Czytaj książkę: «Pantherzeit»
Marica Bodrožić
Pantherzeit
Vom Innenmaß der Dinge
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert
durch die Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg.
ISBN 978-3-7013-1287-0
eISBN 978-3-7013-6287-5
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger
Man verändert die Dinge nicht, indem man gegen die bestehende Wirklichkeit ankämpft. Um etwas zu ändern, muss man ein neues Muster erschaffen, das das bestehende hinfällig macht.
Richard Buckminster Fuller
Der Panther. Paris. Im Jardins des Plantes
Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke
Inhalt
Pantherzeit
Der Frühling ist gekommen. Seine Schönheit und sein Licht sind überirdisch wirksam. Mit der wärmenden Sonne ist unsere Innenzeit einhergegangen. Auf der ganzen Welt sitzen die Menschen in ihren Wohnungen fest. COVID-19 hat uns alle auf die gleiche Weise getroffen: als atmende Einzelwesen, die mit dem empfindlichsten Organ ihres Körpers mit allen anderen Einzelwesen verbunden sind. Vielleicht haben wir das vergessen, diese Verbindung, die die Luft uns zuweist. „Alles, was man vergessen hat“, schreibt Elias Canetti, „schreit im Traum um Hilfe.“ Diese Pandemie trägt traumhafte Züge, sie fühlt sich auf eine merkwürdige Weise zeitgleich wirklich und unwirklich an, sie agiert nach Gesetzen, die wir nicht oder noch nicht genau genug kennen. Sie hat die Regie über unsere Gedanken übernommen. Aber es gibt immer noch die Innenwelt, den Blick, der mitgestaltet, weil er genauer sieht und ein Sehen ermöglicht, das alles ändern kann.
Meine Innenwelt möchte dieser äußeren Regie der kollektiven Gedanken widerstehen, ich kann sie lesen, das genügt; also verschlingt sie mich auch nicht. Eine starke Ruhe kehrt in mich ein. Mein Kind sieht mich in diesem Augenblick an, in dem sich alles in mir neu sortiert. Gregor schaut erst unsere Tochter, dann lange und ausdauernd mich an. Ohne zu sprechen wissen wir beide, was wir in diesem Augenblick denken. Denn so viele Jahre haben wir uns immer wieder gefragt, was in unserer Zeit an der Stelle eines Kriegs auf uns zukommen könnte, das unser aller Leben verändert. Wir haben über Wasserknappheit nachgedacht, über Klimakatastrophen, über die Gier der wenigen Reichen, über Diktaturen. Aber so etwas haben wir uns nie vorstellen können. Jetzt ist eine Zeitenwende da, und wir sind ihr Anfang, der anderen einmal Geschichte sein wird. Es könnte lange dauern, denke ich. Mein inneres Leben greift gleichsam von alleine auf tiefere Flüge der Seele zurück, die Brücke ist einmal mehr das Buch, diese Welt aus Blättern, die mir schon so viele Male das Leben gerettet hat, die mich zum Atem geführt hat, der aus der Ruhe kommt. So auch jetzt, es finden mich Texte und Sätze und Lieder, die mich aufrufen, in mir die Landschaft der Seele weiten und wachsen zu lassen, das zu stärken, was immer schon geweitet werden und immer schon wachsen wollte. Denn jetzt ist diese Zeit des Wachsens und des Werdens. Ich lese, magnetisch davon angezogen, in Hans-Werner Henzes „Phaedra-Werkbuch“ die Zeilen aus Christian Lehnerts Libretto, da spricht Minotauros im „König der Wälder“ die Zeilen, die mir diese Innenzeit aus dem Herzinnenraum stützen: „Der Tag rennt über das Gebirge, Erscheinung/ eines unvollendeten Sees, dunstiger Spiegel./ Wir sind nackt geboren. Wir dringen/ zur Sterblichkeit vor und tanzen./ Wir drehen uns, drehen, wie ein Uhrwerk,/ wie ein Vogel kreist,/ der den Widerstand/ des Todes unter den Schwingen fühlt und schlägt,/ singt und schlägt, wilder als alles Vergängliche.“ Minotauros ist ein Mischwesen aus Tier und Mensch, das dem Mythos nach von König Minos in ein Labyrinth verbannt wird, da sich seine Ehefrau dem wilden Stier hingab. Mit Hilfe des Ariadnefadens fand Theseus einen Weg durch das Labyrinth und tötete den Minotauros. Befinden auch wir uns in einem Labyrinth? Der symbolisch im Unsichtbaren unserer Zeit und in unserem Körper wirkende Minotauros, der Menschenfresser, wie weit wird er gehen? Und was will er eigentlich mir erzählen, wenn ich vom „wir“ zum „ich“ gehe und zum „du“ und wieder zum „wir“ und zurück zum „ich“ im Denken zurückkehre und aus der Verschmelzung heraus die Verbindungslinien abtaste?
