Sturmgepeitscht

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Sturmgepeitscht
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Markus Kleinknecht

Sturmgepeitscht

Thriller


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thaut Images / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6946-6

PROLOG

AllesChecker98: Was geht?

SuperNiceFace: Hansemen.

Nur nicht erwischen lassen. Irgendwo da drüben hockte er hinter einem der Fenster und wartete auf sie; das Gewehr im Anschlag. Flach atmend presste sie sich gegen die Mauer. Die Backsteinwand des ehemaligen Kasernengebäudes strahlte noch die gespeicherte Hitze der Nachmittagsstunden ab, obwohl die Sonne bereits hinter den gegenüber liegenden Gebäuden verschwunden war. Früher hatten hier Soldaten gelebt und geschwitzt. Doch die Kaserne war schon lange verlassen. Einsam lag der Exerzierplatz da. Ausgestorben.

Die junge Frau, die sich nicht aus ihrem Versteck traute, war die Einzige, die hier noch schwitzte. Bis hierher war sie gerannt. Ihre hellbraune Haut glänzte. Von der gab es viel zu sehen. Außer Turnschuhen trug die Frau nur eine sehr kurze Sporthose und einen Sport-BH. Ihr zarter Körperbau, die dunklen Haare und die Gesichtszüge verrieten eine asiatische Herkunft.

Ein Stirnband sorgte dafür, dass ihr der Schweiß nicht in die Augen lief. Zugleich diente es als Halterung für eine kleine Kamera, die aus der Perspektive der Frau alles aufzeichnete, was sie sah. Eine Actioncam. Äußerst robust und kompakt, aber mit hervorragender Bildqualität.

Es gab noch mehr Kameras. Überall verteilt auf dem Gelände. Keiner ihrer Schritte sollte unbeobachtet bleiben. Schließlich wollte man sehen, wie sie um ihr Leben rannte.

Die Frau blickte nach hinten. Umkehren war keine Option. Sie musste quer über den Exerzierplatz, um den Schutz der gegenüber liegenden Häuser zu erreichen. Nur dort würde sie sich in Sicherheit bringen können.

Ihre Augen suchten die Fensterfront ab. Wo steckte der Schütze? Wo hatte er sich versteckt?

Wirklich in einem der Gebäude? Damit würde er seinen Bewegungsradius freiwillig einschränken. Vielleicht lauerte er auch hinter einer Hausecke oder gar hinter dem Stamm einer der beiden großen Bäume, die links und rechts des großen Platzes standen. Von dort konnte er schießen und sein Ziel anschließend viel leichter verfolgen.

Die junge Frau hätte sich an seiner Stelle hinter einem der Bäume versteckt, um auf jemanden zu lauern. Aber hinter welchem? Links oder rechts?

Wenn sie mittig über den Platz lief, wäre sie von beiden Bäumen gleich weit weg, stellte aber immer noch ein sehr gutes Ziel dar. Entschied sie sich, möglichst dicht an einem der Bäume vorbeizulaufen, dann hätte sie die Entfernung zum anderen Baum fast verdoppelt. Das machte es dem Schützen schwieriger. Es sei denn, er hockte genau hinter diesem Baum und sie lief ihm somit direkt in die Schusslinie.

Die junge Frau hatte Angst vor einem direkten Treffer. Sie fürchtete sich vor dem Schmerz. Doch es blieb dabei: Sie musste über den freien Platz, und das Nachdenken machte es nicht besser.

Also rannte sie einfach los. Nicht wie ein Schwimmer, der vor dem Sprung ins Wasser noch einmal tief Luft holt. Dafür nahm sie sich keine Zeit mehr, nachdem die Entscheidung endlich gefallen war. Sie rannte quer über den ehemaligen Exerzierplatz, zuerst schnurgerade, dann abrupt einen Haken schlagend. Zwei Sidesteps, dann wieder geradeaus. Vielleicht schoss er ja daneben. Denn schießen würde er, so viel stand fest. Hier war ein hervorragender Ort für einen gezielten Schuss. Diese Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen.

