Czytaj książkę: «Der Schreckenswald des Hoia Baciu»
Der Schreckenswald des Hoia Baciu
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Anmerkung der Autorin
Danksagungen
Die Autorin
Der Schreckenswald des Hoia Baciu
Ein haarsträubender Horrorthriller von
Marie Kastner
XOXO Verlag
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-024-8
E-Book-ISBN: 978-3-96752-524-3
Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter
© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)
© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Rechtlicher Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Kapitel 1
Spurlos
Nordostrumänien, 11. August 1623
Ein sonniger Augustnachmittag neigte sich allmählich dem Ende zu. Der längliche Schatten eines schwarz verkohlten Baumgerippes erstreckte sich schon bis zum Feldweg, was dem dreiundfünfzigjährigen Schäfer Hoia als deutliches Zeichen diente, mit seiner Schafherde allmählich den Heimweg anzutreten.
Im vergangenen Frühjahr hatte ein Blitz in diese einsam in der Landschaft aufragende Pappel eingeschlagen. Seither erinnerten deren traurige Überreste den Schäfer tagtäglich an die Vergänglichkeit des Lebens. Durch einen einzigen Schlag des Schicksals konnte alles aus und vorbei sein, deswegen galt es, das Dasein in jedem einzelnen Augenblick in vollen Zügen zu genießen. Und das tat Hoia fürwahr, er liebte seinen Beruf und das bescheidene Leben in der freien Natur über alles.
Schon Hoias Vater und Großvater waren hier, am nordwestlichen Rande der Stadt Cluj-Napoca[Fußnote 1], diesem angesehenen Gewerbe nachgegangen, und so hatte er selbst das edle Handwerk des Schafscherens schon als Junge erlernt. Die ruhigen, genügsamen Mitglieder der Familie Baciu waren im Dorf von jeher sehr angesehen und beliebt, denn sie galten trotz ihrer Armut als freigiebige, gastfreundliche Menschen.
Wer Hoia oder seine Angehörigen jedoch bestehlen oder ausnutzen wollte, besaß schlechte Karten. Bei aller Gutmütigkeit gab es Grenzen, die niemand überschreiten durfte. Der sonst so nette Kerl konnte, wenn man ihn nur lange genug triezte, zum absoluten Berserker werden. Diese unschöne Erfahrung hatten gewalttätige Männer diverser Zigeunerclans in den vergangenen Jahren bereits machen müssen; seither vermieden sie Zusammenstöße mit ihm, umgingen meistens sogar das ganze Dorf, um sich anderswo nach unbedarften Opfern für Nepperei und Diebstahl umzusehen. Unter anderem deswegen schätzte man ihn in der Dorfgemeinschaft über die Maßen.
Zufrieden aufseufzend, beschirmte der vierschrötige Ungar seine Augen mit der Rechten gegen die tief stehende Sonne, um nach dem Leitschaf zu suchen. Dieses rupfte gerade mit Begeisterung saftige Kräuter am Waldrand, und er wollte es noch ein Weilchen gewähren lassen. In verschiedenen Stimmlagen blökend, scharte sich die restliche Herde rund um das Tier.
Hoia ignorierte das unwirsche Knurren seines Magens und setzte sich lächelnd in die farbenfrohe Wildblumenwiese, um gemächlich an seinem Stock weiter zu schnitzen. Auf den treuen Hirtenhund Marius konnte er sich blind verlassen, der würde die Herde schon zusammenhalten. Wie immer.
Höchstens ein halbes Stündchen noch, dann wollte er sich in Richtung des Dorfes aufmachen. Sobald die Sonne hinter dem Horizont versank, musste er das Revier für die Geschöpfe der Nacht freigeben. Dann nämlich wagten sich Rehe, Füchse und allerlei Kleingetier aus dem Dickicht, hungrige Wölfe trieben ihr Unwesen in Wald und Flur. Alles und Jedes hatte eben auf dieser Welt seine Zeit. Hoia respektierte das ohne zu murren.
Ja, er konnte mit seinem Leben rundum zufrieden sein. Seine Frau war unter Garantie gerade dabei, einen ihrer schmackhaften Eintöpfe vorzubereiten. Vielleicht zauberte sie Gulasch mit viel Paprika und Zwiebeln, so wie er es liebte. Bei der bloßen Vorstellung an diese deftige Köstlichkeit lief ihm unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen. Der Magen meldete sich wieder, zwickte und zwackte voller Vorfreude.