Seit ein paar Tagen sind die Zeilen von Rilkes Panthergedicht Teil meiner Berliner Luft. Nur kurze Zeit nach Ausbruch der Pandemie, als ich mit Gregor am Esstisch saß und unsere Tochter schlief, kam das Gedicht mir mit einer solchen Nachdrücklichkeit in Erinnerung, dass ich es nachlesen musste. Die Stadt stand still wie im Traum. Blitzartig trat in meinem Bewusstsein die Empfindung auf, alle meine Nachbarn dazu einzuladen, es jeden Abend um 20 Uhr auf unseren Balkonen zu sprechen. Gregor zog sofort seinen Conrady aus dem Bücherregal. Im Haus, das wir in einem jahrelang währenden Prozess mit unseren Nachbarinnen und Nachbarn gebaut haben, leben an die hundert Leute und mittlerweile sind Kinder zur Welt gekommen. Die Tage zuvor hatten die Menschen in Italien auf ihren Balkonen oder am Fenster gesungen. Freunde und Bekannte, denen ich von Rilkes „Panther“ erzähle, lesen das Gedicht jetzt auch in Tel Aviv, Bremen, Basel, Sieversdorf in Brandenburg, Frankfurt am Main und St Andrews in Schottland mit. Endlich ist es also Zeit für Gedichte. Meine Freundin Regina ist sofort mit der Tiefenlandschaft Rilkes verbunden. Die Gnade der Freiheit ist größer als das unersättliche Volumen unserer Wünsche. Regina weiß das, sie weiß, dass Gedichte einem das Leben retten können. Ich sehe in der Pantherzeit eine Phase der vielfachen Spiegelungen, es ist eine gebündelte Zeit, Zeit in Zeit gelegt, damit wir sie umblättern. Paul Celan hat eines seiner Gedichte „Corona“ genannt. „Es ist Zeit“, heißt es darin. Ich will schauen lernen und sehen, was die falschen Wünsche machen und was der Spiegel meiner Zeit mir sagt. Denn ein jeder von uns ist diese Zeit. Wir sind inneren und äußeren Uhren ausgesetzt. Wir sind Mitarbeiter am Uhrwerk der Welt. Von Anfang an spüre ich, dass meine eigenen Lebensthemen, auch der seit Anfang des Jahres auf sich aufmerksam machende Schmerz in meiner rechten Hand, noch dringlicher auf ein Hinhören pochen. Das Persönliche ist immer auch ein Ausschnitt des Ganzen. Das mag auf den ersten Blick unbehaglich sein, da wir unser Ich dabei zu verlieren glauben, aber auf den zweiten Blick ist es noch unbehaglicher, das Unbehagen bleibt, lange. Denn das Ich verwandelt sich, ohne uns zu fragen – weil es uns kennt. Es dauert, bis das Unbehagen in Wissen übergeht. Teile davon verschwinden aber auch zugunsten eines neuen Selbst, das uns der Schmerz, der Verlust und die Not zuspielen. Wilder als alles Vergängliche ist unser Wunsch zu leben. Die Verwandlung bleibt nicht aus. Der Schmerz, die Verletzlichkeit, die Krankheit sind oftmals ihre Fürsprecher. Wir verwandeln etwas in uns in winzigsten Augenblicken, das Jahre, manchmal Jahrzehnte in uns gewirkt hat. Dann dreht sich der Wind in unserem Geist, die Seele fängt an zu sprechen. Pantherzeit ist Seelenzeit. Die Seele ist jenes Epizentrum in uns, das Stefan Zweig in seinem Aufsatz über Sigmund Freund mit Kraft und Widerstand in Verbindung gebracht hat, als er schrieb: „Das sicherste Maß jeder Kraft ist der Widerstand, den sie überwindet.“ Etwas stürzt um und wird wiederaufgebaut. Neu. Es hört für immer auf, uns zu schonen. Anders als vorher. Anders schon dadurch, dass es uns überrascht hat. Und da ist. Unwiederbringlich. Was wird jetzt in uns, mit uns und für uns überwunden? Der Spiegel und seine Versprenkelungen sind eine Sprache, so, wie auch der Traum eine Sprache ist, über den Sigmund Freud sagte, es sei der Königsweg zum Unbewussten. Wege und Umwege sind meine Lebensbücher. Eine Lektüre, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander bündelt und in ein Bild führt, ist mehr als ein äußerer Ort je sein kann. Wege und Umwege sind Abbilder unseres inneren Seins. Das Labyrinth legt sich nie schlafen. Ich denke an einen ersten Gedanken zurück, der in mir aufstieg, als ich Gregor kennenlernte und das begann, was bis heute unsere Liebesgeschichte ist: dass ich jeden Schmerz, jeden Umweg, jeden Hunger, jede Not noch einmal freiwillig erleben würde, wenn dies die Bedingung dafür wäre, ihn in diesem Leben treffen zu dürfen. Und nun sind wir gemeinsam mit unserem Kind eingeschleust in diese zersplitterte Zeit, in der ich mit keinem anderen Menschen so leben, so bestehen könnte wie mit ihm. Ich bin dankbar, dass ich dankbar sein kann.
