Czytaj książkę: «Apostasie»
Marie Albes
Verlag: Tektime
(https://www.traduzionelibri.it)
Register der Kapitel
uno
dos
tres
Kokon
cuatro
cinco
ZWEI JAHRE VORHER
seis
siete
Gentile
ocho
Abstand
nueve
diez
Priesterschule
once
doce
Briefe
trece
catorce
quince
Der Gast
dieciséis
diecisiete
Verwirrung
dieciocho
Metamorphose
diecinueve
veinte
Veränderung
veintino
Schmetterling
veintidós
Brand
veintitrés
Hölle
veinticuatro
veinticinco
veintiséis
veintisiete
veintiocho
veintinueve
treinta
treinta y uno
treinta y dos
treinta y tres
H E U T E
treinta y cuatro
treinta y cinco
treinta y seis
E P I L O G
E N D E
Danksagung
Dieser Roman ist ein Werk der Fantasie. Alle Ereignisse, Dialoge und Charaktere sind vom Autor erfunden und nicht real.
Bezüglich existierenden Personen oder solchen, die existiert haben, übereinstimmenden Situationen, Ereignissen und Dialogen sind diese frei erfunden. Ich beabsichtige nicht, authentische Episoden zu imitieren oder das fiktive Wesen des Werks zu entstellen.
Jegliche Ähnlichkeit mit einer wahren Person, einem Ort und einem Ereignis ist rein zufällig.
2016 © Marie Albes Alle Rechte vorbehalten.
A P O S T A S I E
Die Wahrheit über Leben und Tod
MARIE ALBES
Aus dem Italienischen von
Janine Occelli-Vieler
Dieses Buch widme ich meiner
fabelhaften Mutter,
denn ohne sie
wäre es nie entstanden.
Vielen Dank Maman!
Zusammen mit Papa bist du meine Kraft.
Vor ein paar Jahren reiste ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in die Toskana. Wir verweilten in einem Dorf, das auf einem Hügel erbaut war und von einem riesigen Turm überblickt wurde, dessen Uhr die Lebenszeit tickt.
Hinter dem Turm umgab ein verwilderter Garten ein unbewohntes Schloss, dessen Wände steil über dem darunter gelegenen Tal ragten.
Wir pausierten für eine halbe Stunde, um uns vom Panorama und der seltsamen Nostalgie der Umgebung verzaubern zu lassen. Schließlich ging unser Ausflug weiter.
Ich stolperte über einen Stein und fiel zu Boden. Wollte es das Schicksal? Schmunzelnd wandte ich mich an meine Familie, die sich über mein Missgeschick amüsierte. Ein kleiner Felserweckte mein Interesse, der von der Wurzel einer Linde umwachsen war. Beim genaueren Hinschauen bemerkte ich einen geschnitzten Holzgegenstand, der aus der Erde ragte. Neugierig näherte ich mich dem Fund. Mit den Fingern und anschließend mit einem flachen Stein fing ich an, ihn auszugraben.
Meine Eltern und meine Schwester schauten mir verwundert zu. Nach ein paar Minuten zog ich eine kleine Holzschachtel aus der Erde, deren Metallgelenke an manchen Stellen mit Rost besetzt waren.
Mein Herz raste: Wie jeder Teenager war ich anfällig für die Geheimnisse des Lebens. In diesem Moment hatte ich einen Schatz entdeckt, den ich beabsichtigte, sorgfältig zu behüten.
Ich öffnete die Schachtel und fand ein Bündel handgeschriebener Blätter, manche zerrissen, andere an den Rändern gealtert. Das Papier ist mit der Zeit gegilbt und brüchig geworden. Die Schreibart hingegen strotzte vor Arroganz und Lebenslust.
Sofort fiel mir die emotionale Stärke des Verfassers auf. Zuhause fing ich an, die Seiten zu lesen, besessen von der Stimme, die in meinem Geist erzählte.
Die Geschichte, die ich Euch berichte, ist diesem Manuskript entnommen, das die Witterungseinflüsse von Leben und Tod überstanden hatte.
Im Grunde ist das Gedächtnis die einzige Form des Unvergänglichen, die wir kennen.