1

Es klopfte an den Wohnwagen. Das musste der Verwalter des Campingplatzes sein, der alte Martens. Sonst wusste doch niemand, dass Jan Fischer auf Sylt war. Doch als Jan die Tür öffnete, stand ihm ein wahrhafter Hüne gegenüber. Der Mann trug einen wetterfesten Parka, der bis über den Hintern reichte. Eine grobe Leinenhose steckte in einem mächtigen Paar schwarzer Gummistiefel. Der Mann war mindestens zwei Meter groß. Um seinen gewaltigen Körper zu schützen, benötigte er sämtliche Kleidungsstücke in Super-XXL.

»Herr Fischer?«

»Ja.«

Die Hand, die ihm einen Dienstausweis der Polizei entgegenstreckte, verdiente ebenfalls eine XXL-Klassifizierung. Hauptkommissar Eggestein, stand neben dem Foto.

»Darf ich reinkommen?« Es klang wie eine Frage, war aber keine. Der hünenhafte Polizist hatte den Fuß bereits auf dem Tritt vor dem Wohnwagen und zwängte sich nun durch die schmale Türöffnung. Es war ein Wunder, dass sich der Wagen nicht auf die Seite neigte. Automatisch wich Jan zurück.

Mit seinen ein Meter 94 musste Jan im Camper schon immer aufpassen, sich nicht den Kopf zu stoßen. Hauptkommissar Eggestein aber streichelte mit den Haaren die Decke, egal, wo und wie er sich hinstellte.

Jan bemerkte, wie die Augen seines Gegenübers den Wagen absuchten, ohne dass er dabei übertrieben viele Kopfbewegungen machte.

»Gerade erst angekommen?«

»Wie man’s nimmt.«

»Was führt Sie her? Ist ja nicht gerade Campingsaison, was?«

Jan sah keinen Grund zu lügen.

»Ich suche jemanden.«

»Und wen?«

»Das wissen Sie doch vermutlich schon.«

»Ach ja?«

»Ganz offensichtlich. Jemand wird es Ihnen erzählt haben.«

Eggestein prüfte das Bett mit Blicken auf seine Stabilität. Dann setzte er sich ungefragt darauf, als wollte er zeigen, dass er es nicht eilig hatte. Seine Beine versperrten wie unabsichtlich den Weg zur Tür.

»Jemand hat es mir erzählt?«, wiederholte er Jans Feststellung.

»Ich habe kein Geheimnis draus gemacht, dass ich jemanden suche, und überall ein Foto herumgezeigt. Und von diesen Leuten hat es Ihnen jemand erzählt. Habe ich jetzt ein Problem?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Na ja, wenn der Ausweis echt ist, habe ich Besuch von der Polizei. Das muss ja einen Grund geben.«

»Zweifeln Sie daran, dass der Ausweis echt ist?«

»Nein.«

Eggestein atmete tief durch. »Zeigen Sie mir mal das Foto von der Frau, nach der Sie suchen!«

Jan tastete nach seinem Smartphone, dann fiel ihm ein, dass er es auf die Arbeitsfläche neben der Spüle gelegt hatte. Er entsperrte den Bildschirm, wählte die Fotogalerie und hielt seinem Besucher das Bild entgegen. Es zeigte eine junge Asiatin. Ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt, die Augen durch Kajal und Wimperntusche fast schwarz.

»Haben Sie Anna-Lena irgendwo gesehen?«

Eggestein erwiderte mit einer Gegenfrage. »Anna-Lena? Soso. Warum suchen Sie das Mädchen?«

»Für Freunde.«

Eggestein nickte langsam. »Sie hat ja kaum was an.«

»Die Aufnahme ist aus dem Sommer.«

»Und Sie suchen sie für Freunde?«

Jan wusste, dass er dabei war, in eine Falle zu tappen. Nun wurde ihm zum Verhängnis, dass er seine Geschichte während der Suche nach Anna-Lena geändert hatte. In einer Bäckerei und im Fischrestaurant Smutje hatte er etwas anderes erzählt als dem Taxifahrer am Bahnhof.

