Czytaj książkę: «Okertal-Atlantis»

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Okertal-Atlantis

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Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Die Autorin

Okertal-Atlantis

Marie Kastner

XOXO Verlag

Hinweis:

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diese Geschichte sind, abgesehen freilich von diversen Ortschaften im Harz und der 1956 tatsächlich erfolgten Flutung des früheren Dorfes Alt-Schulenberg, frei erfunden.

Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Personen und Vorgänge im Revierkommissariat Wernigerode und der Polizeiinspektion Goslar.

Eventuelle Ähnlichkeiten, lebende sowie verstorbene Menschen und auch deren Handlungen betreffend, sind von Autorin Marie Kastner keineswegs beabsichtigt. Sie wären gegebenenfalls rein zufällig.

Für im Text genannte Markennamen gilt: Es ist nicht die Absicht der Autorin, diese in einen negativen Kontext mit der Romanhandlung zu bringen.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-042-2

E-Book-ISBN: 978-3-96752-542-7

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung (Collage): Ulrich Guse,

Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa), Spanien

Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Umschlagüberarbeitung durch XOXO-Veralg

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Schweigen kann die grausamste Lüge sein

Zitat von Robert Louis Stevenson

Kapitel 1

Eine Leiche zur Unzeit

25. August 1954, Schulenberg im Okertal

Im Taleinschnitt der Oker wurde es ein wenig früher dunkel als anderswo im Harzvorland, was insbesondere für die Wintermonate galt. Selbst jetzt, im Hochsommer, versank die Sonne sehr zeitig hinter den steilen, dicht bewaldeten Hügeln.

Ein heißer, sonniger Sommertag neigte sich allmählich seinem Ende zu. Die Einwohner des Örtchens Schulenberg verschwanden nach getaner Arbeit in ihren Holzhäusern, um ihr bescheidenes Abendessen einzunehmen. Darin waren sie berechenbar.

Heute kam diese Regelmäßigkeit einem jungen Mann sehr zupass. Für sein makabres Vorhaben benötigte er den schützenden Mantel der hereinbrechenden Dämmerung.

Die etwa dreihundert Bewohner der Harzer Waldarbeitersiedlung waren ebenso neugierig wie alle Dörfler, denen wenig Abwechslung beschert war. Man führte hier ein hartes, aber hochanständiges Leben, stets am Rand des Existenzminimums. All das musste er ins Kalkül ziehen. Keinesfalls durfte er sich durch ungewöhnliche Handlungen verdächtig machen.

Er saß auf einer kleinen Anhöhe unter einem Apfelbaum, tat so, als würde er mit seinem Taschenmesser eine Figur schnitzen. Von hier aus hatte er das gesamte Kaff im Blick. Kleine Gemüsegärten und Felder, Häuser, geflochtene Zäune und ein munter gurgelndes Flüsschen nebst kleiner Brücke, über die die staubige Dorfstraße führte – mehr gab es hier nicht zu sehen.

Im dunstigen Hintergrund spannte sich die Weißwasserbrücke übers Tal. Sie war vor dem zweiten Weltkrieg fertiggestellt worden, noch bevor sämtliche Bauarbeiten am Staudamm für Jahre zum Erliegen gekommen waren. Dieses hochmoderne, kolossale Mega-Bauwerk fügte sich schlecht ins idyllische Landschaftsbild ein. Hiergegen wirkten die Häuschen von Schulenberg wie Spielzeuge von einer Modelleisenbahnanlage.

Er konnte einerseits die Aufregung der direkten Anwohner verstehen, die sich rund um dieses und weitere, derzeit noch in Planung befindliche Bauwerke entsponnen hatte; andererseits wollte er sich jedoch die Folgen des umstrittenen Großprojekts höchstpersönlich zunutze machen.

Das Dörfchen Unter-Schulenberg würde nicht mehr lange existieren, es musste in Kürze einem riesigen Stausee weichen. Dieser würde das Gesicht der Gegend zweifellos bis zur Unkenntlichkeit verändern und einige Täler unter sich begraben.

