Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)

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Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)
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Ein Dank an die Pädagogische Hochschule Luzern und an Claudio Minutella sowie an die Pädagogische Hochschule FHNW für das zur Verfügung gestellte Fotomaterial.

Marcel Felder, Mathis Kramer-Länger, Roger Lille, Ursula Ulrich

Studienbuch Theaterpädagogik

Grundlagen und Anregungen

ISBN Print: 978-3-0355-1535-0

ISBN E-Book: 978-3-0355-1536-7

Dieser Band erschien von 2013 bis 2018 über die Publikationsstelle der Pädagogischen Hochschule Zürich (Verlag Pestalozzianum).

4.Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

1. Einführung in die Theaterpädagogik, von Roger Lille

1.1Annäherung an den Begriff

1.2Ziele theaterpädagogischer Arbeit

1.3Theaterpädagogik im schulischen Umfeld

1.4Zur Entwicklung der Theaterpädagogik seit den 1970er-Jahren

«Aus den Städten, in die Dörfer!»

1.5Die grossen Lehrmeister

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski

Bertolt Brecht

Jerzy Grotowski

Augusto Boal

Lee Strasberg

Keith Johnstone

1.6Drama in Education oder: Vom englischen Selbstverständnis

1.7Laienspiel und Schulspiel

1.8Trends

1.9Zusammenfassung

2. Felder der Theaterpädagogik, von Mathis Kramer-Länger

2.1Einleitung

2.2Theaterpädagogik im Schnittbereich von Theater, Pädagogik und Therapie

Theater und Pädagogik

Therapie

2.3Theaterpädagogik als konzentrische Felder Theaterspielen und Theaterschauen

Theaterpädagogik als Initiieren und Begleiten von Spielprozessen

Theaterpädagogik als theatraler Bildungsprozess ohne eigene Spielerfahrung

2.4Felderdefinition über Ziele der Theaterpädagogik

Theaterpädagogik mit dem Ziel, Wissen und Können über Theater aufzubauen

Theaterpädagogik mit dem Ziel, an fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen zu arbeiten

2.5‹Erziehung zum Theater›, ‹Erziehung durch Theater› und ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln›

Erziehung zum Theater

Erziehung durch Theater

Erziehung mit theateraffinen Mitteln

2.6Theaterpädagogik als Teil ästhetischer Bildung

2.7Zusammenfassung

3. Theaterspielen in der Schule, von Marcel Felder

3.1Einleitung

3.2Theater und Schule: Warum Schultheater

3.3Ästhetische Bildung in der Schule: Chancen des Schultheaters

3.4Qualität im Schultheater

Qualität des Spiels

3.5Von Wirkungen und Nebenwirkungen des Theaterspielens

3.6Theaterpädagogik als Methode für Bildungsprozesse im Unterricht

3.7Ausblick: Theater und Schule in der Schweiz

3.8Zusammenfassung

4. Theater – was ist das?

4.1Einleitung, von Mathis Kramer-Länger

4.2Spielen: Körper, Stimme, Bewegung, Figur, von Andi Thürig

Von aussen nach innen

Von innen nach aussen

Biografische Theaterarbeit

Figurenarbeit

4.3Sprechen: Sprache, Dialog, Text, von Roger Lille

Muttersprache oder Hochdeutsch, Standardsprache oder Mundart?

Sprachübungen – Sprechübungen

4.4Raum: Spielort, Bühne, Licht, von Roger Lille

4.5Material: Maske, Kostüm, Requisit, Objekt, von Marcel Felder

Maske

Kostüme

Requisiten und Objekte

4.6Interaktion: Beziehung, Bewegung, Rhythmus, Choreografie, Tanz, von Roger Lille