Merkwürdigerweise steigt dieser Tage zeitgleich zu meiner Dankbarkeit allabendlich in großer Deutlichkeit meine sozialistische Kindheit mit Rilkes Worten in mir auf, jene Zeit der blauen Schuluniformen, der Pioniersterne und des tagelangen Hungerns, die sich mir, je länger der Ausnahmezustand dauert, als ein innerer Ort der verdichteten Stille zeigt, auf die ich zurückgreifen kann, wie man mit nackten Füßen auf einer Sommerwiese geht. Dieses Gefühl verbindet mich mit meiner ureigenen geistigen Arche Noah. Was wird vom Alten für das Neue überleben, was mitkommen auf die andere Seite der Zeit? Meine Mutter kommt mir in den Sinn, ein Bild von ihr, wie sie zwei junge Schlangen tötet, die sich in der Sonne eines Sandbergs vor unserem dalmatinischen Haus niedergelassen haben. Schlangen gelten hier als das Böse. Aber wie Mutter auf sie einschlägt, sieht es für mich wie Sünde aus. Was wird mir dieses Bild und die Frage nach dem Erbe der Zeit noch alles erzählen wollen? Schwarze Schlangen, diese Hüterinnen der Schwelle, ich habe sie nie vergessen. Getötete, tötende und heilende Schlangen: ich habe Kunde von allen.
Das Jüdische Museum in Berlin baut seit zwei, drei Jahren für ein Kinder- und Jugendmuseum eine riesige Arche Noah aus Holz. Diese Koinzidenz, mit Blick auf die leeren Büroräume des Museums in der alten Blumengroßmarkthalle, auf die ich jeden Tag schaue, ist in meiner Innenwelt ein großes Ereignis. Überhaupt ergreift mich das in den Jahren der Einsamkeit eingeübte Erstaunen über die präzisen Verstrebungen von Innenwelt und Außenwelt mit immer größerer Vehemenz. Die Arche Noah des Jüdischen Museums gleicht ein bisschen den visionären Entwürfen des amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller. Fast kann ich über ihr seine geodätische Kuppel sehen, eine Art spirituelle Biosphäre, in der das zu rettende Erbe in meiner Vorstellungskraft seinen Platz in der Luft erhält. Wir atmen diese Luft ein, die uns Leben ist und Raum und Zeit und Geschenk. Heute habe ich wieder, wie mit noch nie dagewesener Kraft, das Aufsteigen neuer, starker Gedanken in mir beobachtet. Die Gnade und das Geschenk sind gute Gründe, dankbar zu sein auch für das Allerkleinste.