Seit anno 1912 die ersten Landvermesser angerückt waren und ein Verbot für die Errichtung neuer Häuser ausgesprochen hatten, harrten die meisten Einwohner in stoischem Trotz aus. Sie wussten zwar genau, dass ihre Tage in Schulenberg gezählt waren und auch, dass bereits neue Häuser auf dem Kleinen Wiesenberg auf sie warteten. Der Ort lag westlich von hier. Aber es fiel manchen Leuten einfach unglaublich schwer, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Sie wollten bis zum letzten Tag bleiben.

Das wusste er von seinem Vater, der beim Abendbrot über solche Dinge referierte. Sofern er ausnahmsweise nicht mit ihm oder, bei seiner Mutter, über ihn schimpfte, wohlgemerkt.

Der mittlerweile Neunzehnjährige trieb sich seit seiner Kindheit häufig hier herum, hatte gewissermaßen selbst eine Bindung zu diesem, dem sicheren Untergang geweihten Dorf. Er kannte die meisten Schulenberger namentlich. Es hatte früher eine wilde Horde Jungs gegeben, welche nach der Schule mit ihm, dem auswärtigen Lückenbüßer, Fußball gespielt hatten. Sie hatten ihn nur ›den Langen‹ genannt. Wirklich dazugehört hatte er nie.

Von denen lebten nur noch wenige hier, viele gingen woanders in eine Lehre. Im Gegensatz zu ihm, dem faulen Taugenichts.

Ja, er hatte hier eine Menge Spaß gehabt. Doch sein eindrucksvollstes Erlebnis in Schulenberg hatte dazu geführt, dass er heute ein letztes Mal herkommen und sein begonnenes Werk vollenden musste. Zusammen mit der Ortschaft würden in wenigen Tagen auch diese Spuren verschwinden. Gott sei Dank.

Immer wieder geriet ein bestimmtes Haus in der Ortsmitte in seinen Fokus. Ungefähr vier Tage noch, dann würden die Bagger anrücken und die Häuser und Ställe im Tal einfach abreißen, dazu im Laufe der nächsten Zeit so um die dreißigtausend Kubikmeter Wald abholzen. Kaum vorstellbar, dass dort, wo er jetzt gerade im hohen Gras saß, bald nur noch trübes Seewasser sein sollte. Eines Tages würden Forellen die Ruinen bevölkern.

Zum Glück war wenigstens seine eigene Familie nicht von der geplanten Flutung betroffen. Sie wohnte schon seit jeher im höhergelegenen Ortsteil Mittel-Schulenberg.

Endlich, nun schloss sich die quietschende Haustür auch hinter den drei Lohmüllers, die zum letzten Male ihre Johannisbeerensträucher abgeerntet hatten. Licht flammte in der Wohnstube auf. Die Luft war jetzt rein, das Dorf lag friedlich im Zwielicht. Man war hinter diesen Mauern vermutlich sentimental mit dem Verpacken der letzten Habseligkeiten beschäftigt.

Der junge Mann bewegte sich ungefähr fünfzehn Meter seitwärts, zog den mitgebrachten Spaten sowie ein Seil hinter einem streng riechenden Gebüsch hervor und hob am Hang, mit ausreichendem Abstand zu einer Gruppe halbhoher Fichten, eine tiefe und etwa zwei Meter lange Grube aus. Dann suchte er sich einen schweren Stein, schleppte ihn im Schweiße seines Angesichts an den Rand des Aushubs und knotete fest das Seil herum.

Er war fast am Ziel.

*

27. November 2018, Wernigerode

Kripobeamtin Marit Schmidbauer litt seit Tagen unter schlechter Laune. Im Augenblick fand sie aber auch alles zum Kotzen. Ihr angebeteter Chef weilte mit seiner Gattin in der Stadt der Liebe, und sie durfte hier im Büro die Stellung halten. Besonders ärgerlich, dass sie hieran auch noch selber schuld war, wieder mal die Fürsorgliche hatte spielen müssen. Sie hatte Bernd höchstpersönlich zu dieser Liebesreise geraten.

Flug erster Klasse, 4-Sterne-Hotel nahe Eiffelturm, ein Dinner für Zwei in einem schicken Edelrestaurant – wenn Julia darauf nicht anspringt, ist sie keine echte Frau, hatte sie ihm augenzwinkernd erklärt. Er hatte auf sie gehört, war nach dem Dienst ins Reisebüro gerannt und hatte die Buchungsbestätigung an eine langstielige rote Rose gebunden, diese seiner Angetrauten feierlich überreicht.