Beziehung und Bewegung im Theaterspiel

Choreografierte Bewegung

4.7Musik: Geräusch, Klang, Ton, von Mathis Kramer-Länger

Geräusche und Klänge

Bestehende Musik

Entstehende Musik

Sprechen und Singen

4.8Thema: Geschichten, Texte, Bilder, von Ursula Ulrich

Thema – Stoff – Form

Thema, Stoff und Form konkretisiert an praktischen Beispielen

Die Wirkung des Themas

5. Arbeitsweisen

5.1Einleitung, von Roger Lille

5.2Spielleitung – Spielregel – Spielgruppe, von Roger Lille

Theaterarbeit ist Projektarbeit

Projektarbeit und Spielgruppe

5.3Theatrale Spielgrundlagen, von Ursula Ulrich

 

Vom Sinn und Zweck theatraler Spielgrundlagen

Spontaneität und persönliche Freiheit

Prinzip Anfang

Vielfalt der theatralen Spielgrundlagen

Konkrete Spielbereiche – ein erprobter Pfad

Thematische und unthematische Spieleinheiten

5.4Improvisation, von Mathis Kramer-Länger

Improvisation als Spielprinzip in Aufführungen

Improvisation als Arbeitsprinzip in Theaterpädagogik und Schauspieltraining

Improvisation als zentrale Arbeitsweise theatraler Such-, Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse

Improvisation als Arbeitsweise szenischer Gestaltungsprozesse

5.5Szenisches Gestalten, von Mathis Kramer-Länger

Die Rolle der Spielleitung

Verantwortung für den künstlerischen Ausdruck

Verantwortung für die ‹Geschichte›

Verantwortung für Raum, Musik und Ausstattung

Verantwortung für die Spielerinnen und Spieler

Resümee

5.6Dramaturgische Modelle und Spielstrukturen, von Marcel Felder

Der klassiche Stückaufbau

Geschichten entwickeln

Dramaturgische Modelle

Modellbeispiele von Spielstrukturen

5.7Spielen und zuschauen, von Roger Lille

Prozessinvolvierte als Zuschauende

Das Publikum von aussen

6.Aspekte einer theaterpädagogischen Grundhaltung, von Ursula Ulrich

6.1Einleitung

6.2Spielleitung auf den ersten Blick

6.3Grundverständnis Spiel–Leiten

Spiel

Leiten

6.4Kleiner Exkurs: Reformpädagogik

6.5Grundhaltung, Aufgaben und Wege

6.6Experimentierlust

6.7Zusammenfassung

7.Planungsmodelle, von Ursula Ulrich

7.1Einleitung

7.2Phasenmodelle im Vergleich

7.3Theater machen – ein roter Faden

Ein erster Überblick

Wie kann «Theater machen – ein roter Faden» genutzt werden?

Die Phasen im Detail

Anhang

VORWORT

Wie es sich fürs Theater gehört: Zu Beginn ein kleines Spiel.

Halten Sie kurz inne und betrachten Sie sich selbst: Wo lesen Sie diese Zeilen? Wie ist dieser Raum gestaltet? Was ist das für eine Situation, in der Sie sich befinden? Für welches ‹Kostüm› haben Sie sich heute entschieden? Wer befindet sich sonst noch in diesem Raum? Wie verhalten Sie sich diesen Personen gegenüber? Wo gehen Sie nach dem Lesen dieses Textes hin? Was würde jemand denken, der Sie, jetzt eben, in ihrer Haltung sehen würde?

Die Theater-Metapher, das Bild der Welt als Bühne, ist uns allen vertraut. Ob bewusst oder unbewusst spielen wir unsere Rollen auf den zahlreichen Bühnen des Lebens. Pausenlos inszenieren wir uns: wir gestalten unsere Welt, unsere Mitwelt und Umwelt, im öffentlichen wie im privaten Bereich, im Klassenzimmer oder zu Hause. Wir können gar nicht anders. Und selbst wenn wir uns nicht einbringen, sind wir oft Bestandteil einer Inszenierung eines anderen.

Ist das Theater die Urkunst des Menschen?

Das ‹Studienbuch Theaterpädagogik› richtet sich an Menschen, die im schulischen oder ausserschulischen Kontext mit Kindern oder Jugendlichen Theater spielen – an Spielleitende also und solche, die Spielleitung erlernen wollen.