Freiheit,
die intensivste Farbe.
uno
Ein schwacher Lichtschleier durchdringt die Fensterrosen der Kirche und färbt alles mit gläsernen, warmen Farben. Sie lassen alles weit entfernt erscheinen, wie das Paradies auf Erden, versteckt vor dem blauen Himmel. In ihrem verdorbenen Herzen ist das Paradies mittlerweile ausgeschlossen.
Chiara kniet mit gesenktem Kopf und betet zu Gott, der sie erhören muss. Er, der in den vergangenen Jahrhunderten barmherzig war, wie auch in der Gegenwart, trotz der Geschehnisse in dieser Welt.
„Gib mir die Kraft!“, in Tränen drückt sie den Rosenkranz fester. Aber bald trocknet sie sich die rosigen Wangen mit dem Bemühen, beherrscht oder zumindest ausgeglichen zu wirken.
Dann hört sie den Hall von Schritten hinter ihrem Rücken. Zum ersten Mal erschreckt sie sich vor dem in der Kirche typischen Geräusch, die von glücklichen Gemütern sowie Menschen auf ihrer Suche nach Frieden und Trost aufgesucht wird.
Ruckartig dreht sie sich um, um zu sehen, wer es ist. Es ist ein alter Mann, der sich in die Reihe neben ihrer Reihe kniet, um mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen zu beten.
Flüchtig schaut er sie an, bevor er sich in sein Gebet vertieft. Aber Chiara ist überzeugt, dass dieser Blick eine Art Vorwurf ist. Alle sehen sie mittlerweile vorwurfsvoll an: die Welt und vielleicht sogar Gott. Vor allem er.
Sie wischt sich eine weitere Träne weg. Erneut starrt sie auf die Fensterrose, als wäre sie ein Bote des Himmels.
Der Sonnenuntergang hat seinen Höhepunkt erreicht. Ein intensiver Sonnenstrahl durchdringt die Fenster und färbt Chiaras Haare karmesinrot und rosa, ähnlich einer Blüte, die im Frühling zum Leben erblüht.
Ihr rutscht eine Strähne aus dem Zopf. Eilig steckt sie diese hinter ihr Ohr. Sie nimmt sich vor, sich zu beherrschen und wieder heiter zu werden, genau wie einst.
„Gib mir Kraft“, wiederholt sie in einem Flüstern, das wie ein Schrei in dieser religiösen Stille klingt.
Dann dreht sie sich erneut um, um zu sehen, ob der Mann sie gehört hat. Dieser ist reglos in seinem Gebet versunken.
Im Frühling eines gottverlassenen Jahres sprach man zuerst in einem kleinen toskanischen Dorf, dann in der gesamten Region und schließlich im gesamten Land über nichts anderes als über den Mord an Elena Gentile. Sie war in einer kleinen Dorfkirche tot aufgefunden worden.
Ausserordentlich Hübsch, selbst im gewaltsamen Tod
hieß die Schlagzeile einer Zeitung,
Mord in einem Kloster
hieß ein anderer Titel, selbst wenn es sich gar nicht um ein Kloster handelte.
Das Geheimnis des Falls Elena Gentile
las man in Großbuchstaben in einer anderen Zeitung. Es wurde keine Rücksicht auf das Gefühlschaos derjenigen genommen, die den Fall kannten, noch auf das Leiden der Personen, die mit Elena Gentile eng verbunden waren.
Wie dem auch sei, alle fragten sich:
Was ist Elena Gentile tatsächlich zugestossen?
Die süße, starke und charismatische Elena Gentile wurde leblos zu Füßen des gekreuzigten Jesus Christus aufgefunden.
Er kannte die Wahrheit, konnte aber nicht reden.
dos
Vor zwanzig Jahren, zehn Jahre nach Elena.
Die freundlichsten Stimmen nannten sie Schönauge; Skeptiker, die im Schönsein einen Fehler sahen, nannten sie das Mädchen mit den sonderbaren Augen. Bezaubernd waren Chiaras Augen auf jeden Fall. Ihre dunklen, südländischen Wimpern wurden durch ihre braunen Haare betont, die von honigblonden Strähnen markiert waren. Das seltsame der Augen waren die verschiedenfarbigen Iris. Die Iris von Chiaras rechtem Auge war schimmernd hellbraun wie Tee. Das linke Auge hingegen war zur Hälfte mit tannengrünen Flecken gesprenkelt und mischte sich mit der Teefarbe wie ein Tropfen Öl mit Wasser: die Transparenz der Flüssigkeit kontrastiert sich zur energischen Welle.
