Czytaj książkę: «Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer»
Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer
Markus Maeder
Vom Herzchirurgen
zum Fernfahrer
Der Spurwechsel des Dr. med. Markus Studer
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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© Wörterseh, Lachen
Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
1. Auflage 2020
Die Originalausgabe erschien 2008 als
Hardcover mit Schutzumschlag
Lektorat: Claudia Bislin
Korrektorat: Andrea Leuthold
Fotos Bildteil: Matthias Just (Fotos von Markus Studer sind gekennzeichnet)
Foto Cover: Marcel Studer
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Karte: Sonja Schenk
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung
Lithografie: Tamedia Production Services
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel
ISBN 978-3-03763-316-8 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-005-1 (Originalausgabe, vergriffen)
ISBN 978-3-03763-518-6 (E-Book)
»Nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden.«
Marlon Brando
Inhalt
Vorspiel im Festsaal
Sonntagabend
Asphaltfresser
Montag
Lugano – Genua – Lugano
Lehrfahrt
Hobby und Beruf
Hafenromantik
Walo lädt ab
Torturen vor Tortona
Der Traum vom großen Geschirr
Dienstag
San Bernardino
Nur noch bergab
Warten
Trucker-Elend
Mittwoch/Donnerstag/Freitag
Hauseckenfahrten
Tanken
Kunstfehler
Die Metapher vom halb vollen Glas
Im Dschungel der Gesetze
Euroklassen, Lohndumping und Dieselabgaben
Wolfgang und die »Drei Eidgenossen«
Samstag/Sonntag
Kleine Autobiografie
Aufstieg nach Samedan
Knochenschlosser Noldi Huggler
Zeitmanagement
Christiaan Barnard und Ake Senning
Birmingham, Alabama
Das Herzzentrum Hirslanden
Ein Auto zur Belohnung
Mehr Power für eine Superzeit
Montag
Olten – Aachen
On the Road Again
Schlafapnoe
Rollen, plaudern
Downshifting. Paradigmenwechsel
Dienstag
Aachen – Amsterdam – Luxemburg
Fernweh
Seekrank
Filefrij
Steigungen, Neigungen
Windhaff
Mittwoch
Luxemburg – Gruyère
Plädoyer
Kleiner Zoll
Zwangspause
Donnerstag/Freitag
Gruyère – Eppelheim
La donna è mobile
Radio Googoo, Radio Gaga
Autobahn zurück in die Zukunft
Autohof
Das Nachwort
Vorspiel im Festsaal
»Zwanzig Jahre am Puls« stand auf der Einladungskarte. Es war ein herzlicher, würdiger Akt, mit dem der runde Geburtstag des Herzzentrums Hirslanden gefeiert wurde. Das Kongresszentrum Lake Side, direkt am See inmitten des größten Zürcher Parks, gab den gebührenden Rahmen ab. Damen und Herren in Kammgarn, Samt und Seide stießen in einem Frühlingsblumenmeer auf das Erreichte an. Es gab Champagner und Reden zum Thema Medizin im Spannungsfeld von Forschung, Qualität und Ökonomie. Jubiläen seien stets ein Anlass zu selbstbewusster Rückschau und Vorschau, erklärte der Leiter der renommierten Privatklinikgruppe: »Die Bilanzierung des Erreichten formt zusammen mit einem Blick zurück die Gegenwart und gibt die Gestaltung der Zukunft vor.« Wohin das bei jedem Einzelnen führt, ist das nicht eine der Fragen, die sich jeder mal stellt und selten gültig beantworten kann? Eine Frage, die sich einer der Feiernden einmal noch entschiedener als andere gestellt hat. Ohne dass der Name Markus Studer fiel, wandten sich die Blicke des großen Auditoriums verstohlen Richtung rechte vordere Mitte, wo ein stattlicher Herr aufrecht sitzend im dunklen Anzug die Beine übereinanderschlug.