In einem ersten Kapitel wird die Theaterpädagogik in ihrer historischen Entwicklung umschrieben, wobei der Fokus schwergewichtig auf die schweizerische Ausprägung gerichtet wird – erstmals also findet sich hier eine kleine Geschichte der helvetischen Theaterpädagogik.

Es scheint uns weiter wichtig, dass sich Spielleitende in ihrem Selbstverständnis verorten können, denn es gibt nicht die Theaterpädagogik, vielmehr gibt es Ausprägungen, die sich mehr an der Pädagogik und deren Zielen oder aber mehr an der Kunst und deren Absichten orientieren. Das zweite Kapitel sucht in diesem Sinne nach den Feldern, in denen Theaterpädagogik ihre Wurzeln oder ihre Wirkungsziele hat und fordert damit Spielleitende auf, sich selber in der theaterpädagogischen Landschaft zu situieren.

Der grundlegende Ansatz des Buches richtet sich nach theaterpädagogischen Fragen im schulischen Kontext. In einem dritten Kapitel wird denn auch nach Begründungen gesucht, was Theaterspiel in der Schule rechtfertigt und wo die Qualitäten und Chancen des Spiels liegen; darüber hinaus ist dieses Kapitel auch eine Sammlung von Argumenten für die öffentliche Debatte zur ästhetischen Bildung.

Ob Schultheater oder professionelles Theater, ob interne Spielstunde oder öffentliche Aufführung: Immer geht es um die Frage, was denn Theater ist, wie es funktioniert, was Theaterspielen heisst, woraus Theater besteht. Im Kapitel vier wird versucht, die ‹Ingredienzen› zu umschreiben und dadurch nachvollziehbar zu machen, was Theaterspiel und Schauspielkunst meinen. Das Kapitel will mithin Hilfestellung zum Verständnis von Spiel sein und auch als Weg dienen, mit einer Gruppe in theatrale Prozesse einzusteigen – Basisarbeit für eine nachfolgende Produktion und Grundlage für das Verständnis dessen, was das Endprodukt auf der Bühne letztlich ausmacht.

Die Kapitel fünf bis sieben richten sich explizit an Spielleitende. Während sich Kapitel fünf mit zielgruppenbezogenen thematischen und dramaturgischen Fragen und den Wegen ihrer Bearbeitung beschäftigt, untersucht Kapitel sechs Grundverständnisse des Anleitens im Spannungsfeld von Leiten und Lassen. Kapitel sieben schliesslich zeigt Modelle, die bei der Planung und Realisierung eines Spielvorhabens mit einer Klasse dienlich sein können.

Das ‹Studienbuch Theaterpädagogik› ist – obwohl einzelne konkrete Spielimpulse eingestreut sind – keine Spiel- und auch keine Rezeptsammlung. Es ist umgekehrt aber auch kein reines Theoriebuch. Vielmehr sollen Grundlagen der Spielleitung aufbereitet und die Lesenden herausgefordert werden, ihre eigene Position zu finden, eigene Versuche zu machen und eigene Formen zu erproben.

Theater kann nie endgültig definiert und umschrieben sein, fast alles ist möglich auf der Bühne, jede Aufführung erfindet Theater neu. Die Publikation will Herausforderung sein, sich als Spielleiterin oder Spielleiter immer wieder Fragen zu stellen, Unsicherheit und Unplanbarkeit zuzulassen sowie zur Suche des eigenen Weges und der eigenen Form ermuntern. Das Buch versucht dies so konkret wie möglich, mitunter auch mit Beispielen aus der Praxis, zu tun. Wenn dabei einzelne Themen, Ansätze und Darlegungen in unterschiedlichen Kontexten und Ebenen der Vertiefung in mehreren Kapiteln wieder aufscheinen, so zeigt dies die Vernetzung und Ganzheitlichkeit des Theaters einerseits und die Wichtigkeit einzelner Ansätze und Gedankengänge bei den einzelnen Autorinnen und Autoren andererseits.