»Freunde der Familie«, versuchte er, es zurechtzubiegen.

»Freunde der Familie?«

Jan nickte.

»Hübsches Mädchen.«

»Ja.«

»Nicht ganz aus der Gegend.«

»Stimmt«, erwiderte Jan. »Sie kommt aus Hamburg.«

Natürlich wusste Jan, dass sich die Worte seines Gegenübers auf die asiatischen Gesichtszüge des Mädchens bezogen, doch er hatte keine Lust, darauf einzugehen.

Hauptkommissar Eggestein reichte das Smartphone zurück. Noch während Jan die Hand danach ausstreckte, meinte der Polizist: »Ich bin gekommen, weil wir unten am Strand ein totes Mädchen gefunden haben. Sie soll asiatisch aussehen. Thai, Japanerin, Vietnamesin. Irgend so was.«

Für einen Moment verharrte Jan in der Bewegung, und es wurde sehr still in dem engen Wohnwagen. Langsam steckte Jan das Smartphone in die Hosentasche. Er hatte das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, ohne zu wissen, was. Eggestein beobachtete Jans Reaktion ganz genau.

»Ehrlich gesagt, frage ich mich, Herr Fischer, wieso Sie sich hier auf diesem einsamen Campingplatz verstecken, obwohl das Wetter kein bisschen zum Campen geeignet ist. Warum nehmen Sie sich für Ihre Suche nicht ein schönes Hotel?«

»Ärztekongress«, antworte Jan knapp. »Kein Zimmer mehr frei.«

 

»Und wieso haben Sie keine Anmeldung ausgefüllt und bezahlen in bar?«

Vielleicht bluffte Eggestein, schoss einfach ins Blaue. Dass er das Anmeldebuch gesehen hatte, stand noch gar nicht fest. Martens war um diese Zeit vielleicht noch gar nicht da. Trotzdem ließ Jan sich darauf ein.

»Das … hat sich einfach so ergeben.«

»Verstehe«, meinte Eggestein. Dann deutete er mit dem Kopf zur schmalen Garderobe. »Schicke Jacke. Sieht teuer aus. Und neu. Mit Geld scheinen Sie also keine Probleme zu haben.«

Da kein Preisschild an der Jacke hing, vermutete Jan, dass Eggestein die Tragetasche entdeckt hatte, die ihm beim Kauf mitgegeben worden war.

»Schlussverkauf«, rechtfertigte Jan sich ungewollt. »Die war gar nicht so teuer. Und im Laden habe ich mit Karte bezahlt. Ich verwische keine Spuren. Darf ich Ihnen was zeigen?«

»Klar.«

»Es ist in der Jacke.«

»Ich bin gespannt.«

Jan trat zur Garderobe, während Eggestein ganz harmlos sagte: »Frage mich, was ein Drogenspürhund vom Zoll hier so anstellen würde. Ob er seinen Spaß in diesem Wohnwagen hätte?«

»Garantiert nicht«, erwiderte Jan, während er sein Portemonnaie aus der Innentasche der neuen Jacke holte, und seinen Presseausweis herauszog. »Ich suche das Mädchen für eine Story, an der ich dran bin.«

Der Presseausweis schien in Eggesteins Hand zu verschwinden. »Hm … hat sich was mit der Suche für Freunde, wie?« Eggestein grinste zufrieden. »Dann erzählen Sie mir mal von Ihrer Story.«

Jan nickte. »Das könnte ich. Aber erst, wenn ich die Tote selbst gesehen habe.«

»Sie wollen die Tote sehen?«

»Ganz genau.«

»Warum?«

»Weil es vielleicht gar nicht Anna-Lena ist. Und dann ergibt es keinen Sinn, dass wir über sie reden.«

»Hm …«, machte Eggestein noch einmal.