Eventuell könnte er nachher zum Abendessen bereits seine beiden erwachsenen Söhne begrüßen, die heute auf dem allwöchentlichen Markt in der Stadt Rohwolle verkauft hatten, sinnierte er lächelnd. Hoffentlich waren sie dabei erfolgreich gewesen und brachten ein paar Geldstücke mit. Der einunddreißigjährige Valeriu war als Schäfer bereits früh in die Fußstapfen seines Vaters getreten, während der um zwei Jahre jüngere Radu auf der Westseite der prosperierenden Stadt, drüben in Floreşti, eine kleine Schmiede besaß. Dennoch war er zu jeder Tagesund Nachtzeit zuverlässig zur Stelle, wenn Hoia nach ihm rief.
Sein drittes Kind, eine zarte Tochter namens Mia, war leider schon in ihrem ersten Lebensjahr an einem Fieber verstorben. Das war vor vierzehn Jahren gewesen. Er wollte dennoch nicht klagen, denn seine beiden wohlgeratenen Nachkommen und drei Enkelkinder trösteten ihn seither über diesen Verlust hinweg. Der Tod gehörte nun mal untrennbar zum Leben, dessen war er sich bei aller Trauer bewusst.
Etwas Seltsames riss den Schäfer abrupt aus seinen sentimentalen Gedankengängen. Dabei handelte es sich allerdings um kein Geräusch – eher um das Gegenteil davon.
Es war totenstill. Bis auf das Summen der Fliegen und Honigbienen, die den Schäfer umschwirrten, drang kein Laut an Hoias Ohren. Alarmiert blickte er auf, suchte am Rande jenes lichten kleinen Waldstücks, welches er seit der Jugend wie seine Westentasche kannte, nach seiner Herde.
Aber da war nichts. Kein einziges Schaf, kein Hund. Er runzelte erstaunt die Stirn, kratzte sich erst einmal nachdenklich am kahlen Hinterkopf. So schnell ließ er sich grundsätzlich nicht aus der Ruhe bringen.
Narrten ihn womöglich bloß seine Augen? In letzter Zeit sah er nicht mehr so gut wie früher. Aber nein … die Umrisse der Bäume vermochte er ganz klar zu erkennen, somit konnte eine Sehschwäche wohl kaum die Ursache für das plötzliche Verschwinden seiner kompletten Herde sein.
Seit er sich zum Schnitzen hingesetzt hatte, waren allerhöchstens fünf bis zehn Minuten vergangen. Und wieso hätten die Schafe überhaupt in diesen Wald laufen sollen? Sowas war bislang noch nie vorgekommen, schon weil dort der Bodenbewuchs nicht viel Nahrhaftes zum Knabbern hergab.
›Könnten sie sich erschreckt haben und davongelaufen sein?‹ Manchmal trieben ungezogene Zigeunerjungen in dieser Gegend ihr Unwesen. Es half alles nichts, er würde auf der Stelle nachsehen gehen müssen. Stöhnend rappelte er sich hoch.
Mit jedem Schritt, der ihn näher an den Waldrand trug, wurde die Sache mysteriöser. Es schien, als habe die Natur den Atem angehalten, als sei die Zeit selbst stehengeblieben. Es herrschte völlige Windstille. Sogar die Vögel waren verstummt, der Himmel wirkte wie leergefegt.
Hoia begann aus sämtlichen Poren zu schwitzen, beschleunigte beunruhigt seinen Gang. Noch immer keine Spur von seinen Schafen. Seine Rufe und Pfiffe verhallten ungehört.
Er erreichte keuchend die ersten Bäume. War es möglich, dass der Wald heute erheblich düsterer wirkte als sonst? Er schüttelte den Kopf, schalt sich einen einfältigen Narren.
Höchstwahrscheinlich war das fahrende Volk an solchen trügerischen Wahrnehmungen schuld, denn dieses war nach seiner Ansicht für zahllose Mythen und Legenden verantwortlich, die sich um diesen Landstrich rankten. Man raunte sich hinter vorgehaltener Hand haarsträubende Geschichten über böse Geister zu, die angeblich mit grünen Laternen nach verirrten Lebenden suchten, um sie für immer in ihren Bann zu ziehen. Männer wie Frauen mieden das kleine Waldstück wie die Pest. Die meisten wagten es nicht einmal, in seine Richtung zu blicken.
