, ging wohl selbst ihr zu weit. Ich habe Susanne abgefangen und kam mit ihr ins Gespräch.“ Sie wurde wieder ernst. „Ich hatte mir gedacht, sie würde mich vielleicht nicht gleich erkennen. Schließlich waren seit ihrer Kommunion zehn Jahre vergangen. Aber ich war ihr völlig fremd. Wie jeder andere der Gäste auch. Susanne sagte, sie sei gekommen, weil ihre Mutter es für richtig gehalten habe, bei der Trauerfeier des Ehemannes dabei zu sein.“ Elisa Hains Redefluss wurde erneut von plötzlichem Grübeln gehemmt. „Sie sagte nicht meines Vaters. Sie sagte tatsächlich des Ehemannes.“
„Ihre Nichte und Sie sind sich dann aber wieder näher gekommen?“
„Wir sprachen nur etwa fünf Minuten miteinander. Das hat genügt, mir zu zeigen, dass Susanne dringend Hilfe benötigte. Sie sprach ganz eigenartig. Irgendwie … wimmernd. Mir schien es erst eine Art nervöser Tick zu sein.“
„Wimmernd?“
„Ja. Ihre Stimme vibrierte bei jedem Atemzug. Horrible. Wenn man ihr zuhörte, bekam man eine Gänsehaut. Ich bot ihr an, wir könnten uns mal verabreden und treffen. In Ruhe. Vor allem woanders, nicht auf einer Toilette. Sie sagte, ihre Mutter werde bestimmt etwas dagegen haben und ich merkte, wie unruhig sie wurde. Also gab ich ihr meine Telefonnummer. Schon am nächsten Tag hat sie angerufen. Dagmar sei unterwegs, sagte sie und … Es war seltsam: Ich hatte den Eindruck, mit einer Sechsjährigen zu reden, die ohne Erlaubnis der Mutter das Telefon benutzte. Dabei stand Susanne in einer Telefonzelle.“
„Haben Sie sich mit ihr getroffen?“
Elisa Hain nickte langsam. „Sie kam am Nachmittag darauf. Wieder ganz in Schwarz. Ich vermutete, dass sie diese Schlabbersachen immer trug.“
„War sie eine Art … Gothic?“, wollte Patric wissen.
Aber die Künstlerin verneinte. „Sie haben doch sicherlich auch Kleidungsstücke, die Sie nur an bestimmten Tagen tragen oder wenn Sie in besonderer Stimmung sind. Lieblingsklamotten.“
„Sie meinen einen Wohlfühlpullover?“ Er lachte leise. „Ja, so einen hab ich.“
„Sehen Sie. Ich auch. Welche Farbe hat Ihrer?“
„Blau. Ziemlich verwaschen.“
„Wie der Himmel.“ Sie lächelte sanft, sah ihn aber nicht an, schaute zum Fenster hinaus. „Sie sind ein Träumer. Kein Wunder, dass Sie Geschichten schreiben.“
Der junge Mann schluckte verlegen. ‚Bin ich ein Träumer?‘, fragte er sich. Es widerstrebte ihm, dem zuzustimmen. Er schrieb zwar Geschichten, aber er erfand sie nicht. Seine Erinnerung lieferte bisher genug Stoff. ‚Verträumter Realist vielleicht? Wie auch immer …‘ Er ließ sie weitererzählen.
„Susanne träumte auch. Aber anders. Sie sagte, wenn sie träume, dann davon, blind zu sein. Oder in einem Raum ohne Licht. Ihre Träume seien schwarz. Sie tappe durch Dunkelheit. – Können Sie sich das vorstellen?“
Ja, das konnte Patric. Und es passte ihm ganz und gar nicht, daran erinnert zu werden: ein hässliches Erlebnis seiner Jugend. Seitdem konnte er geschlossene und dunkle Räume nicht mehr ertragen. In Dunkel, seinem ersten Roman, hatte er darüber geschrieben.
„Schwer“, log er. „Was meinte sie damit? Und wieso erzählte sie Ihnen das?“
Frau Hain zuckte mit den Schultern. Sie hatte sich erneut eine Zigarette angezündet. „Ich habe mich für sie interessiert, mich bemüht, sie zu begreifen. Obwohl sie sich zunächst immer noch nicht an mich erinnern konnte, hatte ich offenbar ihr Vertrauen gewonnen. Jedenfalls kam Susanne in der folgenden Zeit häufiger zu mir. Ich habe sie nie zu einem Treffen gebeten, geschweige denn überredet, sondern ihr nur die Erlaubnis gegeben, sich jederzeit selbst einladen zu dürfen. Also kam sie immer dann, wenn Dagmar unterwegs war und von unseren Treffen nichts mitbekommen konnte. Ich war gerade erst umgezogen und wohnte nicht weit von Weilersbach entfernt. Susanne konnte zu Fuß gehen. Ich glaube nicht, dass meine werte Schwägerin meine neue Adresse kannte und je von diesen Treffen erfahren hat.“ Sie blies eine Qualmwolke wie eine Salve über den Tisch. „Das war auch gut so“, fügte sie grimmig an. „Wenn Susanne bei mir auf dem Wohnzimmersofa saß, hatte ich oft das Gefühl, eine verstopfte Schleuse gebe dem angestauten Druck nach und spüle sich endlich frei. Sie redete wie ein Wasserfall. Viel unzusammenhängendes Zeug, aber ich ließ sie reden, ohne sie zu unterbrechen oder viel zu hinterfragen. Ich spürte, es war nötig und nahm in Kauf, dass mich ihre Berichte zunächst verwirrten. Susanne schien anzunehmen, dass mir als Verwandten sämtliche Zusammenhänge klar sein müssten, automatisch, trotz der Entfremdung. Nach und nach versuchte ich, alles zusammenzureimen.“
Sie nahm die Kaffeetasse, trank aber nicht. „Meine Nichte war eine sehr stille Schülerin“, murmelte sie gedankenverloren. Die halbe Zigarette ragte zwischen ihren Fingern und umnebelte ihr Gesicht. „Schon vor der Trennung ihrer Eltern. Im Unterricht machte sie nur dann den Mund auf, wenn sie direkt gefragt wurde. Im Unterricht, wohlbemerkt. Vor oder nachher kümmerte sich niemand um sie. Erst recht nicht in den Pausen. Es sei denn, man suchte jemanden zum Hänseln oder Ärgern.“ Sie nahm einen Schluck. „Die Pubertät machte aus ihr einen Hefekloß, was die Sache nicht erleichtert haben dürfte. Wo keine Akzeptanz, da kein Respekt. So what? Wer spricht schon mit einer unansehnlichen Schülerin, die kaum was sagt, und wenn, dann nur rumwimmert?“ Wirsch stampfte sie die Kippe in den Aschenbecher. „Kein Mädchen schloss Freundschaft mit ihr. Und an einen Freund oder gar eine Liebesbeziehung war überhaupt nicht zu denken. – Die sechste und die achte Realschulklasse musste sie wiederholen, kam auf die Hauptschule und drehte in der neunten eine weitere Extrarunde. Als wir uns wiedertrafen, war sie gerade mit Ach und Krach fertig geworden. Mit ihrem Zeugnis hätte sie nirgendwo eine Chance gehabt. Es gab allerdings auch keine Ausbildung, zu der sie sich hatte entschließen können. Schlimmer noch: Ich bezweifle, dass sie für irgendeinen Beruf geeignet war.“