Czytaj książkę: «Der Brockopath»
Der Brockopath
Impressum
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Die Autorin
Danksagungen
Der Brockopath
Alarm im Harz
Marie Kastner
XOXO Verlag
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-019-4
E-Book-ISBN: 978-3-96752-519-9
Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter
© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)
© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Rechtlicher Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig.
Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Für meinen Sohn Patrick
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TEUFELSWERK
1. Mai 2016
Die Spuren der vergangenen Nacht waren noch deutlich sichtbar, als der vierköpfige Reinigungstrupp gegen acht Uhr eintraf. Obwohl die alljährliche Walpurgisfeier diesmal buchstäblich ins Wasser gefallen war, lagen auf dem Hochplateau des Brockens, im Volksmund auch Blocksberg genannt, jede Menge leere Dosen, Pappbecher und sonstiger Unrat herum.
Etliche Eingefleischte hatten sich den Hexensabbat trotz Regen und Kälte nicht nehmen lassen. Bevor die ersten Wanderer ankamen, musste sämtlicher Müll beseitigt und abtransportiert werden. Es dauerte nur noch zwei Stunden bis zum Eintreffen eines Triebwagens der Brockenbahn, der sowohl die Bauhofarbeiter als auch die gefüllten Plastiksäcke in einer Sonderfahrt zu Tal transportieren sollte. Die Touristen erwarteten unbefleckten Naturgenuss. Denen konnte es egal sein, dass keine öffentliche Straße zum Gipfel hinaufführte, sich daher jeglicher Transport daher in logistischer Hinsicht schwierig gestaltete.
Kühler Nieselregen und böiger Wind sorgten dafür, dass die Männer des städtischen Bauhofs von Wernigerode die Kapuzen ihrer Allwetterjacken tiefer in die Stirn zogen. Heute war Maifeiertag und da würden traditionsgemäß viele Leute auf den Brocken pilgern, allesamt in der Hoffnung auf eine gute Fernsicht, viele davon in unpassender Kleidung. Während unten schon der Frühling einzog, herrschte hier oben ein unwirtliches Klima wie in Island. Zu Deutsch: Es war saukalt.
Daniel, der Wirt der Brockenrestauration, freute sich auf den umsatzstärksten Tag des Jahres und auch die Betreiber der Harzer Schmalspurbahn würden heuer sicher wieder auf ihre Kosten kommen, Wetter hin oder her. Der historische Traditionszug mit Dampflok sollte in Wernigerode um 10.45 Uhr abfahren und um 13 Uhr am Brockenbahnhof eintreffen.
»Schau dir die Sauerei an! Da sind wieder einige der besoffenen Idioten durch den Brockengarten getrampelt. Wieso werden Absperrungen einfach ignoriert? Die Leute scheren sich offenbar einen Dreck darum, dass die Bergkuppe zum Naturschutzgebiet Hochharz gehört und hier schon seit Jahren mit viel Idealismus und Fleiß daran gearbeitet wird, zumindest einen Teil zu renaturieren«, schimpfte Sven Ackerwald, ein neunundzwanzigjähriger Blondschopf, der als sehr naturverbunden gelten konnte. Angewidert fischte er Bierdosen und zerfetztes Plastik zwischen zwei Granitfelsen hervor.
»Wenn es nach mir ginge, würde ich diese albernen Hexenfeiern zukünftig verbieten!«
»Es geht aber nicht nach dir«, grinste sein älterer Kollege Erhardt. »Meine älteste Tochter war gestern Nacht auch hier oben, sie genießt das immer sehr. Manche Menschen brauchen solche mystisch angehauchten Partys eben, um vorübergehend ihr ödes Leben zu bereichern. Im Fall meiner Mandy ist es ihr langweiliger, schlecht bezahlter Job am Fließband.«
»Und der lässt sich leichter ertragen, wenn man sich eine Warzennase anklebt, in albernen Klamotten herumrennt und einen Reisigbesen schwingt? Tut mir leid, aber dafür habe ich keinen Sinn. Mir sind Kuhschelle und Habichtskraut jedenfalls wichtiger als flüchtige Vergnügungen«, stänkerte Sven und bückte sich nach einer leeren Sektflasche der Edelmarke Rotkäppchen. Manche der Errungenschaften aus der ehemaligen DDR hatten die Wende seltsamerweise überdauert.