Die Dankbarkeit fühlt sich aber auch manchmal, wenn ich spazieren gehe, geradezu verboten an, denn dankbar bin ich auch dafür, dass die Stadt uns Fußgängern und Fahrradfahrern wieder oder überhaupt zum ersten Mal in unserem bisherigen Leben richtig gehört. Ganze Straßenzüge um den Checkpoint Charlie, diese Chiffre sinnloser touristischer Unternehmungen, bei denen die Weitgereisten recht besehen gar nichts sehen – warum also nicht gleich in der sanften Vorstellungskraft reisen? –, sind leer; eine ursprüngliche Schönheit zeigt sich mir darin, weil niemand mit dem Auto und kaum jemand zu Fuß unterwegs ist. Ich sehe einmal, in den frühen Morgenstunden, in der Leere der Straßen plötzlich die Tiefe der Geschichte aufscheinen, als ein im Raum harrendes Herzensecho der Schicksale und Gefährdungen all jener, die in dieser einst geteilten Stadt und an dieser Straße und an diesem Checkpoint einmal standen, als es um alles ging – um ihr Leben.
Jetzt, anders gelagert und doch, geht es in diesem seelenwetterwendischen Frühling um alles, was wir sind, wie wir leben und atmen und auch darum, wie wir weiterleben und weiteratmen wollen. Ich lerne nun noch genauer, auch die leiseste Regung in mir zu lesen. Und wenn ein Mensch sich in der Ferne zeigt, steigt in mir das gleiche wie in der von Einsamkeit geprägten Kindheit lieb gewordene Erkennen des Anderen als atmendes Gegenüber auf. Auch dafür empfinde ich nun Dankbarkeit, dass da einer geht und steht und in den Himmel guckt. Da, da geht ein Mensch, sage ich meiner Tochter, die vorne auf dem Fahrrad ganz nah bei meinem Atem sitzt. Ja, sagt sie, ja. Jetzt sind unsere Lungen nicht nur an ein unsichtbares Pneuma angebunden, sie sind auch potenzieller Austragungsort des Virus, der uns unheimlich ist und uns ungeahnten Gefährdungen aussetzt – und wir können kein Widerwort leisten, der Wind geht, wie er will und der Geist sieht uns an wie er will. Unsere Lungen, sie sind uns also Lebenszeichen und Verhängnis in einem geworden. Kommt es jetzt mehr denn je darauf an, wie wir atmen und was wir sagen und wie wir es, in welchem Atemmodus, zum Ausdruck bringen, was wir denken und was wir fühlen? „Der Atem nimmt sich unserer Schwachheit an“, heißt es im Römerbrief des Paulus. „Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen, der Atem selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können.“
Alles ruht. Die Luft scheint befreit von unseren Sorgen. Obwohl sich so viele Menschen gerade jetzt Sorgen machen, ist eine neue Leichtigkeit vernehmbar. Der Himmel ist zur Pantherzeit überaus klar. Auch die Gedanken der Menschen scheinen zur Ruhe gekommen zu sein, einzeln vernommen, haben sie wirkliches Gewicht, sprechen sofort zu mir, bieten sich, da alle im Außen leise und unsichtbar geworden sind, als begehbare Kontinente an. Igor aus Belgrad schrieb mir, er lese jetzt zum wiederholten Male „Die Pest“ von Albert Camus, es gefalle ihm jetzt besser als vor vielen Jahren. Er, der das Glück hatte, lebend dem belagerten Sarajevo zu entkommen, sieht das Ende jener Epoche eingeleitet, die 1990 mit den jugoslawischen Kriegen begann und nun, in diesem göttlich klaren Frühling 2020 mit einer Pandemie zu Ende geht, die uns ausnahmslos alle betrifft. Die längste Belagerung einer Stadt im Zwanzigsten Jahrhundert, die 1425 Tage währte, konnte noch dem einen oder anderen von uns egal sein. COVID-19 ist niemandem egal, jeder ist vom Virus potenziell betroffen und eingeschränkt.