Lediglich in einem Punkt war er von Marits gut gemeinten Vorschlägen abgewichen. Er hatte leider keinen Wochenendtrip, sondern gleich zehn Übernachtungen in Paris gebucht. Seit zwei Tagen war er nun weg und sie vermisste ihn jetzt schon schmerzlich.

Scheiße!

Wütend auf sich selbst, holte Marit aus und feuerte einen Radiergummi in die Ecke. Der Gedanke, dass Bernd sich auf dieser Reise aufs Neue in seine chronisch unzufriedene Ehefrau verlieben könnte, machte sie total verrückt. Ja, sie war eifersüchtig und nochmals ja, er hatte sich vor zweieinhalb Jahren gegen sie und für Julia entschieden. Daran gab es partout nichts zu rütteln.

So sehr sie seitdem auch versuchte, sich mit dieser Gegebenheit endlich abzufinden und ihre romantischen Gefühle einzustampfen, es wollte ihr nach wie vor kaum gelingen. Ohne den männlichen Lichtblick Bernd wirkte dieses Büro düster, geradezu feindselig. Daran konnte nicht einmal ein Windlicht aus satiniertem Glas etwas ändern, das sie sich vorhin in der Mittagpause aus purem Frust zugelegt hatte. Die Kerze in zartem Türkis verströmte einen süßlichen Duft nach tropischen Blüten.

Sie zündete den Docht an, beobachtete, wie das Flämmchen immer höher zuckte und wie sich eine kleine Wachspfütze drum herum bildete. Eine passende Metapher fiel ihr ein. Wahrscheinlich war ihre unerfüllte Liebe mit dieser Flamme zu vergleichen. Solange sie Nahrung fand, würde das heimlich genährte Feuer der Leidenschaft wohl nie ganz verlöschen.

Ob sie sich besser in eine andere Dienststelle versetzen lassen sollte, weit entfernt von Wernigerode? Aber dies war ihre Heimat, sie war im Harz aufgewachsen und spürte eine starke Bindung. Außerdem lebten ihre Eltern hier und sie war deren einzige Tochter. Es hätte sich unfair angefühlt, sie ausgerechnet im Alter im Stich zu lassen, bloß weil sie unglücklich verliebt war.

Vielleicht bin ich einfach nur urlaubsreif, letztes Jahr habe ich höchstens einzelne freie Tage ergattern können. Es ist ja ziemlich viel auf mich eingestürmt, Zeit zum Durchatmen blieb mir kaum.

Im Frühjahr war Jablonski weg, den ich wochenlang vertreten musste, dann brannten die Wälder, anschließend flog Bernd nach Spanien und es tauchte der tote Ahlheim auf. Wahnsinn.

Und jetzt diese Paris-Reise von Bernd … wirklich, ich muss hier raus, jetzt bin ich mal dran. Am besten über Weihnachten und Silvester, dann erspare ich mir das alljährliche Familiendrama unterm Baum. Papa würde wieder mit hängendem Kopf dasitzen, seine Depression pflegen, und Mama wegen dieser melancholischen Stimmung gleich mit verrückt machen. Weil sie sich einbildet, sie müsse mir daheim mit aller Gewalt einen schönen, fröhlichen Weihnachtsabend bieten. Nee, danke.

Natürlich verstehe ich die beiden. Wenn jemand nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann und der Ehepartner deshalb auch keine Ansprache hat, passiert sowas eben. Manchmal denke ich, Mama vereinsamt an seiner Seite und ist mit der Pflege rund um die Uhr auf Dauer überfordert. Aber wirklich helfen kann ich eben leider auch nicht. Dafür sind sie beide zu stur, sinnierte die junge Beamtin niedergeschlagen.

Sie nahm seufzend ihren Blick von der Kerze, kramte in der obersten Schublade ihres Schreibtischs und förderte ein ramponiertes Smartphone zutage. Seit es ihr ein paarmal runtergefallen war, verzichtete sie lieber ganz darauf, es in Jacken- oder Hosentaschen herumzutragen.

Eine frisch eingegangene WhatsApp-Nachricht sprang ihr ins Auge. Von Bernd. Er hatte ihr ein Foto von sich und Julia vor dem Eiffelturm gepostet, welches sie umgehend löschte. Schönen Dank auch, jetzt ging es ihr erst richtig mies. Sie hätte lächelnd neben ihm stehen sollen, nicht diese Frau.