Der Kollege erwiderte nichts mehr, wandte sein wettergegerbtes Gesicht wieder den Unrat-Stillleben auf dem matschigen Boden zu, während die anderen beiden Arbeiter, hundert Meter entfernt, dasselbe taten.
Im Grunde ging es in der Walpurgisnacht vorrangig darum, ausgelassen mit viel Alkohol zu feiern, die durch Überlieferungen inspirierten Traditionen hochzuhalten – und das in geselliger Runde. Ein Einzelgänger wie Sven würde das nie kapieren. Der lebte in seinem eigenen Universum.
Auch Sven arbeitete konzentriert weiter. Der Regen hatte sich inzwischen doch einen Weg ins Innere seiner Jacke gebahnt, ihn fröstelte trotz seines dicken Pullovers. Laut dem Thermometer am Hexenkiosk hatte die Außentemperatur mittlerweile wieder die Null-Grad-Grenze überstiegen, gefühlt herrschten aber immer noch Minusgrade. Vermutlich lag das in erster Linie an der klammen Feuchtigkeit, die sich wie ein dünner Eisfilm über das Gesicht legte.
Dünne, zerfaserte Nebelschleier verbreiteten eine unheimliche Atmosphäre, erschwerten teilweise die Sicht auf den von großen und kleinen Steinen übersäten Boden. Man musste schon genau hinsehen, um jeden Zigarettenstummel zu entdecken. Die Männer arbeiteten lieber schweigend weiter, die Zeit drängte. Während die Natur Anfang Mai anderswo längst grünte und sprießte, schien hier tiefster Winter zu herrschen. An schattigen Stellen hielten sich immer noch hartnäckig verkrustete Schneereste, Raureif überzog die Grashalme.
Die Hoffnung auf gute Fernsicht würde sich für die Besucher bei diesen schlechten Wetterbedingungen wohl kaum erfüllen. An klaren Tagen konnte man leicht bis zum Großen Inselsberg in Thüringen, dem Köterberg im Weserbergland, und, auf der anderen Seite, zum Petersberg nördlich von Halle an der Saale schauen, gelegentlich sogar die Umrisse der Rhön und des Rothaargebirges erkennen. Doch am heutigen Feiertag war in punkto Aussicht definitiv nichts drin, das wusste Sven aus Erfahrung.
Der als ›Brocken‹ bezeichnete Berg ist mit seinen 1.141,2 Metern, gemessen am höchsten Punkt seines Gipfelplateaus, die höchste Erhebung in Norddeutschland. Das raue, unwirtliche Klima wirkt sich massiv auf Flora und Fauna aus. An der Kuppe überleben keine Wälder, und daher findet man oberhalb einer Grenze von rund 1.050 Metern allenfalls kleinwüchsige Fichten und vereinzelte Zwergbirken, Sträucher sowie niederen Heidebewuchs mit Kräutern, Gräsern und Moosen vor. Einige der Arten sind vom Aussterben bedroht.
Erhardt richtete sich nach einer weiteren halben Stunde Plackerei auf, stützte beide Hände in die Nierengegend und drückte stöhnend den schmerzenden Rücken durch. Den Greifer konnte man leider nur für Papier und kleinere Gegenstände nutzen, ansonsten kam man ums Bücken nicht herum. Das hinterließ in seinem Alter zunehmend Spuren.
Sven bemerkte es, hielt bei der Arbeit inne.
»Sollen wir eine kurze Pause einblenden? Ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee dabei. Daniel öffnet seine Pforten ja leider erst später. Der wird noch in den Federn liegen.«
Erhardt nickte dankbar. Sven war halt doch eine gute Haut.
»Das wäre super! Gehen wir am besten einen Moment rüber zum Hexenaltar. Der flache Felshaufen taugt prima als Tischplatte. Der Teufel wird uns diese Zweckentfremdung bestimmt nachsehen … nun ja, das hoffe ich jedenfalls«, entgegnete er augenzwinkernd.
Die etwa gleich großen Männer setzten sich in Bewegung. Vor den Gesichtern sah man immer noch die weißliche Fahne des Atemhauchs. Es wollte einfach nicht wärmer werden.