Wir nehmen mitten in der Pandemie Abschied von der alten Zeit und in diesem neuen Zeitzwischenraum sind wir nun Menschen, wie wir noch nie Menschen waren. Ich lese zufällig, ein Zufall, der wieder einmal Fügung ist, seit ein paar Wochen Ossip Mandelstam, der in einem stalinistischen Lager bei Wladiwostok ums Leben kam. In seinem am 4. Mai 1937 für seine Frau Nadeshda geschriebenen Gedicht „Die leere Erde unwillkürlich rührend“ notiert Mandelstam: „Denn alles wird auf immer neu beginnen.“ Wenn es ihm möglich war, in jenem Jahr, in dem Stalins Großer Terror einsetzte, eine solche Zeile zu schreiben, dann ist es mir hier und heute möglich, diesem Satz zu vertrauen, ihm zu glauben. Denn was können wir heute tun, da wir nicht einmal mehr wissen, was „unsere Metamorphosen“ und „unsere Mythen“ sind, die Joseph Brodsky erwähnte, als er Mandelstam einen modernen Orpheus nannte: „Er wurde zur Hölle geschickt und kehrte nicht zurück, während seine Witwe, ein Sechstel der Erdoberfläche durchmessend, von einem Schlupfwinkel zum nächsten flog, den Kochtopf fest an sich gedrückt, in dem zusammengerollt seine Gedichte lagen, die sie sich nachts immer wieder hersagte für den Fall, dass sie von Furien mit einem Durchsuchungsbefehl gefunden würde. Dies sind unsere Metamorphosen, unsere Mythen.“
Ich weiß nur zu gut, dass wir alle sterblich sind. Aber ich weiß auch, seit drei, vier Tagen kommt mir dieser Gedanke immer wieder so, wie die Sonne aufgeht: Ich habe ein Schicksal und ich lebe im Frieden. Meine Metamorphosen, meine Mythen sind an innere Schauplätze gebunden, dort, im Geistigen, harren die Verwandlungen meiner Arbeit an der Biografie. Von Kindheit an habe ich bei jedem Abschied gelernt, dass mein Inneres ein erlebbares Land ist (so wie es, davon bin ich überzeugt, für alle Menschen in der Kindheit der Fall war), dass ich viel alleine unternehmen kann in diesem weitverzweigten Land, aber dass das nicht reicht für das, was wir gemeinhin Leben nennen, dass das Teilen mit einem anderen Menschen das Wichtigste ist – nur so ist mein Leben wirklich und wahr. Kinder spielen heute nicht mehr Knöcheln mit den Wirbeln verendeter Tiere, wie sie Mandelstam in einem seiner Gedichte sichtbar gemacht hat. Aber auch für uns und die Kinder unserer Zeit endet nun das, was er die „zerbrechliche Zeitrechnung unserer Ära“ genannt hat und von der wir, anders als Mandelstam, geglaubt haben, es stehe uns für immer zu. Nun aber ist das aussprechbar geworden, was ich früher nur zu schreiben vermocht habe. Alles ist ein unermessliches, ein freiwilliges Geschenk. Jedes Lächeln, jeder Apfel, jedes Buch, auch jeder Satz, den einst ein offener Mensch uns sagte, vor allem aber das Leben selbst, diese rätselhafte Natur in uns, die uns stets weitermachen lässt in Wildheit und Sanftmut, in Wahrhaftigkeit und in Lüge, in Freiheit und in Krankheit, in Not und in der Wärme einer Landschaft, in wundersam wiederkehrender sommerlicher Weite. Mit einem Mal geht alles anders, wird neu, das Alte scheint auch im Denken abzusterben. Selbst das Geld wird anders verteilt, jetzt, da wir von Tel Aviv bis Basel und Belgrad, von Split bis Columbus, Ohio und ins kalifornische Berkeley in der mehr oder weniger gleichen Lage sind. Zimmerreisende sind wir innerhalb weniger Tage geworden, wir wachsen innen, so wie die Zimmerlinden schon seit immer wachsen. Mit jenen zusammen, denen wir über die Jahre hinweg zu vertrauen gelernt haben.