2

Hauptkommissar Eggestein fuhr die Hauptstraße entlang, vorbei an einem italienischen Restaurant und vorbei am Kultursaal, einem zweigeschossigen Gebäude mit vielen Sprossenfenstern, das zwischen den Gemeinden Wenningstedt-Braderup und Kampen lag. Hinter einer Bäckerei, bei der Jan am Vortag Anna-Lenas Foto gezeigt hatte, bog der Polizist rechts ab. Unweit von einem Abgang, der hinunter zum Meer führte, standen weitere Polizeiautos und ein Rettungswagen. Eggestein hielt neben den verlassenen Fahrzeugen. Eine ordentliche Brise schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Auto stiegen.

Der Polizist nickte Richtung Strandabgang.

Der Weg war erheblich kürzer als der Holzbohlensteg, der vom Campingplatz zum Wasser führte. Statt erst durch ein Stück Heidelandschaft zu führen, schnitt er sich mitten durch den südlichsten Teil eines kilometerlangen Kliffs. Teils mit Holzstufen versehen, wurde ein Höhenunterschied von mehr als 20 Metern überwunden.

Am Treppenende wandte sich Eggestein nach rechts. Jan sah bereits, wohin der Polizist wollte. 200 Meter Richtung Nordspitze der Insel standen einige Polizisten und Rettungssanitäter neben einem Geländewagen der Strandwache. Unmittelbar neben ihnen stieg eine rot schimmernde Wand auf. Das Fahrzeug parkte am Fuße des Roten Kliffs.

Der Geschiebelehm des Kliffs war das Werk einer über 100.000 Jahre zurückliegenden Eiszeit. Schuttmassen aus Gesteinsbrocken, Kalkstein, Lehm und Ton bildeten am Ende eines gewaltigen Gletschers den Kern der heutigen Insel. Ein steigender Meeresspiegel und die unermüdlichen Kräfte aus Wind und Wasser hatten an der Formation eine riesige Abbruchkante geschaffen. Zum Teil stieg diese Kante flach wie ein Sandberg auf einer Baustelle an, dann wieder stand man einer fast senkrecht aufstrebenden Wand gegenüber. Eisenhaltige Bestandteile ließen das Kliff buchstäblich rosten und machten es seit Jahrhunderten zu einer unfehlbaren roten Orientierungshilfe für Schiffsbesatzungen.

Das Wolkenloch, durch das vor einer halben Stunde noch die Sonne schien, hatte sich wieder geschlossen. Ein eisiger Wind zog über den Strand.

Die Herumstehenden sahen Jan und Eggestein kurz entgegen, dann wandten sich die Gesichter wieder ab. Jan folgte dem Kommissar an den Sanitätern vorbei. Plötzlich sah er den am Boden liegenden Körper.

Es war eine halbnackte Frau. Verdrehte Gliedmaßen ließen nur einen Schluss zu. Jan blickte an der Steilwand hinauf.

Er sah wieder zu der Frau. Sie war jung. Die Haare schwarz. Ihr Gesicht war scharf geschnitten wie bei einer Skulptur. Sie trug einen Sport-BH und eine kurze Sporthose. Auch wenn Jan sie nie persönlich getroffen hatte, war die Sache für ihn klar: Er hatte Anna-Lena gefunden.

3

Neben all den Uniformierten, die im Halbkreis um die tote Frau standen, waren Jan und Eggestein die einzigen in Zivil. Jan sah den verdrehten Körper an und dann wieder zum Polizisten.

»Ihre Füße sind blutig.«

»Könnte auch nur so aussehen und vom roten Lehm kommen«, erwiderte Eggestein.