Sie wussten beide genau, wo der sogenannte Hexenaltar lag, konnten ihn jedoch wegen der Nebelschwaden nicht entdecken. Erst kurz bevor sie direkt davorstanden, schälten sich die Umrisse schemenhaft aus dem milchigen Dunst. Von der umliegenden Berglandschaft des Harzgebirges war hingegen keine Spur zu erkennen, hierfür war die Suppe zu dicht.
Aber etwas stimmte da nicht. Die Oberfläche des Hexenaltars schien heute keineswegs von flachen Felsblöcken gekrönt, sondern erhöht und sehr unregelmäßig geformt zu sein. Man sah lediglich verschwommene Konturen.
»Was, zum Geier, ist das wieder … !«, murmelte Erhardt Wolters und hegte bereits eine gehörige Ladung Groll in der Brust, weil er eine weitere Müllablagerung hinter dem Gesehenen vermutete. Sein chronisches Magengeschwür machte sich unangenehm bemerkbar.
Wenn das so weiter geht, werden wir vormittags gar nicht mehr fertig … alle Welt hat am Maifeiertag frei, nur wir dürfen in dieser eisigen Einöde Dreck wegräumen, dachte er missmutig. Wütend stapfte er zum vermeintlichen Abfallberg, gefolgt von Sven, der die Handschuhe ausgezogen hatte und sich die kalten Hände rieb.
Doch Wolters täuschte sich, und zwar gewaltiger, als ihm lieb sein konnte. Es handelte sich bei der Auflage des Hexenaltars nämlich keineswegs um Abfälle.
Als die Wernigeröder Arbeitskollegen in grauenhafter Deutlichkeit erkannten, was man da in der vorangegangenen Walpurgisnacht auf der charakteristischen Felsformation abgelegt hatte, stockte beiden vor Entsetzen der Atem. Mit einem scheußlichen Knacksen zerbrach der Stiel eines morschen Reisigbesens unter Svens stahlbewehrtem Arbeitsschuh.
Die gestandenen Kerle zuckten jäh zusammen und verließen fluchtartig den Schauplatz des Schreckens. Der ›Tag der Arbeit‹ war für sie gelaufen.
*
Der Anruf kam zur Unzeit. Kommissar Bernd Mader hatte am Feiertag endlich einmal ausschlafen und die restliche Freizeit zur Renovierung des unansehnlichen Bauernhauses nutzen wollen, welches er seit sechseinhalb Wochen als Single bewohnte.
Seit er in dieses marode Anwesen in Sachsen-Anhalt umgezogen war, nutzte er jede freie Minute, die ihm sein aufreibender Schichtdienst ließ, Haus und Hof wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Kein leichtes Unterfangen, wie ihm zwischenzeitlich bewusst geworden war. Aber die angeranzte Bude am finsteren Ende der Welt hatte nun mal seiner Lieblingsoma gehört und er hatte diese fragwürdige Erbschaft spontan und aus purer Sentimentalität angenommen.
»Kein Wunder, dass das nahe Dorf ›Elend‹ heißt. Nomen est omen, wie der Lateiner sagt. Die Leute werden sich bei der Namensfindung schon was gedacht haben«, hatte der Polizeibeamte voller Sarkasmus nach dem Einzug in seinen Bart gebrummt.
»Und die Ortschaft ›Sorge‹ liegt auch nicht sehr weit von ›Elend‹ entfernt, es ist also fast wie im richtigen Leben.«
Wenige hundert Meter vor der verwitterten Haustür verlief die Landesgrenze zu Niedersachsen und bis zur Wende war jenseits davon wirklich eine terra incognita gelegen. Seine Oma hatte die unbekannte Hochburg des Kapitalismus hinter den Grenzzäunen damals teils mit sozialistisch korrektem Schaudern, teils mit Neugierde betrachtet.
Heutzutage allerdings kam es ihm, ihrem einzigen Enkelsohn, geradezu unwirklich vor, dass Deutschland jemals in zwei Hälften geteilt gewesen sein sollte. Ost und West waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten wie ungleiche Geschwister zusammengewachsen. Nur wenige Spuren des Sozialismus erinnerten die ortsansässige Bevölkerung jetzt noch an die dunkle Vergangenheit, doch in den Köpfen und Herzen mancher Leute mochte es ganz anders aussehen, was besonders für die sogenannten ›Wendeverlierer‹ galt. Manch einer hatte im alten System einen Job und sein Auskommen gehabt, war in den Neunzigern aber von der monetären Brutalität des kapitalistischen Systems überrollt worden. Nun sorgte der Sozialstaat für diese Leute.