Dann fasste der Redner die Daten und Fakten zusammen: »Kaum ein anderes Ereignis führt den erfolgreichen Werdegang und die heutige Präsenz des Herzzentrums Hirslanden so klar vor Augen wie dieses Jubiläum. Während zweier Dekaden vermochten die Gründer und deren Nachfolger die ursprüngliche Idee eines Kompetenzzentrums für Kardiologie und Herzchirurgie auf einer privatwirtschaftlichen Basis erfolgreich umzusetzen und dem Herzzentrum dank höchstem Engagement und persönlicher Hingabe ein eigenes Gesicht zu verleihen und den Erwartungen von Medizin, Wissenschaft, Betriebsökonomie und Humanität gleichermaßen gerecht zu werden. Heute, nach zwanzig Jahren, zeigt sich das Herzzentrum als führendes und hoch qualifiziertes Unternehmen von beinahe einzigartigem Rang, das insbesondere von Kompetenz und Persönlichkeit gekennzeichnet ist.«
Das Publikum ließ sich die Preisung der Leistung, zu der die meisten persönlich beigetragen hatten, nicht ungern gefallen. Powerpoint rückte eine Reihe von Kurven und Kuchendiagrammen in den Mittelpunkt des Geschehens. Die zugrunde liegenden Zahlen sprechen für sich. Innert kurzer Zeit war das Team der fünf Gründer auf über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Der Redner sagte: »So durften in den letzten zwanzig Jahren über 53 000 Patienten behandelt und 12 269 Herzoperationen, 32 012 Herzkatheteruntersuchungen, 11138 perkutane koronare Interventionen mit 6451 Stenteinlagen sowie 1633 Schrittmacherimplantationen durchgeführt werden.«
Es erging ein Dank an alle, ohne deren Einsatz und Unterstützung eine solche Leistung nie hätte erbracht werden können. Nicht zuletzt an die treuen zuweisenden und weiterbetreuenden Kollegen. Zuallererst indessen an die fünf Herren Doktoren Gründungspartner. Der Redner fuhr fort: »Zu ihnen zählt seit der ersten Stunde der Herzchirurg Markus Studer.« Ein Räuspern, Köpfedrehen und Sesselrutschen ging durch den Saal. »Markus Studer spielte eine entscheidende Rolle in der Embryonalzeit des Zentrums sowie als sein Leiter in den letzten fünf Jahren seiner Tätigkeit.« Auf ein Handzeichen erhob sich der Geehrte. »Seine Leistungen sind nicht hoch genug einzuschätzen. Leider hat er uns nach sechzehn sehr erfolgreichen Jahren verlassen.« Markus Studer schaute in die Runde und verneigte sich mit Schalk im Blick. »Er hat sich vor vier Jahren entschieden …« – und schon ging ein zustimmendes Lachen durchs Auditorium. Applaus dem Helden, der seinem Herzen folgte und seine eigenen Wege ging.
Sonntagabend
Asphaltfresser
»Ich weiß das Datum noch so gut wie meinen Geburtstag. Am 16. Februar 1987 eröffneten wir das erste integrale Herzzentrum in Europa: ein Meilenstein in meinem Leben. Wenn ich noch ein zweites Mal Geburtstag hatte, dann am Tag, als ich in meinen Sattelschlepper umstieg. Am 1. Mai 2003 bin ich Meilenfresser geworden.«
Markus Studer
Eine Fahrt vom Mittelmeer an die Nordsee ist kaum ein Ereignis, aber wenn vor dem Fenster ein Leben vorbeizieht, oder zwei, kann man doch einen Blick darauf werfen, besonders aus der höheren Warte eines Sattelschlepperfahrers. Das Geschirr, wie Markus Studer in nostalgischer Fuhrhalterseligkeit sagt, wartet an einem späten Sonntagabend im April in Lugano-Manno auf uns: hinter Maschendraht, zwischen weitläufigen Lagerhäusern und Siloanlagen im Dunkel des Neumonds. Nichts bewegt sich, auch nicht in der nahen BP-Tankstelle, nichts ist zu hören, es sei denn hie und da das einsame Zirpen früher Grillen. So sehen die Orte aus, an denen in Krimis Morde passieren.