Ammenmärchen. Nichts als saublöde Ammenmärchen, die ihm jetzt diese Trugbilder bescherten. Von einem blutrünstigen Vlad in Transsylvanien bis hin zum sogenannten Lacul Dracului im Locvei-Gebirge – es gab Unmengen an unheimlichen Sagen in diesem verwunschenen Land und sehr häufig kamen angebliche Machenschaften des Teufels darin vor. Diese Geschichten waren höchstens zum Erschrecken von Frauen und kleinen Kindern geeignet, doch er, ein ausgewachsener, breitschultriger Hüne, würde sich hiervon bestimmt nicht ängstigen lassen.
Es reichte schon, dass seine sonst recht bodenständige Frau es sich jedes Jahr in der ersten Märzhälfte nicht nehmen ließ, eine rotweiße Mărţişor[Fußnote 2]-Schnur samt silbernem Schneeglöckchenanhänger als Talisman im Ausschnitt zu tragen. Auch dieser beliebte Brauch gründete auf einer uralten Sage. Immerhin, sie sah damit zum Anbeißen aus.
»Ach, albernes Zeug!«, schimpfte Hoia, wischte sich mit dem Hemdsärmel Schweißperlen von der Stirn, trat beherzt zwischen zwei jungen Birken hindurch … und ward nicht mehr gesehen.
*
Die dralle Mirela rannte schon zum fünften Mal nach draußen, um besorgt nach ihrem Gatten und den Schafen zu sehen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen. Valeriu versuchte nach Kräften, seine höchst nervöse Mutter zu beruhigen.
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Vater kann bestens auf sich aufpassen, wie du weißt. Bestimmt hat ihn einer der Nachbarn um Hilfe gebeten – oder ein Schaf hat sich verirrt und er muss es erst suchen gehen. Niemals würde er einen seiner Schützlinge da draußen alleine zurücklassen.
Möglicherweise sind auf dem Rückweg Lämmchen geboren, so wie letztes Jahr einmal, erinnerst du dich? In einem solchen Fall muss er ein Weilchen warten, bis er die Herde weitertreiben kann. Die Jungtiere wären sonst noch zu schwach. Komm, lass uns schon einmal essen. Es gibt viel zu erzählen und wir haben heute gute Geschäfte gemacht.«
Behutsam packte der drahtige junge Mann seine widerspenstige Mutter an beiden Schultern, drehte sie mit sanfter Gewalt zu sich um und sah ihr tief in die verweinten Augen. »Der kommt bald zurück. Ich bin mir da vollkommen sicher.«
»Ich fühle aber in meinem Leib, dass hier etwas nicht stimmt! Meine Verbindung zu Hoia ist nach all den Jahren noch so innig wie am ersten Tag, auch wenn wir gelegentlich erbittert streiten. Du kannst es dir ruhig für deine eigene Ehe merken, Valeriu. Das einzige Gift, das die Leidenschaft zwischen Mann und Frau tatsächlich abtöten kann, ist Gleichgültigkeit. Und dein Vater ist mir alles andere als gleichgültig«, protestierte Mirela, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Ihr dürft euch gerne schon die Teller füllen, wenn ihr Hunger habt – aber ich bleibe hier stehen und werde erst beruhigt sein, wenn ich Hoias Laterne am Horizont erkennen kann.«
Seufzend setzte sich Valeriu zu seinem Bruder an den groben Holztisch zurück, zuckte ratlos mit den Schultern. »Was denkst du?«, raunte er Radu hinter vorgehaltener Hand zu.