Was es tatsächlich bedeutete, in der kalten Jahreszeit am Fuße des Brockens zu wohnen, hatte er heillos unterschätzt. In seiner Kindheit war er während der Schulferien gerne hierher auf Besuch gekommen, war durch den halb verwilderten Garten voller wildwachsender Blumen, Erdbeerbeete und Johannisbeersträucher gestreift und auf sämtliche Bäume geklettert. Wenn Oma ihn früher zum Abendessen suchte, musste sie den Blick fast immer nach oben richten, wo er dann meist zerschrammt und schmutzig auf einem Ast saß.
Durchwegs positive Erinnerungen fanden sich an jenes kleine, geduckt unter einer monströsen Fichte dastehende Bauernhaus mit den moosigen Dachschindeln, das früher noch nicht einmal über fließendes Wasser oder einen Kühlschrank verfügt hatte.
Selbst das hölzerne Plumpsklo auf dem Hof war ihm als Junge abenteuerlich und irgendwie urig vorgekommen.
Inzwischen gab es zwar ein bescheidenes Badezimmer sowie Stromund Wasseranschluss – aber das waren auch so ziemlich die einzigen Modernisierungsmaßnahmen, die seine Großmutter mit ihrer schmalen Witwenrente in Angriff nehmen hatte können. In diesem bescheidenen Haus war Oma Frieda 1929 geboren worden und hier war sie im vergangenen Februar im Alter von siebenundachtzig Lebensjahren plötzlich und unerwartet verstorben, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Großvater.
Ihn gruselte immer noch ein wenig bei der Vorstellung, dass ihre Leiche nach einem Hirnschlag drei Wochen lang auf dem Küchenfußboden gelegen hatte, bis der Briefträger wegen des gekippten Küchenfensters auf den süßlichen Verwesungsgeruch aufmerksam geworden war und die Behörden alarmiert hatte.
Auch wenn er als Kripobeamter durchaus an ekelhafte Anblicke gewöhnt war – die eigene Oma hätte er doch nicht madenübersät vorfinden wollen. Er behielt sie lieber so in Erinnerung, wie er sie als Junge gekannt hatte. Eine dickliche, stets fröhliche, aber resolute Frau war sie gewesen, die ihm gelegentlich auch schon mal den Hintern versohlte. Vermutlich hatte er, der ungezogene Lausbub, es wirklich gebraucht, dass man ihm ab und zu den Hosenboden stramm zog … na, jedenfalls hätte er ihr ein solches Ende nie und nimmer gewünscht. Wenigstens war es schnell zu Ende gegangen, sie hatte nicht leiden müssen.
Mader schüttelte das ekelerregende Bild ab, das sich vor seinem geistigen Auge zusammengefügt hatte, setzte sich widerwillig im Bett auf, streckte sich vorsichtig und gähnte. Sein steifer Nacken hatte sich über Nacht trotz des großzügig aufgetragenen Franzbranntweins, den er in Omas Spiegelschränkchen gefunden hatte, kein bisschen gebessert. Schon bei der kleinsten Bewegung fuhren ihm Schmerzblitze die Halswirbelsäule hinunter. Es fühlte sich fast so an, als sei ein glühend heißes Kabel zwischen Hinterkopf und Rückenmuskulatur eingebaut, welches bei jedweder Bewegung am Knochen scheuerte und Schmerzreflexe auslöste.
Verdammte undichte Fenster, sicherlich habe ich mir in der Nacht einen Zug geholt! Ich muss so bald wie möglich in den Baumarkt nach Wernigerode fahren, Material zum Abdichten holen. Das Dach müsste ebenfalls isoliert werden, auf alle Fälle noch vor dem nächsten Winter, sinnierte der dreiundvierzigjährige Kriminalbeamte seufzend, während er seinen schlafwarmen Kater vorsichtig von seinem Lieblingsplatz zwischen den Knien hob und ihn anderswo auf der Daunendecke platzierte.