Was Julia anging, fielen ihre Gefühle ambivalent aus. Eigentlich mochte sie ja diese burschikose, unkomplizierte Filialleiterin eines Baumarkts, die selten ein Blatt vor den Mund nahm. Wäre diese Sache mit ihrem Traummann nicht gewesen …

Marit schüttelte den Gedanken ab, öffnete das Fenster, um die abgestandene Büroluft hinauszulassen und richtig durchzuatmen. Draußen herrschte das typische nasskalte Novemberwetter. Ein Grund mehr, von einem Urlaub unter Palmen zu träumen … oder in Bernds Armen, letzteres ihretwegen auch am Nordpol.

Sie googelte auf ihrem Telefon nach günstigen Pauschalreisen, brauchte Tapetenwechsel, und zwar sofort. Wollte irgendwohin, wo sie keinen Schnee sehen musste und man ohne Jacke vor die Türe gehen, sich eventuell sogar entspannt an einen Swimming-Pool legen konnte.

Die Webseite eines aggressiv werbenden Vergleichsportals sah schon mal vielversprechend aus, bot Hammerpreise für Ziele in der Türkei, Griechenland und Ägypten. Übernachtungen in Vier-Sterne-Hotels und Vollpension waren inklusive.

Genau sowas hatte sie sich vorgestellt.

»Na, du wirst mir doch nicht zur All-Inclusive-Touristin werden? Nichts kriegt die heimischen Restaurants an den schönsten Stränden dieser Welt schneller insolvent als Pauschalreisen. Bars, Restaurants, Cafés – kein Einheimischer macht mehr ausreichend Geschäft, wenn die Urlauber alle faul in ihren Hotelanlagen bleiben, sich dort drinnen rundum verwöhnen lassen«, kritisierte eine Stimme hinter ihrer linken Schulter. Sie gehörte zu ihrem Kollegen Steffen Beckert, der aus dem Nichts aufgetaucht war.

»Ich weiß, du Schlaumeier, aber was sollte ich sonst machen? Mein Kontostand reicht leider nicht für eine individuell geplante Weltreise. Ist ein wenig anders als bei dir, du Börsenspekulant«, gab sie schlagfertig zurück.

Beide lachten und Steffen setzte sich ihr gegenüber. Sie übertrieb nicht, er hatte sich in der letzten Zeit tatsächlich ein schönes Sümmchen mit Bitcoins dazuverdient. Dank seines ausgezeichneten Riechers hatte er die instabile Krypto-Währung rechtzeitig abgestoßen, bevor der Kurs ins Bodenlose gefallen war.

»Wenn dir nach Wärme zumute ist, könntest du zunächst mal das Fenster schließen. Du sitzt hier in einem verdammten Kühlschrank. Brrr, mir friert gleich was ab!«

»Besser erfroren als erstunken, wie der Bernd immer sagt.«

Er schüttelte resigniert den Kopf.

»Oh, Marit. Du und dein Bernd. Apropos … hoffentlich läuft es nicht wie beim letzten Mal und wir müssen ihm bei Dienstantritt eine nagelneue Leiche servieren. Zumindest wird ihm diesmal wahrscheinlich keine im Urlaub vor die Füße fallen«, witzelte der behördeneigene Schönling und strich sich eine semmelblonde Haarsträhne aus der Stirn.

Kaum hatte er seinen Satz beendet und gleichzeitig das offene Fenster geschlossen, klingelte schrill das Diensttelefon.

Marit erschrak, rollte vielsagend mit den Augen und griff widerwillig nach dem Hörer. Sie räusperte sich.

»Revierkommissariat Wernigerode … Schmidbauer am Apparat … oh, tatsächlich? Okay, wir sind gleich da. Wo genau wurde sie gefunden? … Ah, alles klar. Ich weiß, wo das ungefähr liegt. Geben Sie uns bitte zwanzig Minuten.«

Steffen stand der Mund offen, er wirkte verblüfft.

»Jetzt sag bloß noch, ich habe es verschrien und wir bekommen doch eine Leiche. Dann könntest du deinen Urlaub erstmal abhaken«, grummelte er in seinen goldglänzenden Dreitagebart.