»Ehrlich gesagt … ich weiß es nicht. Es könnte ja tatsächlich sein, dass Vater am Wald auf Räuber getroffen ist, sich ein Bein gebrochen hat oder schon wieder in tätliche Streitigkeiten mit einer gewissen Sippe geriet. Ich schlage also vor, dass wir ihn suchen gehen – aber zuerst muss ich einen Happen essen, sonst fehlt mir die Kraft für eine Nachtwanderung. War ein überaus anstrengender Tag heute.«
»Gut … in Ordnung, das klingt recht vernünftig. Hoffentlich ist Vater zurück, bis wir nachher die Löffel beiseitelegen. Mir ist heute nämlich ebenfalls nicht nach einem weiteren Fußmarsch zumute. Außerdem werden schließlich auch wir beide zu Hause erwartet.«
Schweigend löffelten die Brüder ihren Gemüseeintopf, behielten hierbei ihre Mutter im Blick. Diese stand noch immer vollkommen bewegungslos im Türrahmen der Holzhütte. Die Fransen ihres um die Schultern gelegten Wolltuches bebten gelegentlich, vermutlich weinte sie leise vor sich hin.
Eine Stunde später war der Schäfer noch immer nicht zurückgekehrt. Zu allem Überfluss kündigte sich ein Wärmegewitter an, in der Ferne zuckten die ersten Blitze. Wind kam auf. Der Wipfel einer neben dem Geräteschuppen stehenden alten Kiefer wurde von auffrischenden Böen ordentlich durchgeschüttelt.
»Glaubt ihr mir nun allmählich, dass da etwas faul sein muss? Ich halte das Warten nicht mehr aus, möchte etwas unternehmen. Am besten, ich gehe zu den Nachbarn hinüber und frage nach, ob Toma ihn auf seinem Weg ins Dorf unterwegs gesehen hat. Der kommt auch immer erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück«, schluchzte Mirela. Sie griff fahrig nach einer der beiden Laternen, die neben der Tür an einem schmiedeeisernen Haken hingen und den Vorplatz der bescheidenen Behausung erhellten.
»Nein, du bleibst hier!«, widersprach Valeriu selbstbewusst. Er nahm ihr die Laterne aus der Hand.
»Eine Frau sollte um diese Tageszeit niemals alleine draußen unterwegs sein. Unser Haus steht zu abgelegen, du müsstest zu weit laufen. Man weiß nie, welches Gesindel sich im Schutze der Nacht herumtreibt und üble Absichten hegt. Außerdem fürchtest du dich vor Gewittern und man kann bereits Donnergrollen hören. Das Unwetter kommt schnell näher. Möchtest du etwa auch noch verloren gehen? Wir beiden Männer werden das erledigen. Jemand muss schließlich hier die Stellung halten, falls er inzwischen doch daheim auftauchen sollte.
Zuerst befragen Radu und ich die Nachbarn. Sollte niemand Vater gesehen haben, laufen wir anschließend auf dem üblichen Weg zum Wald hinüber und suchen nach ihm. Dort war er doch zuletzt mit seiner Herde?«
Mirela nickte, ließ resigniert ihr Kinn sinken. Radu fand, dass sie plötzlich um Jahre gealtert wirkte.
»Nehmt euch bloß vor Wölfen in acht«, mahnte sie mit rauer Stimme. »Es sind einige in der Gegend gesehen worden!«
»Die tun uns doch nichts! Um diese Jahreszeit finden sie im Wald genügend zum Fressen, da legen sie sich wohl kaum mit Menschen an«, winkte Radu grinsend ab. Niemals hätte er in Anwesenheit seines großen Bruders zugegeben, dass ihm gelb leuchtende Wolfsaugen schon einige schlaflose Nächte bereitet hatten. Aber hier ging es um seinen Vater, also musste er seine Ängste vor den Schrecknissen der Finsternis ignorieren.
Während sich die Söhne des Schäfers auf den Weg machten, kniete Mirela mit gefalteten Händen vor ihrem kleinen Hausaltar nieder und betete inbrünstig zu Maria, der Schutzheiligen aller Frauen. »Ich wüsste doch nicht, was ich in einer Zukunft ohne meinen Hoia anfangen sollte. Beschütze uns alle, Mutter Gottes, wir sind anständige Menschen. Bitte mach, dass mich mein ungutes Gefühl wenigstens dieses eine Mal trügt. Lass meine Familie wohlbehalten zu mir zurückkehren.«
Ein besonders lauter Donnerschlag ließ sie zusammenzucken, dann zog das Unwetter ab.