Stubentiger Felix öffnete eines seiner grasgrünen Augen, rollte sich dann wieder zusammen und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Anschließend befand er sich wieder im Katzentraumland. Ja, manchmal war Mader neidisch auf das silbergrau getigerte Fellbündel, das ihm erst vor vier Wochen zugelaufen und zu seinem verlässlichsten Freund geworden war.
Im Badezimmer beschränkte er die Morgentoilette darauf, sich einen Schwall kaltes Wasser ins müde Gesicht zu werfen, sich die Zähne zu putzen und kurz durch die Haare zu fahren.
Ich kenne dich Wrack zwar nicht, wasche dich aber trotzdem, dachte er schwarzhumorig beim Blick in den Spiegel. Ein attraktiver, aber mitgenommen aussehender Mann in den besten Jahren starrte ihm entgegen. Kantiges Kinn, leuchtend blaue Augen, braunes, stoppelkurz geschnittenes Haar und Dreitagebart … die Damen standen auf ihn. Dennoch hatte Sabine ihn wegen eines Anderen verlassen. Der Schichtdienst … viele Polizistenehen endeten bekanntlich auf ähnliche Weise. Er würde sich künftig nie wieder festbinden, aus die Maus.
Er schlurfte in die Küche, fütterte die neu angeschaffte Kaffeemaschine mit einem Pad und kramte in einer der gelblich lackierten Schubladen unter der Arbeitsplatte der altmodischen Küchenzeile nach dem Fahrplan der HSB. Seit gestern galt der Sommerfahrplan und die Züge der Schmalspurbahn fuhren das Brockenplateau wieder häufiger an. Er würde sich sehr beeilen müssen, um rechtzeitig zur Abfahrt um zehn Uhr fünfundzwanzig am Bahnhof Wernigerode einzutreffen, stellte er erschrocken fest. Der Zug sollte laut Fahrplan, wie anno dazumal, mit einer Dampflok bespannt sein.
Wenn seine Dresdner Kollegen wüssten, wie schwierig es hier sein konnte, überhaupt bis zu einem Tatort zu gelangen … nun, sie hatten ihn ja eindringlich davor gewarnt, sich in die tiefste Provinz versetzen zu lassen. Jetzt hatte er den sprichwörtlichen Salat, konnte nicht mehr kneifen.
Natürlich hatte er die Kollegin von der Leitstelle gefragt, ob man nicht einfach mit dem Auto auf den Brocken fahren könne. Sie hatte verneint und angemerkt, dass man hierzu eine Sondergenehmigung der Naturschutzbehörde benötigen würde und die schlecht befestigten Wege um diese Jahreszeit ohnehin nur mit Schwierigkeiten befahrbar wären.
Die andere Möglichkeit, eine Zugfahrt zu vermeiden, sei der Kremser, hatte Celia amüsiert gesagt. Man könne sich mit einem Pferdefuhrwerk in ›nur‹ zwei Stunden hinauf zum Gipfel chauffieren lassen.
Na toll, er hatte sich zum Gespött einer Zwanzigjährigen gemacht.
Hektisch schlüpfte Bernd A. Mader, wie auf seinem Klingelschild zu lesen stand, in verwaschene Jeans, einen groben flaschengrünen Strickpullover und seine heißgeliebten Doc Martens-Boots, angelte die gefütterte Rindslederjacke vom Kleiderrechen und nahm einen großen Schluck Kaffee aus der geblümten Jumbotasse. Die Eile brachte ihm eine verbrannte Unterlippe sowie eine schmerzende Zunge ein.
Ei, verbibbsch … der Tag fängt ja gut an!, dachte er auf Sächsisch. Fluchend schnappte er sich den Autoschlüssel, zog die Haustür nur hinter sich zu, anstatt noch abzusperren. So abweisend, wie das Haus im Moment von außen aussah, würde sich ohnehin kein Einbrecher freiwillig damit abgeben.
Mit quietschenden Reifen fuhr der pflaumenblaue Opel Corsa vom Hof. In Dresden war das alte, aber liebenswerte Fahrzeug als Zweitwagen und Winterauto genutzt worden. Die Familienkutsche, einen neuwertigen BMW X 5, hatte seine Frau Sabine behalten – so wie fast alles andere auch, inklusive der gemeinsamen Kinder.