Ich bin froh, dass ich Papier und Tinte zu Hause habe und dass es mir wieder gelungen ist, meine Tochter friedlich in den Mittagsschlaf zu begleiten, ohne dass sie geweint hat, was sie macht, wenn sie zu müde ist, zu viel erlebt hat oder die Zähne sich melden. Heute hat sie sich an mich gelehnt und im aufkommenden Schlaf hat sie nach meiner Hand gegriffen, wie um sich zu versichern, dass ich noch bei ihr bin. Ihre kleine Hand, diese große Lehrerin meines Lebens, hat mir in den neunzehn Monaten unseres Beieinanderseins so viel über Güte beigebracht wie es weder Buddha noch Jesus, die meine mir nächsten Herzensgewährsleute sind, bisher gelungen ist. Ich erinnere mich an die unerbittliche Erschöpfung in den ersten zwei, drei Monaten nach der Geburt meiner Tochter. Freundinnen hatten mich darauf vorbereitet. Meine Tochter kam in jenem Jahrhundertsommer 2018 zur Welt, der mir heute wie ein Vorbote dieser seelisch aufgeheizten Innenzeit erscheint. Eines Nachts, als meine Tochter ein paar Wochen alt war, war ich so erschöpft, dass ich in Tränen ausbrechen wollte, die Müdigkeit hielt mich gleichsam so fest umklammert, als sei sie mein eigentlicher Körper geworden. Ich widerstand den Tränen, irgendetwas in mir wehrte sich dagegen, sei nicht so weinerlich, hörte ich in mir meine eigene Stimme, die den Tränen Einhalt gebot. Ich sah zu meiner rechten Seite und erblickte die winzig kleine Hand meiner Tochter und dachte: Ich diene dieser kleinen Hand. Sogleich ging die Schwäche in eine tiefe Liebe über, und die dann geweinten Tränen waren ein anderes Wasser. Ich spürte, dass etwas wesentlich neu in mir geworden war. Wie einst in der Kindheit sah ich, dass nicht unser Ich das Wesentliche ist, sondern dass aus unserem ureigenen Selbst Liebe für ein anderes Wesen wirklich möglich ist. Einst hatte ich diese Hingabe gespürt, wenn ich die Füße meines Großvaters im Lavabo wusch, wenn ich ihn mit seinem einfachen Rasierer von seinem Bart befreite oder ihn an- und auszog, wenn er krank war und sich selbst nicht mehr helfen konnte. Damals war das Kind in mir zu allem bereit und nun erinnerte mich meine schlafende Tochter wieder daran, dass ich noch viel mehr Kraft aufbringen konnte als ich bisher geglaubt hatte. Woher kommt sie, diese wilde, schöne, unsterbliche Kraft? Je größer das Geheimnis, desto wundersamer seine Strahlkraft. Auch jetzt, jeden Abend um 20 Uhr ist sie da, eine Art innere Sonne, Bereitschaft, nicht im Alten zu verharren. Meine Pantherzeit. Die Anwesenheit eines Dichters, der so viel vom Verzicht, vom Schmerz und von der Not wusste und seinen inneren Weg im Außen mit Sprache sichtbar gemacht hat. Nun ist er bei uns, über die Zeiten hinweg hat sich seine im Lebensatem errungene Poesie erhalten. Weil wir offen geworden sind, von der Gefahr umzingelt, die nun seit ein paar Wochen zu uns allen auf die gleiche Weise spricht, können wir seinem Atem nachreisen und seine Worte sprechen, ohne uns lächerlich vorzukommen. Was auf der jetzt entstehenden geistigen Arche Noah strandet, erfüllt mich mit der Kraft der Dankbarkeit, Rilke kommt mit, Rilke und seine Worte: „Ich habe keine Furcht vor dem Krankhaften, denn ich will es nicht festhalten, sondern nur durchmachen und überstehen.“ Diesen Satz von ihm hatte ich mir vor vielen Jahren aufgeschrieben, als meine rechte Hand wehtat, wie sie jetzt wieder wehtut, unerbittlich, sodass jeder Buchstabe ein Anklopfen beim Schmerz ist. Aber ich schreibe weiter, dieses Mal werde ich mich nicht fügen, sondern mit dem Schmerz gehen, mit ihm das verstehen, was sich meiner Sprache entzieht. Das Virus ist jetzt zudem in unser aller Denksphäre eingezogen, noch bevor es unseren Körper ins Visier genommen hat. Was kann ich tun, wenn ich gar nichts tun kann? Immer werde ich in Momenten der Ohnmacht wieder zur kleinen Pionierin aus der sozialistischen Kindheit und denke, nun kann sich niemand mit Geld von dieser Gefahr freikaufen. Eine andere Währung kursiert jetzt in der Welt, auch wenn das Kapital an ihr nagt, sie ist nicht mehr aus dem Leben wegzudenken: die Seele ist erwacht. Alles, was uns innerlich ausmacht, kommt nun zum Tragen. Die Seelenwelt des unbeweisbaren Innenkerns, sie erscheint nun in unseren Worten, in allem, was wir dieser Tage tun – das Unnötige, es fällt mir auf, weil es wegfällt.