Die Mitternachtsstunde war längst vorbei, als die Baciu-Söhne mit wirrem Haar und verstörtem Blick ihr Elternhaus erreichten. Beide waren tropfnass, die Kleidung schlammverschmiert. Auf dem morastigen Boden glitt man leicht aus.
Schon von weitem hatte Mirela die tanzenden Lichtpunkte gezählt und auf drei sich nähernde Laternen gehofft. Aber so sehr sie sich die Augen auch aus dem Kopf starrte, es waren und blieben nur zwei. Die dunkelhaarige Frau wurde kreidebleich.
Valeriu und Radu nahmen ihre Mutter in die Mitte, denn ihr versagten die Knie. »Wohin … wo kann er bloß abgeblieben sein? Habt ihr denn gar nichts gefunden, auch keines der Tiere?«, hauchte sie tonlos.
Die Brüder geleiteten sie fürsorglich zu einer Bank im Inneren der Hütte, deren Sitzfläche weich mit einem schwarz gescheckten Schaffell gepolstert war, und ließen sich erschöpft neben sie fallen. Valeriu zog stöhnend die schweren Stiefel aus, betastete seine schmerzenden Zehen. Es verbreitete sich augenblicklich ein muffiger Geruch im Raum, der stark an verwesenden Käse erinnerte. An anderen Tagen hätte Mirela ihn dafür gerügt, doch nicht heute.
»Nichts, einfach gar nichts. Keinerlei Spur von Vater, ebenso wenig von der Herde. Niemand hat ihn seit dem frühen Nachmittag mehr gesehen. Wir haben sogar kurz im Wäldchen nachgeschaut, aber dort ist es in der Nacht bei abnehmendem Mond derart finster und dunstig, dass man die Hand vor Augen nicht erkennen kann. Richtig unheimlich war es da drinnen, ganz so, als würde eine dunkle Nebelwand das Licht der Laternen verschlucken.
Wir müssen abwarten, bis es hell wird, können erst dann intensiv weitersuchen. Vater muss sich verirrt oder irgendwo anders Zuflucht gesucht haben. Wahrscheinlich kommen wir nur nicht drauf, wo das sein könnte.
Es tut mir leid, Mutter … wir haben für den Moment wirklich alles getan, was in unserer Macht steht«, erzählte Valeriu traurig. Er starrte beim Sprechen deprimiert auf den Fußboden, konnte seiner Mutter nicht in die Augen sehen. Der Ausdruck von heller Panik darin hätte ihm das Herz gebrochen.
»Toma Popescu hat sich vorhin zum Glück bereit erklärt, mit seinem Fuhrwerk zu unseren Familien zu fahren, damit sie sich wegen unseres langen Wegbleibens nicht zusätzlich sorgen müssen. Unterwegs wird er die Augen und Ohren offen halten, vielleicht entdeckt er die Vermissten ja zufällig. Wir bleiben für den Rest dieser Nacht besser hier, um dir beizustehen. An Schlaf wäre sowieso nicht zu denken«, ergänzte Radu einfühlsam, streichelte ihre schlaffe, kalte Hand.
Mirela war indes zu keiner Äußerung fähig. Nichts und niemand hätte ihr die tonnenschwere Last von den Schultern nehmen können. Sie gab einen klagenden Ton von sich und brach zusammen, ohne das Gehörte kommentiert zu haben.
*
Im Morgengrauen versammelte sich die kleine Dorfgemeinschaft fast vollzählig am Ortsrand von Suceagu. Nur die ältesten Einwohner waren zu Hause geblieben, schließlich musste jemand auf die Kinder aufpassen. Man schwatzte, mutmaßte und tauschte Ideen aus, bis wohin man die Suche nach dem Nachbarn Baciu ausdehnen sollte.
Mirela hatte es sich trotz ihres desolaten Zustands nicht nehmen lassen, mitzukommen. Die Frauen des Dorfes scharten sich um sie, zeigten Anteilnahme und versuchten auf mannigfaltige Weise, die Verzweifelte zu beruhigen.
»Wäre dein Mann verschleppt worden, hätte man mittlerweile doch zumindest den Hund oder vereinzelte Schafe finden müssen. Dass sie allesamt wie vom Erdboden verschwunden sind, ist eher ein gutes Zeichen.