Am Bahnsteig traf Mader auf zwei Beamte von der Spurensicherung, den glatzköpfigen Gerichtsmediziner Rainer Müller und eine Horde Ausflügler, die auf bequeme Weise den Gipfel stürmen wollten.
Klar, die werten Kollegen konnten ja auch nicht anders da hinauf gelangen … meine Güte, dann ist der Tatort vielleicht noch gar nicht abgesperrt. Hoffentlich haben die vier Typen vom Bauhof mitgedacht und lassen keine sensationsgierigen Touris in die unmittelbare Nähe der Leiche, dachte der Kommissar erschrocken.
Der groben Beschreibung nach, die ein Herr Wolters abgeliefert hatte, war der grausige Anblick nichts für schwache Nerven. Zudem bestand die große Gefahr, dass an der Ablagestelle des Leichnams wertvolle Spuren achtlos zertrampelt wurden. Dieser Gedanke machte ihn nervös. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie lange der Bummelzug brauchen würde, um sich bis hinauf zum Brockenbahnhof zu mühen. Bis dahin war der Täter wahrscheinlich längst über alle Berge und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Zeit arbeitete in diesem Mordfall von Anfang an gegen ihn.
Die Kollegen schienen all das lockerer zu nehmen. Sie scherzten ausgelassen miteinander, so als würden sie zu einem heiteren Regenausflug ins Grüne aufbrechen. Seine Wenigkeit hatten sie zwar alle mit Handschlag begrüßt – vermutlich, weil das Dienstrang und Höflichkeit geboten –, doch jetzt stand er wieder ein Stückchen abseits, wurde nicht mehr behelligt. Bislang hatten die eingeborenen Provinzler weder mit ihm noch er mit ihnen richtig warm werden können. Er wusste nicht einmal zu sagen, ob er das bedauerte.
Endlich. Der Zug dampfte mit fünf Minuten Verspätung gemächlich auf dem Schmalspurgleis heran und es roch penetrant nach Öl und anderen Schmiermitteln. Drei historische dunkelgrüne Personenwaggons zog die kleine Lokomotive hinter sich her. Quietschend bremsten die Räder. Metall schleifte auf Metall und die Lokomotive stieß laut zischend eine riesige Dampfwolke aus. Aus einem Lautsprecher über dem Bahnsteig verkündete eine blechern schnarrende Stimme, dass der Zug 8925 abfahrbereit an Gleis drei stehe. Die Fahrgäste mögen bitte sofort einsteigen und an der Bahnsteigkante Vorsicht walten lassen.
Am Bahnhof Wernigerode schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Keine hochmodernen, aerodynamischen Züge waren hier zu sehen, man hätte sich mit ein bisschen Fantasie auch in den Siebzigern oder Achtzigern befinden können. Die einzigen Zutaten, die für eine perfekte Illusion fehlten, waren Schlaghosen, Hemden mit riesigen Kragen und Vokuhila-Frisuren.
Unter normalen Umständen hätte er sich näher für die Baureihe der Lok interessiert, Fotos geschossen und die Fahrt genossen, aber dies waren eben keine normalen Umstände. Es war für ihn vielmehr eine Reise ins Unbekannte und, in beruflicher Hinsicht, eine Art Bewährungsprobe. Die neuen Kollegen würden mit Argusaugen beobachten, was der Neuzugang aus der Stadt so draufhatte.
Bislang hatte Bernd das Plateau des Brockens noch nie betreten, war seit seinem Umzug nicht dazu gekommen. Früher, zu DDR-Zeiten, war dies ohnehin militärisches Sperrgebiet gewesen, und nach der Wende hatte sich Omas Interesse an diesem Berg weiterhin in engen Grenzen gehalten. Sie war ein bisschen abergläubisch, auch das mochte bei ihrer Verweigerungshaltung eine Rolle gespielt haben. Weiter als bis nach Schierke zu ihrer alten Schulfreundin war sie mit der Brockenbahn niemals gekommen. Kein Wunder, der Harz strotzte nur so vor Sagen über Teufel, Hexen und andere Ausgeburten der Hölle.