Was für jedes Theaterbuch, für jede Spielsammlung gilt: Es kann die persönliche Spiel- und Leitungserfahrung nicht ersetzen, es kann höchstens helfen, die Prozesse und Erfahrungen begreifbar und durchschaubar zu machen. In diesem Sinne will das Studienbuch auch Anregung zu eigenen Spielversuchen, zur persönlichen Spielerfahrung und zur Innovation sein.

Was die vorliegende Publikation hoffentlich zu zeigen vermag: dass Theaterspielen –auch oder gerade mit Kindern und Jugendlichen – ein komplexes Gebilde aus mannigfaltigen Komponenten ist, dass es kein beiläufiges oder zufälliges Produkt, sondern ein gearbeitetes, sprich: bewusst gemachtes, gestaltetes, hinterfragtes Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung ist.

Wir hoffen, Anregungen und Hilfestellungen für den eigenen Weg zu geben. Auf dass Theater ein spannendes und innovatives Medium der Auseinandersetzung mit sich und einer heutigen Welt ist und bleibt!

Das Autorenteam

Das Autorenteam dankt Andi Thürig, Dozent für Theaterpädagogik an der PH Zürich, für seinen Textbeitrag im Kapitel 4 und Stéphanie Chassaing, Administrative Assistentin der Professur Kulturvermittlung und Theaterpädagogik an der PH FHNW, für das Zusammenführen und erste Redigieren der Manuskripte.

1.Einführung in die Theaterpädagogik

von Roger Lille


1.1 ANNÄHERUNG AN DEN BEGRIFF

Die Geschichte der Theaterpädagogik lässt sich auf unterschiedliche Art erzählen. Je nach Sichtweise ist Theaterpädagogik schon einige hundert Jahre alt oder aber erst vor noch nicht allzu langer Zeit mündig geworden. Versteht man darunter schwergewichtig das Theaterspiel in der Schule, so kann man auf eine rund 500-jährige Geschichte des Schulspiels oder Schultheaters zurückblicken mit grossartigen Inszenierungen, mit Weihnachts- und Osterspielen und Klassikerinszenierungen, und – etwas kritisch angemerkt der Nachahmung des grossen, vorbildhaften professionellen Theaters mit seinen Stars und Musterschülern. Theatrale Glanzlichter der Kulturgeschichte also, auch auf der Bühne der Schulaula. Öffentliche Visitenkarten für deutliche Sprache und laute Stimme, früher da und dort auch für Zucht und Ordnung, immer aber auch für Zusammenspiel und Gemeinschaftswerk.

Allerdings gibt es den Begriff ‹Theaterpädagogik› noch keine 50 Jahre, und noch Ende der 1990er-Jahre musste manch ein Theaterpädagoge seine Arbeit – und deren Sinn – ausführlich erklären.

 

Heute hat sich der Begriff durchgesetzt und ist mehrheitlich etabliert, auch wenn die konkreten Vorstellungen, was mit ihm gemeint ist, noch immer diffus sind und auseinandergehen – und dies selbst bei Theaterpädagoginnen und -pädagogen.

Einigkeit herrscht immerhin darin, dass unter Theaterpädagogik die Theaterarbeit mit nicht ausgebildeten Schauspielenden verstanden wird, allerdings im ganzen Spektrum von Regie bis zu Spielleitung, von der Stückerarbeitung bis zur gruppendynamischen Spielstunde oder dem Rollenspiel im Dienste der Krisenintervention.

Die Schwierigkeit einer Definition liegt nicht nur darin, dass es unterschiedliche Ursprünge gibt, sondern vielmehr darin, dass es nicht nur um eine reine terminologische Klärung geht, sondern gleichzeitig auch um eine Sache und deren Auslegung und Interpretation.

Die heutige Theaterpädagogik zeichnet sich denn auch durch eine Vielfalt von Ansätzen und Zugängen, von Methoden und Einsatzgebieten aus.

Theaterpädagogik findet sich sowohl im Umfeld von Theaterhäusern und freien Gruppen als auch im pädagogisch-schulischen Kontext, in der Theaterarbeit mit Amateuren, in der Erwachsenenbildung als Verhaltenstraining, als Managementschulung und Unternehmenstheater und im sozialen Umfeld in der Arbeit mit Randgruppen, Aussenseitern, sozialen Minderheiten etc.