»Schlimmer noch. Wir müssen den Wolters zum Tatort mitnehmen, hierauf besteht er neuerdings. Bei der unerträglich langen Dienstbesprechung vom letzten Dienstag hat er klargestellt, dass er sich ein Bild von unserer Arbeitsweise machen will, um einiges zu reformieren. Genauso drückte er es aus. Sei froh, dass du an diesem Tag nicht da warst. Mich hat das Theater genervt.«

»Der will uns auf die Finger schauen, Kindermädchen spielen? Hat er in seinem Chefbüro nichts Besseres zu tun?«

»Anscheinend nicht. Mal sehen, was er vorhat. Mir kommt er wesentlich weniger entspannt vor als zu Anfang. Was ist, fährst du mit? Dann könnte der Jablonski weiter eine ruhige Kugel im Innendienst schieben, der will eh nicht so gerne aus der Bude.«

»Geht klar«, nickte Beckert und ging seinen Parka aus dem Nebenzimmer holen, während sie behände in die wattierte Dienstjacke schlüpfte und anschließend den neuen Revierleiter aktivierte.

Fünf Minuten später eilten sie bereits zum Einsatzfahrzeug.

*

Zur selben Zeit in Paris …

Während seine Kollegen am Tatort in der Karlstraße, zusammen mit Rechtsmediziner Müller und der Spurensicherung, erstmal die Lage sondierten, trottete Bernd Mader neben seiner Ehefrau in Richtung Louvre. Julia hatte ihm für heute ein Kulturprogramm verordnet. Es fiel ihm außerordentlich schwer, Interesse zu heucheln. Museen fand er stinklangweilig, durfte sich das aber nicht anmerken lassen.

Julias größte Sorge schien zu sein, irgendetwas zu verpassen. Sie wollte konsequenterweise alles mitnehmen, von der Kathedrale Notre Dame über den hässlichen, aber weltberühmten Eisenturm bis hin zu Theatern und Straßencafés.

Er bereute längst, nicht auf Marit gehört zu haben. Zehn Tage volles Programm … ihm hätte dicke gereicht, jeden Tag auszuschlafen, gegen Mittag das Frühstücksbüfett des Hotels gründlich zu plündern, anschließend gemütlich in der Innenstadt und an der Seine spazieren zu gehen und es sich am Abend in einer der vielen Szenekneipen gutgehen zu lassen, mit einem alkoholischen Drink auf dem Tisch.

Doch da hatte er die Rechnung ohne seine Frau gemacht. Ihr war eher nach kostspieligen Gourmet-Dinnern zumute.

Noch sieben Tage bis zur Abreise … ihm taten jetzt schon die Füße weh. Mit Entspannung hatten diese Gewaltmärsche definitiv wenig zu tun. Außerdem lebte die Stadt offenbar nur von der Erinnerung an ihre Vergangenheit und von hineininterpretierter Romantik, gar nicht sein Ding. In seinen Augen war sie genauso laut, kriminell, abgasverseucht und überfüllt wie jede beliebige andere Großstadt. Zudem missfiel ihm die allgegenwärtige Touristenabzocke. Auch jetzt, in den letzten Novembertagen, schoben sich Menschenmassen aus aller Herren Länder durch die Stadt.

Der Himmel über Paris zeigte tristes Einheitsgrau, was teils an schlechter Luftqualität und teils am Wetter lag. Na immerhin, es regnete wenigstens nicht. Bernd Mader beschloss, sich aus dem Trip möglichst das Positive herauszufiltern.

Schon hatte Julia die nächste Attraktion entdeckt. Sie zückte das Smartphone und fotografierte wie eine Besessene. Alles gut und schön, aber weswegen musste er unbedingt immer mit aufs Bild? Über seinem Kopf prangte am Eingang zur U-Bahn ein Metallschild im Jugendstil. Metropolitain stand darauf in verschnörkelten Buchstaben zu lesen.

»Ich liebe Jugendstil, für mich gibt es einfach nichts Schöneres. Wir müssen unbedingt auch mal nach Wien und Prag, dort ist er ebenfalls weit verbreitet. Jetzt lächle doch bitte, Bernd! Du siehst auf meinen Fotos immer aus wie so ein miesepetriger Brummbär. Meine Kollegen und Kolleginnen von der Arbeit müssen ja glatt denken, ich hätte dich gegen deinen Willen hierher verschleppt«, beschwerte sie sich – und postete gleich die jüngsten Fotos ans Baumarkt-Büro.