Der Kommissar stieg als erster ein, wählte einen Fensterplatz. Die restlichen Ermittler platzierten sich eine Reihe weiter vorn, genauso, wie er das erwartet hatte. Nicht zu weit entfernt, aber auch nicht direkt neben ihm. Man musste kein Psychologe sein, um diese Konstellation zu analysieren.
Er musste sich eingestehen, dass er die eingeschworene Kameradschaft seiner Dresdner Dienststelle vermisste, besonders seinen Partner Maik. Abgesehen von einer prima Zusammenarbeit waren sie auch privat eng befreundet gewesen. Maikie hatte immer ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte gehabt. Während der belastenden Trennungsphase, als der Sorgerechtsstreit eskalierte, war er ihm hilfreich zur Seite gestanden und hatte bei Sabine umsichtig als Vermittler fungiert. Einen solchen Partner und Freund würde es kein zweites Mal geben.
Der Zug füllte sich, war bald bis auf den letzten Platz besetzt. Touristen und Tagesausflügler in wetterfester Kleidung bevölkerten die unbequemen Sitze, die meisten führten prall gefüllte Rucksäcke mit sich. Ein älterer Herr setzte sich neben ihn. Er schien ein Scherzkeks und in Plauderlaune zu sein.
»Guten Tag! Sind Sie auch so aufgeregt wie ich? Dieser Zug erklimmt gleich einen Berg von über tausend Metern Höhe und das ohne Zahnradtechnik. Bei uns an der Nordsee ist alles platt, selbst die Sprache, ha ha. Fahren Sie zum ersten Mal da hinauf?« Neugierig war er also auch noch. Konversation war aber gerade das, was Mader im Augenblick nicht gebrauchen konnte. Er wollte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen.
»Ja«, antwortete er kurz angebunden und drehte seinen ganzen Oberkörper demonstrativ in Richtung Fenster. Sein Nacken war immer noch steif und schmerzte bei jeder Bewegung. Die norddeutsche Nervensäge seufzte, schien aber zumindest über Anstand zu verfügen und hielt die Klappe. Der Mann widmete sich seinem Reiseführer. Manchmal hilft ein Wink mit dem Zaunpfahl eben doch.
Ein Pfiff ertönte, der Zug fuhr ruckelnd los. Eine monströse Dampfwolke verhüllte den Bahnsteig, ließ die Welt da draußen für einen Moment verschwinden. Der Zug rumpelte über eine Weiche, tuckerte, vorbei an einem Zirkuszelt und Betriebsanlagen der Bahn, durch das malerische Städtchen hinaus aufs Land, eine grauweiße Fahne hinter sich herziehend.
Die Natur war im Tal gerade dabei, sich ihr schönstes Kleid überzustreifen. Frisches Grün bildete einen wunderbaren Kontrast zum dunkleren Nadelwald soweit das Auge reichte und in den Gärten blühten Obstbäume. Droben am Endbahnhof würde das ganz anders aussehen. Hie und da hatte auch hier die Forstwirtschaft hässliche Narben in den Märchenwald geschlagen, doch im Großen und Ganzen schien die Natur im Harzgebirge noch intakt zu sein. Pittoreske Häuser flogen vorbei.
Mit jedem Meter, den der Zug sich Richtung Gipfel schraubte, schienen die Wolken dunkler, die feinen Nebelschwaden dichter zu werden. Noch erlaubten sie flüchtige Blicke über angrenzende Hügelketten, jedenfalls da, wo der Wald sich lichtete. Es gab vier kurze Aufenthalte an den Bahnhöfen Hasserode, Steinerne Renne und Drei Annen Hohne. Anschließend gelangte der Zug nach Schierke, wo er eine Viertelstunde auf die Weiterfahrt wartete. Hier oben war ganz schön Betrieb, gleich mehrere Dampfzüge und Triebwagen mussten sich die eingleisige Strecke teilen. Überall lauerten Fotografen, um die blechernen Relikte aus einer anderen Zeit im Bild festzuhalten.
Die Lok setzte schnaufend zum Endspurt an, mühte sich die letzten Anhöhen hoch. Es wurde zunehmend schwieriger, die Dampfwolken der Eisenbahn von den wabernden Nebelschwaden zu unterscheiden, man konnte nicht mehr viel von der Umgebung erkennen. Die Vegetation neben der Strecke veränderte sich zusehends; sie glich hier oben eher derjenigen in den Höhenlagen der Alpen. Keine Spur mehr von Frühlingserwachen.