»Markus Studer, Internationale Transporte« steht quer über dem Kühlergrill, Schneeweiß auf Blutrot. Der Chromstahl des Aufliegers ist auf Hochglanz poliert, das ist selbst im Dunkeln erkennbar. Markus sagt: »Unter uns Truckern sagt man sich du.« Ich bin gerührt, dass er mich gleich mit in seinen Kreis aufnimmt, und sage, auch ich heiße Markus. Schön. Dann schreitet er auf seinen Mercedes zu wie auf eine Geliebte, die er kurz zuvor verlassen hat und die wiederzusehen er kaum erwarten kann. Noch aus dem Schwung der Bewegung heraus tritt er mit dem Fuß gegen einen der Reifen, geht von Rad zu Rad, und weiter von Detail zu Detail, auf allen vier Seiten: »Man weiß nie, ob noch alles dran ist. Die Heckleuchten, die Spiegel. Der Reifen sah etwas platt aus von Weitem, aber es scheint nichts geklaut worden zu sein, alles okay.«
Weil er am Freitag noch im französischen Zentralmassiv unterwegs gewesen und dann abends um zehn an den Schweizer Ruhezeitbestimmungen hängen geblieben war, wie Unkraut in einem Rechen, musste Markus am Samstag per Bahn von Lugano heim nach Zürich fahren. Jetzt drückt er auf den elektronischen Schlüsselhalter. Die Geliebte, die nun mich neben ihm zu dulden hat, begrüßt uns mit einem Klicken und einem Blinzeln der geröteten Augen ihrer Blinklichtanlage. Augenblicklich ist das riesige, ruhende Wesen hellwach und heißt uns mit offenen Türen willkommen. Der Fußboden der Kabine liegt etwa auf Augenhöhe, und der Weg von draußen nach drinnen führt über eine senkrechte fünfsprossige Leiter. Der Türgriff liegt nur wenige Zentimeter über der Türschwelle, die liegt allerdings so hoch über dem Rad, dass ich mich zum Öffnen strecken muss wie ein Kind an der Haustür. Ich suche an der senkrechten Treppe Halt für Hände und Füße, irgendwie kriege ich im Dunkeln den Schlafsack aus der Tasche, schlüpfe aus den Hosen und hinein in die Pritsche, die mir so eng vorkommt wie ein Schuh.
Montag
Lugano – Genua – Lugano
Warum wir schon bei der ersten Dämmerung aufstehen müssen, begreife ich erst allmählich im Laufe der Woche. Das tückische Regelwerk, dem das Gewerbe der Fahrenden Genüge tun muss, verlangt es so, das weiß ich irgendwie aus den Medien. Aber warum Markus sich keine Privilegien gönnt, lässt sich nirgends nachlesen. Vier Jahre ist es her, seit er umsattelte, sich auf dem Höhepunkt seiner Medizinkarriere eine Zugmaschine kaufte und mit einem Auflieger kreuz und quer durch Europa zu ziehen begann. Warum? Auf mich wirkt es, als hätte er das schon immer gemacht. Während er auf der kleinen Stehfläche zwischen den Sitzen den Hosengurt festzurrt, werfe ich einen Blick auf die Szene rundum.
Das fast mediterrane Tessiner Morgenlicht verzaubert das Grau in Grau der Lagerhallen und Lastwagenparkplätze in eine Palette von Goldtönen und taucht die Kabine in den samtenen Glanz eines Thronsaals. Der König der Landstraße und ich sitzen auf luftgefederten, ergonomischen Sitzen. Wir haben Kühlschrank, Fernseher, alles ist da, sogar Gardinen zum Ziehen, wie es sich für ein richtiges Häuschen gehörte, bloß eine Toilette fehlt – was sich gegen Morgen unangenehm bemerkbar macht.
Als Markus in Jeans und T-Shirt mit einer Plastikflasche Mineralwasser aus der Kabine springt, über den ölverfleckten Asphalt geht, um sich bei Sonnenaufgang drüben am Rand zur Wiese beim Maschendraht die Zähne zu putzen, und seine große, schlanke Gestalt einen langen Schatten wirft, streift mich eine Ahnung: Da geht einer, der das Erbe von Lucky Luke, dem guten alten Lucky Luke, in sich trägt, Tag für Tag auf seinem Klepper zu einem fernen Glück jenseits des Horizonts unterwegs, stets erkennbar an jenem schmalen Strich zwischen Himmel und Erde und an einer Zigarette im Mund.
Markus kommt mit Walo vom Zähneputzen zurück. Walo fährt wie Markus flüssige Lebensmittel für die Firma Transfood, wie der Schriftzug auf dem Auflieger zeigt. Walo soll uns heute mit seinem Sattelschlepper nach Genua begleiten und wieder zurück nach Lugano-Manno. So heißt der Ort, wo wir jetzt stehen. Jetzt warten wir, bis das Sonnenblumenöl aus unseren Tanks in die Silos hier abgepumpt ist. Das kann noch etwas dauern, und jede Minute, die wir warten, ist für die Kasse der Fahrer verschenktes Geld.
»Kennst du Genua?«, fragt Markus Walo. Ich freue mich auf wertvolle touristische, kulinarische oder kulturelle Tipps eines alten Europakenners.
»Zweimal war ich dort«, sagt Walo auf irgendwie Süddeutsch, »das letzte Mal war prima. Morgens früh hier laden, weg, verzollen, abladen, und abends gegen sechs stand ich in Horn am Bodensee vor dem Tor.«
Markus steckt sich die erste Zigarette an.