Ich diene weiter der kleinen Hand, die mein Kind mir hinhält. Plötzlich tragen alle einen Mundschutz, und die Spielplätze in der Stadt sind geschlossen. Meine Nachbarin Gillian hat ihrer Tochter erzählt, dass sie noch eine Weile wegen des großen Hustens geschlossen bleiben werden. Eine Formulierung, die auch wir übernehmen. Der große Husten, er will einfach nicht vorbeigehen. Wir sprechen auch sonst immerzu mit unserer Tochter, erzählen ihr alles, berichten, was wir in dieser Wohnung, in der wir seit ihrer Geburt leben, alles getan haben, dass wir kein Licht hatten, keine Heizung, keine Küche. Sie staunt. Unser schöner Teppich aus orange-geknüpften Fäden leuchtet, wenn die Sonne ihn streift, und unsere Tochter sagt immerzu ja, ja, so als sei es unnötig, sie darauf hinzuweisen, als sei alles schon in ihrem Bewusstsein abgespeichert, längst wahrgenommen in ihrer sprachlosen Zeit als Kleinstwesen, als sie auf unserem Sofa lag und der kalifornische Kuschelbraunbär neben ihr saß wie ein wildes Wunderwerk Gottes, groß, weich und überirdisch beeindruckend. Nun ist der Bär winzig, sie wächst, wir alle wachsen im Unsichtbaren miteinander. Wie sich jetzt herausstellt, hat die kleine Hand mir etwas Wichtiges beigebracht, das nun von elementarer Bedeutung für mich geworden ist. Nicht ein Mal war ich versucht zu weinen, seitdem die ganze Welt durch das Virus gefährdet wird. Statt zu weinen, handle ich. Vor allem in mir selbst. Und in dieser Konsequenz auch für meine Familie. Ich vertraue darauf, dass die Kraft reicht, und wenn ich müde bin, folge ich dem Ruf des Körpers, so als würde diese als Krise bezeichnete Zeit mir endlich den Druck nehmen und mich dahinführen, wo ich fortwährend echt bin. Wohin sollte ich jetzt auch gehen, alles findet mehr oder weniger in der Wohnung statt. Die Vögel fliegen weiter umher. Oder doch anders als letzten Frühling noch, in dem mich die Lautstärke der Busse und Autos belastete. Dieser Krach! Dieses laute Getöse, diese Stadt! Nun, da das Undenkbare Alltag geworden, ist es ruhig, wir hören nur noch die Vögel. Der Himmel leuchtet blau, als sei es so schon vor Jahrhunderten abgesprochen worden mit dem kosmischen Zeremonienmeister, der uns mit jeder im Außen verbrachten Minute vor Augen führt, wie schön die Blumen, die Bäume, die Sträucher sind.
Gestern hat meine Nachbarin Janine eine Sammelbestellung im Haus aufgenommen und ist zum „Holländer“, einem Berliner Großmarkt für Pflanzen gefahren. Alle Pflanzenfreunde im Haus warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Nach ein paar Stunden kehrte sie mit meiner weißen, hochwachsenden Hortensie zurück, um die ich sie, ohne viel Hoffnung auf Erfolg, gebeten hatte. Ich hätte Janine am liebsten umarmt, aber auch das ist jetzt eine Übung im Geist. Das Erfühlte muss ich nun, wie unzählige andere Menschen auch, in mir selbst still als Handlung vollziehen. Ist das jetzt die messianisch anmutende Zeit, in der wir leben und von der jene geschrieben haben, deren Denken und Leben ich bewundere und mit meinem eigenen abklopfe? Wer aber ist der Messias? Vielleicht wir alle zusammen. Ausnahmslos jeder Einzelne. Nun lässt mich auch der Gedanke nicht mehr los, dass wir die seltene historische Gelegenheit haben, mit wachen Augen zuzuschauen, wie die alte Zeit von uns abgefallen ist und die wahren, tiefempfundenen, wirklich echten Umarmungen sich anfühlen. Ich glaube, das Wahre, das Tiefempfundene, das Echte wächst auf allen Ebenen unseres Seins gerade neu nach. Die entleerten Umarmungen und Küsse tun es vielleicht auch. Der Frühling ist uns vorausgegangen. Wir sind die Farben, die ihn nicht verraten dürfen.