Es gibt Theater mit Kindern und es gibt Jugendclubs, Theater mit Senioren und Arbeitslosen, mit Gefängnisinsassen, Lehrlingen und Lehrern; theaterpädagogische Ansätze gibt es in therapeutischen Settings (z. B. Psychodrama) und in Berufstrainings, es gibt Bibliodrama und Wissenschaftstheater bis hin zu Formen der Animation in der Tourismusbranche oder dem Theatersport.

Im engeren, auf Theater fokussierten Bereich, lassen sich zwei Grundrichtungen theaterpädagogischer Arbeitsfelder definieren:

–Etliche Theaterpädagogen und -pädagoginnen arbeiten an Theaterhäusern oder sind im Bereich der freien professionellen Kinder- und Jugendtheaterszene engagiert. Hier geht es schwergewichtig um die Begleitung von Aufführungen. Theaterpädagogen entwickeln dabei zuhanden der Lehrpersonen Materialien oder Formate (z. B. Spielstunden) für die Vor- und Nachbereitung von Aufführungsbesuchen von Kindern und Jugendlichen. Oder sie arbeiten mit theaterpädagogischen Methoden selber mit Klassen hinführend und einleitend auf den Aufführungsbesuch hin bzw. nachbereitend, nach demselben. Nicht selten steht dabei die Arbeit auch unter dem Druck von Zuschauerakquirierung. Theaterpädagogischer Erfolg wird dann an den Besucherzahlen oder verkauften Vorstellungen gemessen.

Im Zentrum dieses Arbeitsfeldes steht also eine Inszenierung mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, und die Arbeit liesse sich auch mit dem Begriff der ‹Theatervermittlung› umschreiben. Diese Vermittlung kann – muss aber nicht – mit theatralen Mitteln, also theaterpädagogisch, erfolgen.

–Im Zentrum der zweiten Grundrichtung steht die direkte Theaterarbeit mit einer Zielgruppe ohne vorgegebenen Bezug zu einer Inszenierung, einem Thema oder Ähnlichem. Die Arbeit kann, muss aber nicht, auf ein soziales, kommunikatives Ziel ausgerichtet sein.

Diese Form ist meist mit der pädagogisch-schulischen Arbeit verbunden und im schulischen Umfeld angesiedelt. Das theatrale Spiel ist hier einerseits Methode der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Inhalten (oder Sozialisationsformen) und andererseits auch Ausdrucksform und künstlerischer Gestaltungswille: Klassen erarbeiten Stücke, präsentieren diese einer Öffentlichkeit, nehmen an Schultheatertreffen teil etc. Je nach Gewichtung werden dabei mehr der Prozess und die mit ihm verbundenen Chancen des Spiels in den Vordergrund gerückt – also soziale Kompetenzen wie Integration, Kommunikation, persönlicher Ausdruck, Selbst- und Fremdwahrnehmung – oder es geht mehr um das Produkt und die Auseinandersetzung mit künstlerisch-kreativen Ausdrucksformen, dem persönlichen Wachsen bezüglich der (bühnenwirksamen) Auftrittskompetenz und mit dem übergeordneten Ziel der Bildung eines ästhetischen Bewusstseins und der Hinführung zum Theater als Kunstform.

Theaterpädagogische Formen brauchen also nicht zwingend zur Aufführung und zu ‹Theater› zu führen. Nicht selten sind es spielerische Methoden der Auseinandersetzung der Spielenden mit sich, ihrer Selbstwahrnehmung, ihres Auftretens oder der Kommunikation und Interaktion auf der Ebene des Miteinanders.

Theaterpädagogik im schulischen Bereich – mit mehr pädagogischer oder aber mehr ästhetisch/künstlerischer Ausrichtung – hat in den vergangenen 40 Jahren in Lehrplänen Einzug gehalten und ist mancherorts zu einem Wahlpflicht- oder gar Pflichtfach geworden. Pädagogische Hochschulen bieten Lehrgänge im Ausbildungsbereich sowie Nachdiplomstudien und Masterstudiengänge an, in denen sich Lehrpersonen fundiertes Können zur Spielleitung holen können.

Nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat auch die Professionalisierung der Ausbildung zum Theaterpädagogen bzw. zur Theaterpädagogin an Kunsthochschulen (vormals Schauspielschulen). Ihnen ist sicher zu verdanken, dass sich ein gemeinsames Vokabular, eine verbesserte Kooperation der Theaterpädagogen untereinander und eine intensivere Kommunikation entwickelt haben.


Parallel zu Ausbildungsgängen sind auch theaterpädagogische Beratungsstellen entstanden. Bereits zu Beginn der 1970er-Jahre wurden erste theaterpädagogische Zentren, meist auf Initiative freier Theatergruppen, gegründet. Sie hatten und haben zum Ziel, Theater näher an die Schule zu rücken, die Methode Spiel stärker in den Unterricht einzubringen.

Zu Beginn der 1980er-Jahre wuchs das Bedürfnis nach Austausch und Kooperation: 1986 trafen sich in Köln erstmals an Schulen und Theatern engagierte Theaterpädagogen und -pädagoginnen. Das Tagungsthema lautete ‹Theaterpädagogik zwischen Animation und Unterricht›. Doch schon die Einstiegsrunde zu den Tätigkeitsfeldern der Anwesenden machte deutlich, wie breit und unpräzise die Vorstellungen und Arbeitsansätze waren: Anwesend waren Öffentlichkeitsverantwortliche an Theatern, Dramaturgen, Schauspielausbildende, Theatertheoretiker und im kirchlichen und schulischen Umfeld Tätige. Alle nannten sich Theaterpädagogen. Der Grund der Vielfalt lag mitunter auch darin, dass im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmassnahmen in ganz Deutschland sogenannte ABM-Stellen an Theatern aufgebaut worden waren, deren Aufgabe sich insbesondere auf theaterpädagogische und theatervermittelnde Anliegen der Theaterhäuser bezog. Positive Folge dieser ersten Tagung war 1990 die Gründung des Berufsverbandes Theaterpädagogik BUT in Deutschland.

Auch in der Schweiz gibt es inzwischen – nachdem sich die SADS, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel (in der Schule) Ende der 1990er-Jahre aufgelöst hatte – einen Verband, der sich mit theaterpädagogischen Fragen auseinandersetzt und das theaterpädagogische Selbstverständnis kritisch hinterfragen will. Er lanciert Weiterbildung und Forschung und fördert so ein gemeinsames Berufsverständnis. Der tps – Fachverband Theaterpädagogik Schweiz – wurde 2005 gegründet und zählt heute über 300 Mitglieder aus dem professionellen und semiprofessionellen Feld. (Weitere Informationen zu Ausbildungsgängen und Verbänden siehe auch im Folgenden.)

ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste)

Das heutige Departement ‹Darstellende Künste› der Zürcher Hochschule der Künste geht auf das 1937 in Zürich gegründete Bühnenstudio zurück. Es war Ausbildungsstätte etlicher Schauspielergrössen.

1960 übernahm der damalige Leiter des Theaters am Neumarkt Zürich, Felix Rellstab, die Leitung und führte die Schule in einem umsichtigen organisatorischen und politischen Prozess in die Schauspiel-Akademie (SAZ) über, die von Stadt und Kanton Zürich mitgetragen wurde.

1966 bezog die SAZ die Villa Tobler, ein Jugendstilhaus an der Winkelwiese in der Zürcher Altstadt mit zum Spielen verführenden Räumen und einem inspirierenden Ambiente. Rund 20 Schauspielschülerinnen und -schüler studierten pro Jahrgangsklasse.

1971 gelang Rellstab die Gründung einer Regie-Abteilung, 1973 startete der erste Ausbildungsgang in Theaterpädagogik. Fortan arbeiteten die Studierenden der drei Abteilungen im ersten Ausbildungsjahr zusammen, ab dem zweiten Jahr kamen die fachspezifischen Aspekte und die Projekte hinzu.