Wer Chiaras Augen begegnete, blieb nicht gleichgültig gegenüber diesen beiden Perlen ihres reinen, aufmerksamen Blicks, derart hoben sie sich in ihrem lächelnden Gesicht ab.
„Um Gottes Willen, wie kann ich Nein sagen, wenn du mich so ansiehst?“, war der Satz, den sich ihr Vater regelmäßig sagen hörte, wenn das süße Mädchen ihn um ein Geschenk wie eine Puppe oder ein Buch bat.
Vielleicht wurde sie als kleines Mädchen aus diesem Grund von allen in ihrem Geburtsort derart geliebt. Selbst diejenigen, die sie „das Mädchen mit den sonderbaren Augen“ nannten, blieben von den honigfarbenen Locken verzaubert, welche weich das Wesen der achtjährigen Chiara widerspiegelten. Oft spielte sie am Brunnen des Dorfplatzes und machte sich nass wie ein Entenküken.
Jedes Mal wenn sie durchnässt nach Hause kam, wurde sie von ihrer Mutter ausgeschimpft. Chiara hielt den Kopf gesenkt. Sie starrte ihre Füße an, die mit Heu und Erde beschmutzt waren, schuldig, wie ein ertappter Welpe, der in einer schlammigen Pfütze geplanscht hat. Schließlich schaute sie mit tränenden Augen auf. Selbst die Mutter konnte nicht mehr mit ihrer Predigt fortfahren, sondern schloss sie in ihre Arme und brachte sie zur Badewanne. Nach dem Trockenrubbeln flocht sie ihr gewöhnlich die Haare zum Zopf, den sie selbst nach zwanzig Jahren auf dieselbe Weise trug.
Jeden Sonntag besuchte sie die Messe.
In ihrem Dorf, fern von Großstädten, die sie ausschließlich aus Bildern kannte, waren alle Einwohner streng katholisch gläubig. Und mit allen meine ich alle: vom Metzger zum Leichenbestatter, vom Gemüsehändler bis zum Dieb, vom Friseur bis zur Hure. Seltsam war, die Dorfbewohner in der kleinen Dorfkirche vereint zu sehen, nahe beieinander und kunterbunt in ihrer verschleierten Heuchelei.
Menschen, die sich hassten, Menschen, die sich fürchteten, Menschen, die sich betrogen. Aber sie waren anwesend, um sich gemäß Gottes Wille das Zeichen des Friedens auszutauschen.
Am Morgen eines Feiertages begriff Chiara, wie ergeben sie sich gegenüber der Person fühlte, die im Himmel lebte (dies war ihr Bild von Gott). Chiara wusste nicht, was Heuchelei ist und betrachtete die Zusammenkunft der Menschen als ein kostbares Geschenk, das nicht zu verachten war.
Vor wenigen Tagen hatte sich ihr Vater mit dem Onkel gestritten, der nahe bei ihnen wohnte. Nach einem regen Wortgefecht, welches Chiara in einem Nachbarzimmer mitgehört hatte, redeten die beiden Brüder nicht mehr miteinander. Die Zimmerwand hatte sie vor dem Anblick geschützt, aber nicht vor der Enttäuschung. Die Erwachsenen verhielten sich eigenartig!
„Es kann nicht wahr sein, Gott“, hatte sie mit Tränen in den Augen geflüstert, „die sind blöd!“
An diesem Sonntag, aus irgendeinem seltsamen Grund, reichten sich im Haus des Herrn im Zeichen des Friedens ihr Vater und ihr Onkel die Hände und redeten seitdem erneut miteinander. Sie waren überzeugt, auch zukünftige Streitereien, die ihnen das Leben bringen würde, zu bewältigen.
Denn es gibt nicht ausschließlich die Heuchelei; es gibt auch die Vergebung.
„Du hast mich erhört!“, bemerkte sie an diesem Abend glücklich bevor sie schlafen ging und krempelte sich die Bettdecke bis zum Mund hoch. „Du weißt, wie wichtig mir ihr Frieden ist. Danke, dass du mich erhört hast!“.