Ich schaue auf die Hortensie und schätze mich dermaßen glücklich, sie auf meinen kleinen Austrittsbalkon im Arbeitszimmer stellen zu können, dass mir Janines Ausflug zum Pflanzenhändler nicht nur wie ein unfassbares Abenteuer erscheint, sondern auch als eine unendlich kostbare kleine Reise, die mich nun für immer mit ihr verbindet. Der Frühling scheint durch sie auch für mich gerettet. Seitdem die Hortensie da ist, fühle ich mich wieder mit der Welt verbunden. Dann fällt mir ein, dass ich noch einige neue Blumentöpfe brauche und Erde und Untersetzer und – all das erscheint in der alten Selbstverständlichkeit des Losgehens und Besorgens vollkommen unerreichbar, weit, weit weg, sodass es sich wie etwas aus einem Film anfühlt, den ich wieder anschauen muss, weil ich ihn irgendwann nicht zu Ende gesehen habe. Am Abend dann, nach der Pantherlesung um 20 Uhr, sehe ich Christian und Anke über den Lichthof hinweg, sie packen etwas aus, das nach Einkäufen im Gartencenter aussieht. Heute schon, nachdem wir uns zu dritt zum Einkaufen rausgewagt haben, ohne Schutzmaske, aber mit Schal vor dem Mund, wild entschlossen, Milch, Eier und Butter zu kaufen, habe ich wieder die Freiheit des Gehens empfunden. Ich plane jetzt selbst, zum Gartencenter zu fahren. Dieses Virus darf mir nicht meine frühjahrsgärtnernden Finger verbieten. Ich lebe. Oh ja, sagt meine Tochter und kann jetzt auch Noah sagen. Oh ja, sage auch ich, oh ja, Noah. Und noch immer staune ich darüber, dass ich für unsere Freundin Sarah zwei Kilo Kartoffeln gekauft habe, zwei Kilo Kartoffeln, die Gregor ihr morgen in aller Frühe auf dem Fahrrad bringen wird, da ihr Lieferdienst irgendwie keine oder keine guten Kartoffeln im Angebot hat. Auch das ist von einer Merkwürdigkeit, die mir vor einem Monat nur noch aus den Erzählungen meines Großvaters und aus Büchern anderer hungernder Menschen bekannt war. Ich staune zudem nicht, als Sarah anbietet, uns bei der Kartoffelübergabe Schutzmasken zu geben. Ich bringe sofort die Kunde weiter. Wir freuen uns. Das kennen wir bisher nur aus Science-Fiction-Filmen. Jetzt ist es so normal, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken.
Keiner von uns weiß, wie lange dieser Zustand anhalten wird, diese wie aus der Filmatmosphäre der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in unsere Welt hinübergeschleuste partikelweise flimmernde Zeit, in der ein neuer Druck, eine nie gekannte Dringlichkeit in allem als Spiegelung spricht. Vielleicht leben in der Luft gerade verschiedene Zeitschichten und sprechen sich ab, fließen mal hier-, mal dorthin, und dann wächst auch die Zeit irgendwann wieder in ihren Rhythmus hinein, so wie die echten Umarmungen nachwachsen. Die Bäume erholen sich unterdessen, die Autos und Busse und Lastwagen, die ich auf unserer Straße sonst von morgens bis abends und auch nachts gehört habe, sind nun weniger geworden, ruhen sich irgendwo aus, während die Natur sichtbar wird und mit jeder Stunde mehr zu sich kommt, in der wir sie endlich in Ruhe lassen. Die gute Luft beim Gehen, sie ist mir seit gestern das Zeichen einer wachsenden Freiheit, die mit der Unfreiheit einhergeht, die uns nun die Sicherheit bringt. Manchmal sind für Minuten gar keine Autos zu sehen und das euphorisiert mich und meine Ohren, wenn ich vom Balkon, an den alten Stieleichen vorbei, in die Ferne sehe. Dieser Blick, der sich an jedem Menschen erfreut, der plötzlich aus dem vom klaren Licht umflorten Nichts auf der unserem Haus vorgelagerten Promenade erscheint, der ist in der einsamen Dorfkindheit entstanden. Wieder also eine Erfahrung der tiefen Anteilnahme, wieder und immer wieder neu Dankbarkeit, einen Spaziergänger zu entdecken. Jemand sagte mir, dass auch Hunde COVID-19 bekommen können und dass einige Hundebesitzer daraufhin sofort ihre Tiere ausgesetzt hätten. Eine Nachbarin aus dem Haus, das im Viertel als das Metropolenhaus bekannt ist, liest jetzt Hilde-Domin-Gedichte auf ihrem Balkon. Ich lese abends noch immer aus dem Mandelstam-Buch und denke an all die Menschen, die manchmal bis zu siebentausend Tage in sibirischer Gefangenschaft ausgeharrt haben und als Überlebende vom Schrecken dieser eisigen Zeit erzählen konnten. Das Erzählenwollen stärkte ihren Willen.