Oh nein, Mirela – die sind bestimmt einfach weiter als sonst gewandert, Hoia hat sich durch ein Gespräch oder eine Begegnung ablenken lassen und ist von der hereinbrechenden Dunkelheit überrascht worden. So muss es sein! Wahrscheinlich sitzt er zur Stunde wohlbehalten in einer wildfremden Bauernstube, haut ein üppiges Frühstück rein und ahnt gar nicht, dass wir uns wegen ihm grämen. Hoffen wir also für ihn, dass er letzte Nacht kein ›Schäferstündchen‹ mit einer einsamen Witwe genossen hat. Sonst ziehst du ihm nachher eigenhändig das Fell über die Ohren«, versuchte sich die junge Tereza an einem schwarzhumorigen Scherz.
Solche und ähnliche Kommentare wollte die Hirtenfrau aber partout nicht hören. Ihr Herz kannte die furchtbare Wahrheit; dennoch hoffte sie inständig, es möge sich irren. So drängte sie die anderen ungeduldig zum Aufbruch.
Der achtzehnköpfige Suchtrupp setzte sich nach einer kurzen Wegbesprechung gemächlich in Bewegung, viel zu langsam für Mirelas Geschmack. An den zahllosen frischen Kotkügelchen der Schafe war zweifelsfrei abzulesen, wo Hoia und die Herde entlang gekommen waren. Er hatte seine Tiere tatsächlich links und rechts jenes Feldweges grasen lassen, der direkt zum sogenannten Teufelswald führte. Nach ungefähr zwanzig Minuten passierten sie die abgebrannte Pappel, strebten geradewegs dem Waldrand zu.
»Dort hinein bringen mich aber keine zehn Pferde! Ihr wisst doch, was man sich über diesen Ort erzählt«, stellte Tereza fest, schlang beide Arme fest um ihren schlanken Körper und blieb mitten auf dem Weg abrupt stehen. Andere Frauen taten es ihr nach, nickten zustimmend.
»Jetzt seid nicht albern, ihr abergläubisches Weibsvolk! Es ist helllichter Tag. Was sollte euch da schon passieren? Wir durchkämmen das Waldstück einfach so, dass jeder von uns einen der anderen stets in Sichtund Rufweite behält. Ich glaube nicht an lächerliche alte Schauergeschichten, und ihr solltet das gefälligst auch nicht tun«, verfügte Toma genervt.
Just als er die verängstigten Frauen mit gutem Zureden fast vom Sinn dieser Vorgehensweise überzeugt hatte, tauchte plötzlich eine bunt gekleidete Frau mit hüftlangem schwarzem Haar am Wegesrand auf. Ihr wilder Blick und die vielen Armreifen wiesen sie als Angehörige einer Zigeunersippe aus.
»Das ewig Böse ist wieder erwacht! Geht hinein und ihr werdet allesamt auf grausame Weise sterben«, stieß sie mit kehliger Stimme hervor, kicherte schadenfroh – und verschwand genauso schnell und leichtfüßig, wie sie gekommen war.
Ihr eindrucksvoller Auftritt führte dazu, dass keine der Frauen freiwillig einen Fuß in den mutmaßlich verfluchten Wald setzen wollte. Alle weigerten sich hysterisch, ob Toma nun bettelte, an ihre Hilfsbereitschaft appellierte oder mit Spott drohte. Die eine oder andere bekreuzigte sich hastig.
Die Gruppe teilte sich notgedrungen auf. Während die Männer fluchend zwischen den Bäumen verschwanden, suchten die Frauen das Gebiet außerhalb ab. Wortlos, weil jede einzelne von einem unheimlichen Gefühl beschlichen wurde.
An diesem Tag wirkte alles auf unerklärliche Weise falsch, obgleich die vertraute Landschaft im strahlenden Sonnenschein vor ihnen lag. Die Vögel ließen sich nicht am Himmel blicken, auch sonst gab es kaum Geräusche. Selbst das Tageslicht wirkte verändert. Gleißend, aber wie durch graues Glas gefiltert.
Speziell die feinfühlige Tereza verspürte beunruhigt eine Art elektrisches Kribbeln, das sich in Wellen über ihren gesamten Körper zog und Gänsehaut erzeugte. Am liebsten hätte sie sich die Haut von den Knochen gerissen. Sie zweifelte mittlerweile stark an ihrer eigenen Aussage, dass Hoia im Tagesverlauf bestimmt unversehrt wieder auftauchen werde.