Schon bald übergab Rellstab dem Regisseur Louis Naef die Leitung der Abteilung Theaterpädagogik. Naef hatte sich einen Namen mit Laieninszenierungen und gemischten Profi-/Laieninszenierungen gemacht und den Begriff ‹Landschaftstheater› geprägt. Seine Inszenierungen im Napfgebiet oder auf dem Ballenberg waren legendär. Er war es, der die Perspektive der Theaterpädagogik vom Fokus Kinder und Jugendliche aufs Volkstheater bzw. das Erwachsenen- und Laienspiel erweiterte. Insbesondere gab Naef auch der Mundart ihren gebührenden Stellenwert.

Mit dem Umzug in die Stallungen an der Gessnerallee 1991 übernahm Peter Danzeisen die Direktion der Schule und leitete den Fusionsprozess mit den andern Zürcher Kunsthochschulen ein: Auch die Schauspiel-Akademie musste Bologna-konform werden. Heute umfasst die Ausbildung Bachelor- und Masterstudiengänge in allen Schauspielbereichen inklusive Film, Bühnenbild oder Figurenspiel und verfügt auch über Weiterbildungsformate.

Seit 2007 steht das Departement ‹Darstellende Künste› unter der Leitung von Hartmut Wickert, der das mittlerweile grosse Gefährt durch politische Reform- und Finanzstürme steuert. Die ZHdK ist die Adresse in der Schweiz für die professionelle Bühnenausbildung, sei es in Regie, Spiel oder Theaterpädagogik.

www.zhdk.ch, vgl. Genossenschaft Schauspielakademie (SAZ) (1987), vgl. Nickel (2007), S. 42

UdK (Universität der Künste, Berlin)

Bereits in den 1970er-Jahren wurde an der PH Berlin ein Fach Schulspiel angeboten. Innerhalb von zehn Jahren wuchs die Zahl der Absolventen von 30 auf 300 pro Jahr. Zusammen mit einer erstarkenden Kinder- und Jugendtheaterszene – wie Grips oder Rote Grütze –, mit Spielwerkstätten und Lehrertheatergruppen wuchs ein starkes, engagiertes theaterpädagogisches Netz. Mit der Auflösung der PH Berlin 1980 wurde das Fach Schulspiel in die Hochschule der Künste (HdK) als eigenes Institut integriert, gleichzeitig aber auch Schulspiel als eigenes Ausbildungsangebot abgeschafft. Praxisangebote für Lehrpersonen blieben so auf Ferienkurse beschränkt.

Es war Wolfgang Nickel, der in den folgenden Jahren unermüdlich und schliesslich erfolgreich um Akzeptanz und einen eigenen Studiengang kämpfte: 1990 begann der erste Jahrgang mit dem ‹Zusatzstudium Spiel- und Theaterpädagogik›. Ausschlaggebend für den Erfolg war unter anderem der politische Umbruch in Deutschland, der grosses Interesse und neue Studierende brachte.

1993 übernahm Kristin Wardetzky, ehemalige Dramaturgin am Ostberliner ‹Theater der Freundschaft›, die Leitung des Studienganges. Sie brachte neue künstlerische Schwerpunkte wie das ‹Erzählen auf der Bühne› in die Ausbildung und regte erste Rezeptionsforschungen im Kindertheater an.

Seit der Jahrtausendwende leitet Ulrike Hentschel das Institut. Selber Abgängerin des Studiengangs, geht ihre wissenschaftliche und theatrale Suche in Richtung performative Ansätze. Ihre Publikationen sind in theaterpädagogischer Hinsicht profiliert und wegweisend. www.udk-berlin.de

sads (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel)

Parallel zu den ersten Ausbildungsgängen in Theaterpädagogik an der SAZ kam es zur Gründung der SADS, der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel (einstmals noch mit dem Zusatz: ‹in der Schule›). Es war der erste lockere Zusammenschluss von Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen und an Schulspiel interessierten Lehrpersonen. Es wurden, zusammen mit der SAZ, Symposien und Weiterbildungen durchgeführt und 1981 erschien die erste ‹Spielpost›, die Wissenswertes, Tipps für den Unterricht, neue Strömungen thematisierte und sich für die Verbreitung theaterpädagogischen Arbeitens stark machte.