Von diesem Moment an wusste Chiara, dass Gott alles vollbringen konnte. Sie war überzeugt, egal was sie ihn fragte, sofern Gutes, dass er es ihr gewähren würde, einschließlich dem Glücklichsein.
tres
Vor eineinhalb Jahren, Neunundzwanzigeinhalb Jahre nach Elena.
Chiara kehrte mit klopfendem Herzen in ihr Zimmer zurück. Ein Gefühl der Erschöpfung belastete ihre Seele und ihren Körper.
Sie wünschte keine Besuche, schloss schnell den Türriegel und setzte sich auf das Bett.
Nachdem sie sich das Kopftuch abgenommen hatte, hob sie den Ärmelsaum der Tunika an, um ein kleines, steifes Silberarmband freizulegen, das ihr rechtes Handgelenk zierte. Sie betrachtete es lange, ließ den Stoff nach unten gleiten, stand auf und starrte auf die Tür.
Diese war verriegelt, so dass niemand ohne ihre Erlaubnis das Zimmer betreten konnte.
Sie hob einen Teil der Matratze an. Zwischen Matratze und Lattenrost zog sie ein weißes Bündel hervor. Sie legte es auf die Bettwäsche und öffnete es. Es enthielt ein paar Jeans und einen weißen Pullover, der am linken Ärmel mit Schokolade befleckt war. Sie lächelte zuerst bei den Erinnerungen, dann wurde sie ernst und traurig.
Erneut blickte sie zur Tür (um sicher zu gehen), zog sich die Tunika aus und die Jeans sowie den Pullover an. Sie spürte die Kleider an ihrer Haut anliegen, wie die Rüstung eines mittelalterlichen Ritters: stark und sicher.
Im Zimmer hatte sie keinen Spiegel, der ihr erlaubte, sich in voller Größe zu betrachten, sondern nur einen kleinen für das Gesicht. Sie nahm ihn von der Wand und beschaute das Spiegelbild von jedem Teil ihres Körpers, indem sie ihn von unten nach oben wandern ließ.
In Höhe des Gesichts hielt sie inne. Ihre Melancholie und der Terror, den sie sah, gefielen ihr nicht. Sie hängte den Spiegel zurück an die Wand. Die Rückseite ließ sie zu ihr gerichtet, damit nicht der geringste Schatten gespiegelt werden konnte.
Mit einem Seufzer des Unbehagens ließ sie sich auf das Bett fallen. Ihre Gedanken gruben in ihrer Vergangenheit und wanderten von ihrer Kindheit und Jugend bis zum heutigen Tag.
Noch immer wohnten ihre Mutter und ihr Vater in ihrem Dorfhäuschen auf dem Lande. Sie dachte an jenen Sonntag in der Kirche, als alles perfekt war, dank der Kraft Gottes. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag hier, bereit, um sich einem neuen und vor allem vollkommen anderen Leben zu widmen.
„Chiara, es ist Zeit für das Abendessen“, eine Stimme auf der anderen Seite der Tür rüttelte sie aus ihren Gedanken.
„Ich bin heute Abend nicht hungrig“, antwortete sie.
„Du weißt, dass du nicht in deinem Zimmer bleiben kannst, wenn es Zeit ist, sich zu versammeln ...“
Claudias Stimme (schlaue Freundin seit ihrem ersten Tag) hatte einen leicht besorgten sowie bedauernden Ton. Sie hatte Recht.
„Ich komme sofort“, erwiderte sie schnell.
Sie stand auf, zog sich ihr Gewand an und legte Jeans und Pullover zurück in das Geheimversteck. Gedankenlos band sie ihre Haare zum gewöhnlichen Zopf zusammen und ließ sie unter dem Kopftuch verschwinden. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie zu dieser Entscheidung geführt hatte.
Sie wusste es nicht mehr.
Als sie aus dem Zimmer kam und die Tür schloss, gestand sie sich ein, dass nicht ihr Gedächtnis vergessen hatte, sondern ihr Herz.
Für ein Mädchen wie sie war dies der entscheidende Unterschied.