»Nein. Die Füße sind aufgeschnitten. Das ist getrocknetes Blut.«

»Kann sein. Die Wand ist zum Teil scharfkantig. Aber ist es denn nun auch Ihr Mädchen?«

»Sie heißt Anna-Lena Thumsen«, meinte Jan. »Studentin. 21 Jahre alt. Studiert in Hamburg Betriebswirtschaftslehre. Viertes Semester.«

Eggestein nickte. »Das ist doch schon mal was.« Er blickte einen Kollegen an. Der zog einen Notizblock und begann mitzuschreiben.

»Und Sie sind sich sicher?«, fragte Eggestein mit einem Nicken in Richtung der Toten.

Jan ging auf die Knie, um das Gesicht der jungen Frau besser sehen zu können. Der Videoprint, der von einem im Internet kursierenden Film stammte, hatte ihn bis in ein Studentenwohnheim in Hamburg geführt. Zwischen Stadtpark und den Alsterkanälen gelegen, war es eine gute Wohnlage, auch wenn die Zimmer etwas klein geraten waren. Maria Fernandez, Anna-Lenas Zimmernachbarin, hatte Jan nach mehrfachem Klingeln in den Flur des vierten Stockwerks gelassen.

Da Frauen und Männer auf den Fluren des Wohnheims gemischt wohnten, war es kein Problem, dass sie Jan mit in den Gemeinschaftsraum nahm. Ein paar Sofas waren um einen niedrigen Tisch gruppiert. An der Wand hing ein großer Fernseher.

»Sie arbeitet viel, Geld fürs Studium. Aber sonst ist sie oft da auf dem Sofa«, sagte Maria mit spanischem Akzent. Sie hatte kastanienbraune Haare, war kaum größer als einen Meter 50 und schien selten zu lächeln. Obwohl es äußerlich keinerlei Übereinstimmungen gab, fühlte Jan sich an Charlotte erinnert.

»Hier, das ist sie!« Maria zeigte auf ein Gruppenfoto über dem Sofa, auf dem sich alle Bewohner des Flurs und deren Freunde und Freundinnen anlässlich einer Weihnachtsparty um eine Feuerzangenbowle geschart hatten. 14 Flurbewohner und sechs Freunde. Das ergab auf dem Bild ein ziemliches Gedränge. Trotzdem war Anna-Lena auf dem Foto gut zu erkennen. »Die da. Du hast sie leider verpasst. Sie ist gestern weggefahren.«

»Länger?«

»Vielleicht eine Woche? Ich weiß es nicht genau.«

»Auch nicht, wohin?«

»Was? – Ach, doch. Nach Sylt. Du kennst die Insel?«

»Klar.«

»Nordsee. Nicht Ostsee. Richtig? Ich kann mir das nie richtig merken.«

»Ja, Nordsee. Reist sie allein?«

»Nein. Bestimmt nicht. Die Männer mögen sie. Weißt du. Das ist ja auch nicht schwer. Aber sie mag auch die Männer.«

»Was heißt das?«

Maria sah Jan kurz an, drehte den Blick dann weg. »Gar nichts. Ich bin katholisch. Aber sie kann machen, was sie will.«

»Also lässt sie sich öfter mit Männern ein? Mit unterschiedlichen Männern?«

»Sie mag Männer. Das ist alles.«

»Und deshalb ist sie auch mit Männern nach Sylt gefahren.«

»Ich glaube schon.«

»Zwei Männer?«

»Ich glaube. Sie hat sich manchmal mit zwei Männern getroffen.«

Jan nickte. Marias Worte stimmten mit dem überein, was er bisher über Anna-Lena herausgefunden hatte. Es war ein Glücksfall, dass er in einem Restaurant in Uninähe gleich jemanden gefunden hatte, der das Mädchen vom Screenshot des Videos erkannt und ihm die Wohnheimadresse gegeben hatte. Anna-Lena jobbte in dem Laden als Bedienung. Viel bekam sie dafür vermutlich nicht bezahlt. Aber wenn sie bei den Gästen so gut ankam, wie es schien, stimmte vielleicht zumindest das Trinkgeld.