Wohlgemerkt, normalerweise hasste sie es wie die Pest, wenn ihre Untergebenen während der Arbeitszeit ständig ihre Handys benutzten. Über diese Unsitte hatte sie sich nach Feierabend oft genug ausgelassen.

Und nun das.

Bernd hatte keinen Bock auf ehelichen Zwist. Also schob er gehorsam seine Mundwinkel nach oben und wurde alsbald zum Hauptmotiv einer Staffel weiterer Fotos, aufgenommen vor der Glaspyramide am Eingang zum Louvre.

*

In Wernigerode …

Der Tatort lag im ersten Stock eines zweistöckigen Mehrfamilienhauses an der Karlstraße – und diese wiederum befand sich in einer ruhigen, grünen Wohnsiedlung in Wernigerodes Südwesten. Vor der Haustüre standen ein Krankenwagen und das Auto des Rechtsmediziners Rainer Müller.

Die drei Neuankömmlinge bahnten sich ihren Weg durch eine Gruppe verstörter, höchst neugieriger Nachbarn, die sich leise im Treppenhaus unterhielten, und gelangten schließlich zur offenstehenden Wohnungstür im ersten Stock links.

Steffen Beckert und Marit Schmidbauer wollten, genauso wie immer, unverzüglich die Mordwohnung betreten und mit den anwesenden Fachkollegen über erste Erkenntnisse zum Tathergang reden, doch Thomas Wolters bremste beide abrupt aus, indem er sich mit ausgebreiteten Armen vor sie drängelte.

»Sie können da doch nicht einfach reinrennen und den Tatort kontaminieren!«, rügte er wichtigtuerisch.

Beckert hielt seine krasse Geste für einen Scherz und grinste.

»Schon klar. Und wie kommen wir jetzt rein, ohne Spuren zu hinterlassen? Fliegen wir einfach über den Boden, von oben bis unten verpackt in Ganzkörper-Kondome – oder was?«

»Lassen Sie gefälligst die Albernheiten! Kontaminierte Tatorte haben schon häufig zu Fehlschlüssen verleitet, was Sie sehr genau wissen sollten. Denken Sie dazu nur an den Mordfall der Peggy Knobloch, wo eine mit Trugspuren verunreinigte Messlatte der thüringischen Polizei zur völlig falschen Annahme führte, Uwe Böhnhardt vom NSU hätte mit dem Mord des Mädchens zu tun gehabt. So etwas Dummes darf uns keinesfalls passieren«, wurde er in sachlichem Tonfall belehrt.

Marit versuchte zu vermitteln.

»Ja, das ist durchaus einzusehen. Also im Klartext. Wie kommen wir rein, ohne eigene Spuren zu hinterlassen? Der Schaden ist vermutlich eh schon angerichtet, wir sind nicht die Ersten am Tatort. Müller trägt zwar einen sterilen Anzug, aber dasselbe gilt keineswegs für die Rettungssanitäter.«

In diesem Augenblick kamen besagte ›Spurenleger‹ mit ihrem Notfallköfferchen und der Trage aus dem Schlafzimmer, grüßten kurz und verschwanden. Für sie war der Einsatz beendet, sie hatten nichts mehr für die junge Frau tun können. Die war bei ihrem Eintreffen längst mausetot gewesen.

»Also, dürfen wir jetzt hinein oder nicht?«, hakte Beckert nach.

Wolters wirkte unschlüssig. Er ruderte ungern zurück.

»Okay, gut … aber bitte mit Schuhüberzügen – und nichts ohne Handschuhe anfassen.« Er zog beides aus der Jackentasche.

»Das versteht sich von selbst«, sagten seine Begleiter wie aus einem Munde. Ihr neuer Chef versuchte ganz offensichtlich, sie zu tölpelhaften Anfängern zu degradieren. Darüber würde man später Tacheles mit ihm reden müssen. Aber nicht jetzt gleich. Sie hatten schließlich einen Frauenmord aufzuklären.