»Du rauchst wieder?«, sagt Walo.
»Waldluft«, sagt Markus, »Dunhill mit Menthol.«
»Na gut, du bist der Doktor, du musst es wissen.« Walo dreht einen Gabelschlüssel zwischen den Fingern. »Reinigen musst du nicht in Mailand.«
»Wo denn?«
»Nirgends, wir laden ja in Genua wieder das gleiche unappetitliche Zeug, das wir hier abladen. Mit dem gleichen dicken Bodensatz.«
»Sonnenblumenöl roh«, sagt Markus, »Lebensmittel.«
»Na und, das kontrolliert in Genua kein Schwein.«
»Meinst du, wir schaffens auch heute Abend bis Horn?«
Nach einer alten Regel der Kino-Dramaturgie sind Dialoge nicht der Rede wert, es sei denn, unter dem Tisch brenne eine Zündschnur. Das fällt mir ein, als sich die beiden so wortkarg den Tag zurechtlegen. Und ich habe den Eindruck, da knistere etwas, aber ich weiß nicht, was. Wahrscheinlich höre ich die Zeit zerrinnen und das Einkommen zerfressen. Auf einer Betonwand steht in schwarzer Farbe gesprayt: »Hic leones sunt. A. C. Milan«.
Walo vibriert vor Morgenfrische. Er hat übers Wochenende ganz allein in seiner Kabine gewohnt, weil sich der Weg zu seinem Wohnort Singen und zurück nicht gelohnt hätte – und er scheint es genossen zu haben. Er holt eine massive Spiegelreflexkamera aus seinem Auto, dessen Auflieger noch länger ist als der unsere, und zeigt uns die Früchte seines Müßiggangs auf dem Display. Mit dem Makro hatte er Marienkäferchen, einen Feuersalamander und eine Hummel fotografiert, die sich so weit in eine Sumpfblüte verkriecht, dass nur noch ihr geringeltes Hinterteil aus den Staubblättern guckt. Nicht weit hinter dem Parkplatz hat Walo eine soooolche Forelle in einem Flüsschen entdeckt.
»Das ist der Ticino«, sagt Markus. Einen Augenblick lang stellen wir uns diese Forelle brutzelnd in der Bratpfanne vor. Markus schaut beiläufig auf die Uhr, tritt etwas unruhig von einem Fuß auf den andern und klappert mit dem Zündschlüssel. Wenn wir nicht in Genua oder auf dem Heimweg am Zoll in Chiasso stecken bleiben wollen, sollten wir bald aufbrechen. Aber noch sind die beiden Autos erst halb entladen. Sie stehen vor einem Silo und werden immer noch leer gepumpt. Mit dem Sonnenblumenöl fließen auch die Minuten dahin. Ich begreife, dass Fahren zwar die schönste, aber nicht die einzige Truckerpflicht ist. Um uns die Zeit bis zum Start totzuschlagen, gehen wir alle für Kaffee und Cornetti hinüber in die Tankstellenbar. Dort säuselt Roberta Flacks Stimme:
Strumming my pain with his fingers, Singing my life with his words, Killing me softly with his song, Telling my whole life …
Der Charme des Girls an der Bar verpufft wirkungslos an ein paar Latzhosen-Männern, die schlapp und ausdruckslos über der »Gazzetta dello Sport« hängen. Danach hämmerte It’s a Man’s World in den Montagmorgen, der so heraufschleicht wie ein Sattelschlepper an einer gröberen Steigung. Als die Tanks endlich leer sind, ist in den Kaffeebechern schon lang nichts mehr drin. Markus knistert vor Energie. Von Weitem klickt er die Tür auf, um seine Geliebte zu wecken, und schwingt sich die fünf Tritte hoch Richtung Sitz. Noch bevor er ganz oben ist, greift er mit langem Arm um die Lenkkonsole herum, um dem Sekundenzeiger vorauszueilen und unverzüglich den Motor anzuschmeißen. Ein sattes Brummen steigt aus den Eingeweiden des Gefährts auf, während die Hydraulik unter unseren Thronen allmählich Druck aufbaut, sodass wir in einer Art Levitation sanft noch ein paar Zentimeter höher schweben. Und los gehts, hinter Walo her.