Kokon
Elena verlangte kein außergewöhnliches Leben zu führen, sondern wünschte sich von jemandem geliebt zu werden. Alle kannten sie als Amazonen-Kriegerin, die bereit war, die Welt zu erobern. Ihre Seele hingegen war eher ruhig, wenn Elenas Eltern ihr erlaubten, was sie wollte.
Ja, ihr einzig wahrer Grund war, eine Rebellin zu sein .
Aber was ist letzten Endes falsch an dem Wunsch, frei zu sein?
Wenn sie mitten in der Nacht den überwältigenden Drang verspürte, am Strand spazieren zu gehen, warum sollte sie es nicht tun?
Eines Nachts im Alter von sechzehn Jahren, stieg sie eilig aus dem Bett und zog sich leise an. Auf Zehenspitzen schlich sie in das Zimmer ihres Bruders und legte ihm eine Hand auf den Mund bevor er aufwachte.
Michele (das war sein Name) öffnete die Augen und sprang auf, ohne einen Laut von sich zu geben, da ihn die Hand seiner Schwester blockierte.
„ Ich möchte am Strand spazieren gehen“, flüsterte sie ihm ruhig zu, als gäbe es des Nachts nichts Seltsames an diesem Wunsch.
„ Bist du verrückt?“, antwortete Michele.
„ Nur weil ich spazieren gehen will?“
„ Aber es ist ein Uhr nachts!“, entgegnete er. Elena gab ihm einen Schlag auf den Arm, damit er leiser sprach.
„ Willst du alle aufwecken, alter Esel?“
„ Da ich ein alter Esel bin, warum bist du dann hier in meinem Zimmer und behauptest, dass du das Bedürfnis hast, unbedingt an der Promenade spazieren gehen zu müssen ?“
„ Am Strand, auf dem Sand, nicht an der Promenade.“
„ Weitere Wünsche?“
„ Du hast den Führerschein, ich nicht.“
„ Und warum sollte ich das?“
„ Weil ich deine Lieblingsschwester bin und du nicht Nein sagen kannst.“
„ Du bist die einzige Schwester, die ich habe. Das bedeutet noch lange nicht, dass du meine Lieblingsschwester bist.“
Beide schmunzelten.
Das Problem war, dass Michele ihr wirklich nichts abschlagen konnte. Ohne Weiteres hinzuzufügen stand er auf und zog sich einen Jogginganzug an. Elena wartete an der Tür und klopfte mit einem Fuß leicht auf den Boden, um ihn zur Eile zu drängen.
Als sie sich im Garten befanden, legte Michele im Auto den Leerlauf ein. Gemeinsam schoben sie das Auto auf die Straße, wo sie es starteten konnten, ohne jemanden aufzuwecken.
„ Ist dir klar, dass wir vier Stunden hin und zurück fahren werden? Dein Strandspaziergang wird somit nicht länger als fünf Minuten sein.“
„ Nur fünf Minuten, du hast Recht. Es werden die intensivsten fünf Minuten seit langem sein und vor allem verbringen wir sie zusammen.“
Das Fenster war geöffnet. Die blonden Haare von Elena flatterten im Fahrwind, fast als suchten sie in dieser Frühsommernacht die Flucht.
„ Du wirst mir fehlen, weißt du“, offenbarte sie und drehte sich zu ihrem Bruder. „Wenn Du gehst, und mittlerweile ist es nicht mehr lange, bleibe ich allein zurück.“
„ Du wirst nicht alleine sein, Elena! Mama und Papa sind auch da. Außerdem gehe ich nicht weit weg.“
„ Nein, gewiss werde ich nicht allein sein“, beteuerte sie und drehte sich wieder zum Fenster. „Du bist aber der Einzige, der mich versteht.“
„ Ich werde nicht weit weg sein. Außerdem wirst du mit Lernen beschäftigt sein und nicht mehr an mich denken.“
„ Du weißt genau, dass das nicht stimmt.“
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, jeder in den eigenen Gedanken verloren. Am Strand stieg Elena aus noch bevor Michele den Motor ausschaltete. Barfuß lief sie im Sand, während sie ihre Sandalen an den Riemen hielt.
Michele stieg gelassen aus (er hatte einen ruhigen Charakter). Er ergötzte sich am Anblick seiner Schwester, die fröhlich geradewegs zu den nächtlichen Wellen des Tyrrhenischen Meers rannte. Ihr Haar flatterte wie ihr Kleid im Wind.