Ein weiterer Zug dampfte vor dem Erreichen des Bahnhofes in umgekehrter Fahrtrichtung vorbei; die etwas größere Lok zog sechs Waggons in Cremeweiß und Weinrot, von denen einer ein buntes Graffito mit der Aufschrift ›Faust‹ trug. Eindeutig ein Tribut an Goethe, der sich hier oben gerne aufgehalten hatte, wie er sich vage aus dem Schulunterricht erinnerte.
Maders innere Anspannung stieg direkt proportional zu den Höhenmetern, gipfelte in nervöser Unruhe. Gleich sollte er sein Ziel erreicht haben. Aber was würde ihn hier erwarten?
*
Brocken, stand schlicht und unverschnörkelt auf dem Schild am tristen, dunklen Steingebäude. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen an. Kurz darauf stand Mader zwischen plaudernden, noch orientierungslos wirkenden Touristen auf dem Bahnsteig.
Gerichtsmediziner Müller zog eine Mütze über seine Bowlingkugel mit Ohren, tippte ihm von hinten auf die Schulter.
»Kommen Sie, ich weiß wo wir hinmüssen.«
Mader setzte sich in Bewegung, folgte den drei anderen Ermittlern. Schemenhaft tauchte ein Turm aus der grauen Nebelsuppe auf, dazu ein paar flachere Gebäude. Aber für die Bebauung des steinübersäten Plateaus hatte Mader momentan keinen Blick. Sein innerer Fokus richtete sich ausschließlich auf berufliche Fakten, die er gleich zu sehen bekommen sollte.
Ihm platzte fast der Kragen, als er den Menschenauflauf gewahrte, der sich um den mutmaßlichen Tatort gruppierte. Die vier Männer vom Schierker Bauhof waren zwar dageblieben und taten ihr Möglichstes, konnten sich aber mehr schlecht als recht gegen die Schaulustigen durchsetzen.
Unter Verwendung beider Ellbogen bahnte sich Mader einen Weg durch die lästigen Gaffer und stieg behände über ein kniehohes Holzgeländer, das den moosigen Bodenbewuchs vermutlich vor dem Zertrampeln schützen sollte. Auf dem unwirtlichen Plateau schienen sich bei jedem Wetter massenhaft Besucher zu tummeln, was ihn ziemlich erstaunte.
Einer von der Spusi zog das unvermeidliche Plastikband aus der Jackentasche und machte sich hektisch daran, endlich eine offizielle Absperrung anzubringen.
»Hier gibt es nichts mehr zu sehen, bitte halten Sie Abstand!«, brüllte der Kommissar in die Menge. Anschließend konnte er die letzten Meter bis zur blutigen Bescherung auf dem Hexenaltar antreten, deren Anblick ihm in der kommenden Nacht den Schlaf rauben sollte. Es gab Horrorszenarien, an die man sich als Polizeibeamter selbst nach vielen Dienstjahren noch nicht gewöhnt hatte. Und dies war eines davon.
Die natürliche Steinformation sah aus, als habe ein Riese mit voller Absicht brettflache Felsen aufeinandergetürmt. Am oberen Ende lagen zwei der Platten nebeneinander, bildeten eine leichte Schräge. Auf der Nahtstelle lag ein splitternackter Frauenkörper aufgebahrt, oder vielmehr ein Torso mit unversehrtem Kopf. Verkrustetes Blut verklebte die hellblonden langen Haare, die, wie ein seidener Fächer ausgebreitet, einen Kontrast zum dunkleren Granit des Felsens bildeten. Das Opfer mochte Mitte vierzig gewesen sein, der Leib war schlank und zierlich.
Arme und Beine fehlten. Der Täter musste den Körper gleich hier an Ort und Stelle zerteilt haben. Hierauf ließ das viele Blut schließen, das rundum von den Felsschichten des Hexenaltars wie dunkelrote Tränen heruntergelaufen und schließlich, unten am Fuße der Formation, in den mit niedrigem Gras bewachsenen Boden gesickert war.