Also zogen Beckert und seine Begleiterin die übliche Prozedur durch, zum Glück unbeanstandet vom Chef. Der stellte nur hin und wieder Fragen, besonders an den Rechtsmediziner. Die Spurensicherung war inzwischen ebenfalls eingetroffen. Sie überließen diesem Kollegenteam den Tatort, zogen sich zurück.

Näheres würde man über die jeweiligen Berichte erfahren.

Weil Wolters mit im Einsatzfahrzeug saß, konnte Marit Schmidbauer auf dem Rückweg keinen Abstecher nach Elend einlegen, was sie und Steffen sonst zweifellos getan hätten. Sie hatte Bernd vor seiner Abreise nach Paris in die Hand versprochen, zweimal täglich bei Kater Felix vorbeizuschauen, ihn gut zu füttern und wenigstens immer kurz zu streicheln, damit die rotgetigerte Fellnase nicht zu sehr trauerte. Der dicke Kater kannte und mochte sie, wäre in ihrer winzigen Stadtwohnung aber nicht halb so gut aufgehoben gewesen.

Kein Zweifel, es war so herum besser.

Nach dem Dienst fuhr Marit kurz nach Hause, aß einen Bissen und duschte. Dann machte sie sich auf den Weg zu Bernds renoviertem Bauernhaus, das im vergangenen Sommer beinahe einem verheerenden Waldbrand zum Opfer gefallen wäre.

Ihr liefen immer noch eiskalte Schauder den Rücken herunter, wenn sie an dieses absichtlich gelegte Großfeuer dachte. Seither fuhr sie sehr ungern durch größere Waldgebiete. Mutige Polizistin hin oder her, auch sie kannte diffuse Ängste.

Marit bog auf den Hof ein und die Außenbeleuchtung flammte auf. Felix wartete schon am Fenster, rannte hektisch in Richtung Haustür, als sie aufsperrte. Er machte vor Freude einen veritablen Katzenbuckel, rieb sich an ihren Unterschenkeln und hinterließ auf ihrer schwarzen Jeanshose einen breiten Streifen roter Haare. Nachher würde wieder die Fusselrolle zu Ehren kommen.

Während der Kater sich schmatzend seine Wampe vollschlug, setzte sie sich auf einen Küchenstuhl, kramte ihr Handy aus der Handtasche und drehte ein kurzes Video. Das schickte sie über WhatsApp an Bernd.

Wo mag er gerade sein, was wird er machen? Vielleicht sitzt er mit ihr in einem schicken Restaurant … lieber nicht drüber nachdenken, Marit. Das zieht dich nur noch weiter runter.

Kaum hatte der Stubentiger seine Mahlzeit beendet und leckte sich genüsslich die Reste vom Schnäuzchen, nahm sie ihn auf den linken Arm, drückte ihn liebevoll an ihre Brust und versuchte mit der freien Hand, ein Foto von sich und dem Kater zu schießen. Was gar nicht so einfach war, denn dieser verfressene Kerl wog über sechs Kilo und hielt nicht still. Es brauchte mehrere Anläufe, bis sie auch dieses Bild nach Frankreich absenden konnte.

Vielleicht ist es unfair von mir, mich auf diese Weise in Erinnerung zu bringen. Kann sein, dass Julia sich darüber aufregt und ihm die Hölle heiß macht. Ach ja, was soll’s. Wenn ich sowas bleiben lassen soll, muss er es mir halt schreiben. Bislang kamen jedenfalls nur Smileys und lächelnde Katzen-Emojis zurück. Ich weiß, dass er sich über die Fotos freut.

*

01. Dezember 2018, Paris

Nach knapp einer Woche hatte Bernd Mader längst die Schnauze voll. Es fiel immer schwerer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, nur um Julia den Spaß nicht zu verderben.

Für heute stand ein Besuch der Champs-Élysées an. Sie wollte einen Einkaufsbummel unternehmen, den Triumphbogen mit-samt Kreisverkehr anschauen und den Élysée-Palast bewundern.

Am liebsten hätte er verweigert und wäre im Wellnessbereich des Hotels zurückgeblieben. Seine Frau verfügte zwar nach wie vor über ein eigenes Bankkonto, dessen Füllstand er nicht einmal kannte, und neigte auch keineswegs zu Kaufräuschen – aber mit ihr shoppen zu gehen, nervte trotzdem gewaltig.