»Kann ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Jan die Spanierin. Aber Maria schüttelte den Kopf.

»Du hast keinen Ersatzschlüssel? Falls sie ihren mal verliert oder so?«

»Ich … Das geht nicht.«

Jan legte den Kopf schief. Ein passender Hinweis aus dem Zimmer hätte eine Suche auf Sylt erheblich erleichtert. Aber Maria ging selbst auf eine direkte Bitte, das Zimmer ansehen zu dürfen, nicht ein. Und da nicht gesagt war, ob er darin überhaupt etwas über Anna-Lenas Aufenthaltsort gefunden hätte, bedrängte er Maria nicht weiter.

Kurz entschlossen war er stattdessen noch am selben Tag nach Sylt gereist. Er rangierte seinen Wagen auf den Autozug, der mit seiner Fracht gemütlich über den Hindenburgdamm zuckelte. Am Bahnhof von Westerland setzte Jan seine Suche fort, indem er einigen Taxifahrern Anna-Lenas Foto zeigte. Es war Winter. Deshalb stellte er es sich nicht so schwierig vor, die hübsche Asiatin auf der Insel zu finden. Ein Irrtum.

Seine Suche hatte zu lange gedauert.

Die junge Frau, die mit zerschmetterten Knochen vor Jan auf dem Strand lag, war zweifellos Anna-Lena Thumsen. Jan musste an Maria Fernandez denken. Die Spanierin würde sehr bald erfahren, dass ihre Zimmernachbarin nicht mehr ins Wohnheim zurückkehrte. Stattdessen würde das Zimmer spätestens zum Ende des Semesters ausgeräumt und neu belegt werden.

Langsam richtete Jan sich wieder auf. »Ich würde sagen, sie ist es.«

»Würde ich auch«, meinte Eggestein. »Wie viele Asiatinnen laufen hier im Winter schon halbnackt rum? Darüber sollten wir uns übrigens mal näher unterhalten. Was meinen Sie?«

Jan wusste, dass er nicht darum herum kommen würde. »Vielleicht irgendwo, wo es wärmer ist?«

Kommissar Eggestein zuckte mit den Schultern. Ihm schien der Wind nichts auszumachen. »Meinetwegen. Bei Smutje sollten wir ein ruhiges Eckchen finden. Gleich oben auf dem Kliff. Oder ziehen Sie das Präsidium in Westerland vor?«

»Was wird aus ihr?«, wollte Jan wissen, ohne direkt zu antworten. Beide blickten die tote Frau an.

»Ein paar Kollegen passen auf, bis die Kriminaltechniker eintreffen. Wird eine Weile dauern. Die kommen aus Flensburg. Aber so ist das eben, wenn man auf einer Insel lebt.«

»Sie wird bewacht?«

»Natürlich. Sie glauben ja nicht, was den Leuten sonst alles einfallen würde. Seit es diese Smartphones gibt, drehen die komplett durch. Die fotografieren und filmen alles. Absolut alles.«

»Ich weiß«, entgegnete Jan.

»Außerdem müssen wir die Möwen auf Abstand halten. Das sind nämlich die Aasgeier der Meere.«

Jan erwiderte nichts.

»Im Ernst.« Eggestein runzelte die Stirn. »Verdammte Viecher. Hacken einem Schiffbrüchigen glatt die Augen aus, während der noch lebt. Was meinen Sie, was die mit der Kleinen anstellen würden …«

»Ich denke lieber nicht darüber nach«, entgegnete Jan.

Auf dem schmalen Weg, der vom Strand zurück aufs Kliff führte, begegneten die beiden ein paar Männern der freiwilligen Feuerwehr. Zwei Mann trugen einen Generator, andere die Bauteile eines Lichtmastes. Offenbar ging man davon aus, dass die Kriminaltechniker bis zur Dämmerung und darüber hinaus mit Anna-Lena beschäftigt sein würden.