Die Frauen fanden auf Wegen und Wiesen jede Menge Spuren vom Vermissten und seinen Schafen – doch das war leider auch schon alles. Hinter jeden Busch spähten sie, wohl wissend, dass sich dahinter schwerlich zweihundert Schafe nebst Schäfer verbergen könnten. Achselzuckend machten sie am vereinbarten Treffpunkt Halt und warteten niedergeschlagen auf die Rückkehr ihrer Gatten, Söhne und Väter.
»Ich fürchte mich. Was, wenn wir sie auch an den Wald verlieren?«, jammerte eine ältere, hagere Frau namens Sofia, die sich zum Ausruhen auf einen flachen Felsen gesetzt hatte. Sie hielt ihre krallenartigen, runzlig-fleckigen Hände im Schoß gefaltet. Da ihr Ehemann im vergangenen Winter verstorben war, kümmerte sich seither der einzige Sohn um sie. Und der weilte gerade in einem Waldstück, das seit Generationen ein Zentrum für unerklärliche Phänomene zu sein schien.
»Pah, lass das Jammern lieber bleiben. Mir ist ohnehin schon nach Davonrennen zumute«, sagte Tereza vorwurfsvoll. »Außerdem habe ich da drüben gerade ein verräterisches Knacken gehört. Ich glaube, sie kommen!«
Alle Blicke richteten sich auf den Waldrand. Nur Sekunden später traten die herbeigesehnten Männer fast zeitgleich ins helle Tageslicht, beschirmten ihre Augen mit den Händen. Sie wirkten bei weitem nicht mehr so forsch und mutig wie noch vor zweieinhalb Stunden. Der gesuchte Schafhirte war allerdings nicht unter ihnen.
»Und?«, bohrte die vorlaute Tereza ungeduldig nach. Männer waren ja sowas von maulfaul!
»Nichts. Es sieht danach aus, als wären sie außerhalb des Waldes geblieben. Und bei euch?«
»Spuren gibt es trotz der Regenfälle, sogar jede Menge davon. Niedergetrampeltes Gras, Kot, abgerupfte Kräuter, Brotkrümel
… aber weit und breit kein Hoia, kein Hund und erst recht kein Schaf. Weder lebend noch tot«, antwortete Tereza augenrollend. Die Männer setzten sich ins Gras und wurden mit einer Vesper aus dem mitgebrachten Korb versorgt.
Am späten Nachmittag machte sich die Truppe ergebnislos auf den weiten Nachhauseweg. Mirela musste gestützt werden. Gut fünfundzwanzig Kilometer, die sie über Stock und Stein gewandert waren, steckten den hilfsbereiten Dorfbewohnern in den müden Beinen. Sie mussten die Suche schweren Herzens abbrechen, zu Hause ihre Tiere versorgen.
Tereza sah den wortkargen Männern überdeutlich an, dass sie im Wald auf etwas Unaussprechliches gestoßen sein mussten. Hatten sie womöglich Hoias Leiche gefunden und wollten ihre grausige Neuigkeit nur aus Pietätsgründen noch nicht preisgeben? So unauffällig wie irgend möglich schob sie sich beim Gehen näher an ihren Vater Toma heran.
»Was ist da drin vorgefallen? Mir kannst du es doch sagen!«, gurrte die hübsche Siebzehnjährige mit einem taktischen Augenaufschlag. Der verfehlte seine Wirkung selten, was sie sehr genau wusste. Toma wiederum kannte seine Jüngste. Die würde garantiert nicht locker lassen, bevor sie ihn nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht hatte. So ergab er sich ins Unvermeidliche, blickte sich links und rechts über die Schultern um sicherzustellen, dass sonst niemand zuhörte, und schilderte mit leiser Stimme die Waldbegehung.
»Du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir als Kind von einer kreisrunden Lichtung erzählt habe, auf der zu keiner Jahreszeit jemals Pflanzen wachsen? Diese Stelle wird landläufig Tanzboden des Teufels genannt. Im Winter sieht sie übrigens genauso aus wie jetzt, selbst Schneeflocken meiden sie. Rundherum liegt dann ein Meter Schnee, doch der Kreis bleibt frei.