Lehrfahrt
»Schau, obs rechts gut ist«, sagt Markus. Bei der Ausfahrt aus dem Lagergelände kann er von seinem Platz aus die Einmündung rechts hinten nur schwer überblicken. Ich drücke auf den Scheibenknopf und strecke den Kopf aus dem Fenster. Die Straße ist übersichtlich und schnurgerade. Es ist »gut« fast bis zum Horizont. Dort flimmert etwas Chrom in der Sonne. Ich sage: »Rechts ist gut.« Bis Markus Gas gegeben, am Lenkrad gekurbelt und den Auflieger in unserem Rücken ganz um die Kurve gezogen hat, wartet das flimmernde Chrom in Form eines Opel-Kapitän-Oldtimers stehend darauf, wieder Fahrt aufzunehmen. So schnell steht man im Weg, wenn man so lang und langsam ist wie ein Sattelschlepper.
Von so hoch oben kommt mir alles ziemlich unwirklich vor, wie damals in den ersten Fahrstunden, mit zwanzig, als mir die Fahrzeuge mit ihrem Gewicht und ihrer Energie, die Scheiben und die Spiegel bloß virtuell vorhanden zu sein schienen. Ich hätte sie wie in den einfachen Computerspielen, die in den Spielsalons damals die Jumbo-Flipperkasten abzulösen begannen, ohne mit der Wimper zu zucken, rammen und umstoßen können, und wenn ich mein virtuelles Leben verwirkt hätte, für eine Scheidemünze von Neuem beginnen. Bloß vor den Lastwagen hatte ich damals etwas mehr Respekt. Jetzt, an Markus’ Seite, ändert sich die Perspektive, aus der Position der Stärke heraus haben die kleinen Fahrzeuge etwas Bedeutungsloses, Seelenloses, Vernachlässigbares an sich. So etwa könnten in vergangenen Zeiten die Ritter hoch zu Ross das gemeine Fußvolk eingeschätzt haben. Eine Dosis Sporen, und die Meute stob auseinander.
Drei Ampeln und eine Baustelle später habe ich mich ans Privileg der großen Übersicht gewöhnt. Der Rest ist Rollen. Leer, wie wir sind, rollen wir vorbei an gelangweilten Beamten durch den Personenwagenzoll in Chiasso, Richtung Italien, während sich die Beladenen von Norden wie von Süden her in kilometerlangen Kolonnen mühselig Richtung Schranke quälen.
Wir rollen durch die letzten Tunnels der Alpenverwerfungen und hinunter in die Poebene, wo sich der dichte Verkehr von der Schweiz her in die Breite der Autobahnen um Mailand ergießt. Von unserem Hochsitz aus kommt es mir vor, als ständen wir still und rollte die Erde unter uns weg. Links und rechts und vorne und hinten wimmeln die kleinen, lebendigeren Blechgeschöpfe um unsere Behäbigkeit herum, als wären wir ein Elefant. Schon bei leichtester Steigung scheinen wir noch größer, noch behäbiger zu werden: ein Mammut.
Von hinten und schräg oben betrachtet, wirken Personenwagen wie ein Schwarm von Insekten, die sich nach unergründlichen, immer wieder überraschenden Mustern bewegen. Jederzeit kann eines zu einem tödlichen Angriff ansetzen. Trucks folgen leichter erkennbaren Gesetzen. Rechte Spur, Einerkolonne, 89 km/h. Wenn einer nicht mithalten kann, setzen die schnelleren zum Elefantenrennen an. Es lebe die Steigung. Sie selektioniert. Asphaltfresser. Kilometermillionäre. Noch mal vier Jahre, und auch Markus wird zu ihnen gehören.
Natürlich ist die Fahrt ein Genuss. Der Thron mit allen Schikanen der Ergonomie, die göttliche Übersicht über das Gewimmel, ein Hochsitz, man fühlt sich als Jäger mit Lizenz, Radler, Fußgänger und anderes Niedrigwild straflos abschießen zu dürfen. Das alles führt zu einer Art Trance, die sich unter den wohligen Vibrationen des Motors in Gebiete des Körpers verteilt, die mit anderen Mitteln kaum zu erreichen sind.
Wir rollen weder schnell noch langsam, sondern am äußersten Limit. Achtzig ist gesetzlich erlaubt, doch kaum ein Trucker, der seinen rechten Fuß nicht schwer auf das Pedal abstützt und damit genau die 89 km/h erreicht, auf die jeder Vierzigtönner amtlich geeicht ist. So bummeln und brummeln die Elefanten unablässig in Einerkolonne hintereinander her, kreuz und quer durch Europa, und wenn einer doch etwas mehr mag, ein anderer auf 87 oder 88 blockiert ist, kommen die schier endlos scheinenden Elefantenrennen ins Rollen.
Das Gefühl, dem anderen überlegen zu sein, ist mit vierzig Tonnen Gold nicht aufzuwiegen.