„ Auf, Michele!“, rief Elena, drehte sich um und winkte fordernd, ihr zu folgen. Dann schmiss sie sich samt ihrer Kleider mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht ins Meer. Als ihr Bruder sie am Wasser erreichte, zwang sie ihn, ihr gleichzutun und riss an seinem Arm.
Silberne Wasserspritzer zersprangen in der Luft; das Lachen von zwei jungen Personen, beleuchtet vom Mondschein. Bruder und Schwester, die sich in einem kurzen Moment des Wahns vergnügten und sich ihrer bevorstehenden Trennung bewusst waren.
„ Spürst du es?“, fragte Elena während sie an der Küste entlang liefen und versuchten, trocken zu werden.
„ Was?“, erwiderte Michele.
Elena schloss die Augen ohne anzuhalten.
„ Das Leben. Das bedeutet zu leben: sich frei und glücklich zu fühlen. Mit dem Glücksgefühl im Herzen Kälteschauer auf der Haut zu spüren.“
Michele wusste nicht was er erwidern sollte, fühlte sich aber von den Worten seiner Schwester erfüllt. Er war stolz auf ihre Weisheit und ihre Lebensfreude. „Du hast Recht“, flüsterte er bloß und strich ihr durchs Haar.
„ Lele, meinst du ich werde mich je verlieben?“, fragte sie und öffnete ihre Augenlider.
Michele lächelte. „Da bin ich mir nicht sicher.“
„ Und wie ist die Liebe?“
„ Sie ist schön, Elena, in all ihren Formen.“
„ I ch meine nicht in all-ihren-Formen, Lele. Die kenne ich bereits im Leben zum Bruder und zu Freunden ... ach ja, und zur Familie“, erklärte sie wenig überzeugt. „Aber ich kenne die wahre Liebe nicht. Die Liebe zu einem Mann, der mich genauso liebt, wie ich ihn liebe.“
„ Du bist noch jung, du wirst sehen, dass sie bald kommen wird.“
„ Unsinn, das Alter spielt keine Rolle.“
„ Das ist wahr, wahrscheinlich hast du Recht ... Aber mach dir keine Sorgen, Elena. Wenn sie kommt, weißt du es sofort.“
„ Und wie weiß ich das?“
„ Ganz einfach, von einem Kokon wirst du zu einem Schmetterling.“
Als sie in der Morgendämmerung nach Hause kamen, dachten Michele und Elena, dass ihre Eltern noch schliefen. Als sie aber die knarrende Eingangstür öffneten, erwartete sie ihr Vater bereits mit verschränkten Armen und strengem Blick.
„ Wo seid ihr gewesen“, fragte er ohne den Frageton zu verwenden, sondern den Befehlston. „Es war deine Idee, nicht wahr?“, wandte er sich an Elena. Ihr trotzender Blick irritierte ihren Vater mehr als alles andere. Mit einem Schritt ging sie auf ihn zu.“
„ Ehrlich gesagt war es meine Idee“, fiel Michele dazwischen bevor die Situation ausartete.
Er wusste, dass sein Vater niemals die Hand gegen den zweiten Mann der Familie richten würde. Ihn hätte jedoch nichts gehalten, seiner Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
„ Ich konnte nicht schlafen und wollte spazieren gehen ... Ich habe Elena gefragt, ob sie mich begleite, um etwas Zeit miteinander zu verbringen, da ich bald fortgehe.“
Ohne weitere Worte drehte sich der Vater um. Er ging zurück ins Schlafzimmer und ließ Michele und Elena allein.
Sie umarmte ihn.
„ Danke, Lele... Du bist mein Held.“
Er streichelte ihren Kopf. „Du bist mein kostbarster Schatz, obwohl du mich oft in Schwierigkeiten bringst.“ Er hörte sie kichern. „Geh jetzt schlafen, du musst bald in die Schule!“
Elena ging die Treppen hinauf, drehte sich um und blies ihm mit der Hand einen Kuss zu. Sie ging hoch und legte sich ins Bett.
Elena hatte Recht: Es war herrlich zu leben und es lohnte sich, Nächte wie diese zu erleben.