Nach seiner Erfahrung rannte sie in unzählige Geschäfte, sah sich Unmengen von Klamotten an und hatte an allem was auszusetzen. Einmal stimmte die Stoffqualität nicht, dann wieder das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wenn ausnahmsweise mal alles passte und er schon vor Erleichterung aufatmen wollte, kaufte sie meistens doch nichts, verließ seufzend das Ladengeschäft. Mit der Begründung, dass sie ja eigentlich gar nichts Neues brauche. Was für eine öde Zeitverschwendung.

Verstehe einer die Frauen! In diesem Punkt sind sie wohl alle gleich.

Er wusste, weshalb er sie zu Hause nicht mehr in die Innenstadt begleitete, jedes Mal eine andere Ausrede aus dem Hut zauberte, bis sie es aufgab und mit einer Kollegin abschwirrte. Hier jedoch konnte er ihr nicht entkommen. Also ergab er sich klaglos in sein selbstverschuldetes Schicksal und ging neben ihr her, interesselos registrierend, wie sie sich behände von einem Kleiderständer zum nächsten bewegte.

Sie erinnerte ihn hierbei an eine emsige Biene, die in irrwitzigen Flugbahnen über eine duftende Blumenwiese fliegt und sich in dieser Pracht kaum entscheiden kann, wo sie zuerst landen soll.

In einer schicken Boutique namens Madame et Monsieur erstand sie eine Bluse, endlich. Er atmete auf. Während sie an der Kasse stand und bezahlte, sah er gelangweilt aus dem Schaufenster.

Sein allzeit wachsames Polizistenauge gewahrte mehrere Personengrüppchen. Die zumeist jungen Leute waren allesamt mit gelben Warnwesten uniformiert, standen palavernd auf dem Trottoir. Sie gehörten offenkundig zu jener organisierten Bürgerbewegung, welche in der französischen Hauptstadt an den vergangenen beiden Samstagen gegen die Regierung Macron protestiert hatte. Dabei war es zu teilweise heftigen Krawallen gekommen, besonders hier, an der Champs-Élysées.

Heute schien sich also Ähnliches anzubahnen.

Nach ihrer Einkaufstour wollte Julia erst einmal in die Jardins des Champs-Élysées zurück, um dort Fotos zu schießen. Bernd war damit zufrieden, Hauptsache sie schleppte ihn in keine exklusiven Klamottenläden mehr. Ihm war längst nach einem starken Kaffee zumute. Oder nach Harakiri, dachte er sarkastisch.

Sie besichtigten das vergleichsweise recht unscheinbare Palais Borghèse sowie den Amtssitz des französischen Präsidenten und bummelten am historischen Springbrunnen Fontaine de la Grille du Coq vorbei, beschlossen dann ihren kleinen Abstecher über die Avenue de Marigny.

Als sie wieder auf die sonnenbeschienene Champs-Élysées hinaustraten, um ihr weiter in Richtung des Triumphbogens zu folgen, wimmelte es dort mittlerweile vor Gelbwesten.

Parolen skandierend, pilgerten sie die breite Prachtstraße entlang. Erste Böller und Bengalos wurden gezündet.

Bernd beunruhigte der Anblick.

»Wir haben uns offenbar einen schlechten Tag ausgesucht, und bis zum Triumphbogen wäre es bestimmt noch ein viertelstündiger Fußmarsch. Diese Straße ist verdammt lang. Hier scheint gerade ein Mob zu entstehen, sowas kann schnell eskalieren. Wollen wir uns nicht lieber ein Taxi nehmen und gleich zurück ins Hotel fahren?«

»Kommt gar nicht infrage. Jetzt sind wir schon mal hier. Die Leute wollen doch nur friedlich demonstrieren. Ich glaube nicht, dass vor dem Abend irgendetwas Schlimmes passiert, schließlich sieht die Weltöffentlichkeit zu«, winkte Julia ab.

Bernd hatte keine Lust auf Diskussionen, und so gab er klein bei. Doch auf sein Käffchen würde er keinesfalls verzichten.

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0+
Data wydania na Litres:
25 maja 2021
Objętość:
341 str. 2 ilustracje
ISBN:
9783967525427
Wydawca:
Właściciel praw:
Автор
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