Wahrscheinlich war noch niemand so dumm, die ebene Fläche zu betreten oder gar näher in Augenschein zu nehmen. Man spürt instinktiv, dass dies ein kapitaler Fehler wäre. Die umstehenden Bäume biegen sich weg, kein Zweig ragt hinein.
Nun, wir sind vorsichtig am Rand dieses unheimlichen Ortes entlang gegangen und haben festgestellt, dass selbst der Wind ihn zu meiden scheint. Nichts rührte sich, man hörte nichts und konnte dort nicht einmal mehr das nasse Gras riechen. Man meint, die Natur halte den Atem an. Und die Lichtverhältnisse passen nicht zur Tageszeit! Obwohl das Sonnenlicht direkt von oben einfallen müsste, wirkt die kahle Stelle düster, was ich mir überhaupt nicht erklären kann.
Wenige Meter weiter fiel Radu dann auf, dass an mehreren Bäumen einzelne Äste verbrannt aussahen und auch so rochen. Dabei kann es in diesem kleinen Wald in letzter Zeit nicht gebrannt haben, denn das hätte man weithin gesehen! Normalerweise fackeln Bäume zudem vollständig nieder, wenn sie einmal Feuer gefangen haben, nicht jeweils nur einzelne Äste, oder? So ähnlich wie die Pappel am Wegrand. Es müsste versengtes Gras zu sehen sein, oder wenigstens Rußspuren … !«
Tereza nickte mit weit aufgerissenen Augen. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, doch sie hielt Wort und wahrte das Geheimnis. Es reichte, dass sie sich durch eigene Schuld nun noch mehr als zuvor ängstigte, aber diese Erfahrung wollte sie den restlichen Frauen nicht auch noch zumuten.
Und tatsächlich, in der folgenden Nacht suchten sie fürchterliche Albträume heim. Schwitzend wälzte sich Tereza kreuz und quer durch ihr Nachtlager. Mehrfach stand sie auf, spähte mit wild pochendem Herzen durch das Fenster ihrer Kammer zur dunklen Silhouette des Waldes hinüber. Glomm dort ein grünliches Licht? Vermutlich nur Einbildung – oder doch nicht?
Das hatte sie nun von ihrer leichtfertigen Neugierde! Dieser verdammte Wald … Tereza nahm sich fest vor, so weit wie möglich vom Schauplatz des Grauens wegzuziehen, sobald sie einen lieben Ehemann gefunden hätte.
In den folgenden Wochen befragten die ratlosen Dorfbewohner jeden, dessen sie habhaft werden konnten, aber durch keines der angrenzenden Dörfer war der Hirte gewandert. Auch der örtliche Polizeiposten fahndete nach dem Verbleib von Hoia Baciu – oder gegebenenfalls seiner Leiche. Vergeblich, der Schäfer war und blieb spurlos verschollen.
Nach einem Jahr wurde für die Polizei ein ungeklärter Vermisstenfall aus der Sache. Für die abergläubischen Einwohner der Dörfer rund um den Wald stand hingegen fest, dass sich die Mächte der Finsternis Hoias bemächtigt hatten und sie ihn niemals wiedersehen würden. Sicher … es kam durchaus vor, dass Personen Verbrechen zum Opfer fielen und man sie beseitigte. Leichname wurden, soweit sie nicht begraben waren, meist von wilden Tieren gefressen. Aber mitsamt einer kompletten Herde? Das war mehr als mysteriös, da mussten einfach Dämonen am Werk gewesen sein – oder gar der Leibhaftige selbst!
Hoias untröstliche Ehefrau Mirela nahm sich vor Einbruch des folgenden Winters das Leben. Sie erhängte sich der Überlieferung nach in einer stürmischen Nacht am Rande des Teufelswaldes.
Valeriu und Radu warnten ihren Kinder und Kindeskinder eindringlich von jenem Waldstück, das Lebewesen spurlos verschwinden ließ. Genau wie die restlichen Bewohner des Landstrichs im Kreis Cluj. Und dennoch kam es vor, dass sich, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, immer wieder törichte Menschen in die Nähe dieses verhexten Ortes wagten. Insbesondere Ausländer trieb die pure Neugierde, welche nicht selten als Forschergeist deklariert wurde, dorthin.