Nach Felix Rellstab als Gründungspräsident übernahm schon bald Marcel Gubler, damals Leiter der Beratungsstelle Theaterpädagogik am Pestalozzianum in Zürich, das Präsidium. Er engagierte sich für die Sache auf politischem Terrain, machte sich stark für das Theaterspiel in der Schule, vernetzte spielende Klassen und baute erste internationale Kontakte auf. Zu den Mitgliedern gehörten aber nicht nur Theaterpädagogen, sondern auch Schultheater-Grössen wie Josef Elias, der neue Formen und ästhetische Ansätze ins Schultheater einbrachte, oder Max Huwyler, bekannt für seine witzig-skurrilen sprachspielerischen Minidialoge.

Die SADS lancierte auch thematische Publikationen wie ‹Kleider-Klamotten-Kostüme› oder ‹Musik.Theater. Musik›. Für viele Theaterpädagogen und -pädagoginnen war die SADS erstes und lange Zeit einziges Gefäss des Austauschs, der Weiterentwicklung und der beruflichen Lobbyarbeit.

2004 erschien die letzte Nummer der ‹Spielpost› und die Arbeitsgemeinschaft löste sich auf, u. a. wegen mangelnder finanzieller Unterstützung durch den Bund, sicher aber auch infolge sich verändernder Arbeitsfelder, neuer Strukturen und einem höheren Anspruch an eine berufspolitische Ausrichtung: Gefragt war ein Berufsverband.

assitej (Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche)

Vor der Gründung des tps war die assitej, der Verband der professionellen Kinder- und Jugendtheaterschaffenden der Schweiz, für viele Theaterpädagoginnen und -pädagogen die berufliche Heimat, denn etliche arbeiteten sowohl als Schauspieler im Kinder- und Jugendtheaterbereich als auch als Theaterpädagogen.

Die assitej organisiert alle zwei Jahre das Theaterfestival ‹Spot›, dient als Job-Plattform und Austausch-Netz, lanciert Aktionen zum Tag des Kindes am 20. November und ist eine bewährte Anlaufstelle für gutes, altersadäquates, professionelles Theater für Kinder und Jugendliche. Mehr über ihre Aktivitäten unter: www.assitej.ch


1.2 ZIELE THEATERPÄDAGOGISCHER ARBEIT

Nicht nur die übergeordneten Zielsetzungen sind unterschiedlich und machen wohl auch die Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Theaterpädagogen/jeder einzelnen Theaterpädagogin aus. Genauso unterschiedlich sind die ästhetischen Ansätze und theatralen Formen, die zum Tragen kommen. So vielfältig die inszenatorischen Zugänge auf der Profi-Bühne sind, so vielfältig sind sie auch im theaterpädagogischen Bereich: Vom Klassiker zum Zeitstück, von der selbstentwickelten Geschichte zur szenischen Collage, vom Stationenspiel über theatrale Installationen bis zu performativen Formen ist alles zu finden und erlaubt.

Theaterpädagoginnen und -pädagogen arbeiten in einem breiten Segment, mit einer breit gestreuten Klientel und mit unterschiedlichen Ziel- und Prioritätensetzungen. Grundsätzlich ist man sich aber einig, dass theaterpädagogische Arbeit aus pädagogischen und theatralen/künstlerischen Dimensionen besteht, wobei die Gewichtung der beiden Pole recht unterschiedlich sein kann und auch immer wieder Anlass zu Diskussionen und Abgrenzungen gibt. Es sind denn auch meist Behauptungen oder ‹Weltanschauungen›, die aufeinander prallen, denn auf fundiertes ‹Beweismaterial› ist kaum zurückzugreifen. Dazu trägt bei, dass Theaterpädagogik eine junge Disziplin ist, wenn es um Empirie und Forschungsresultate geht. Es gibt erst wenige Untersuchungen etwa zur Nachhaltigkeit oder Wirkung des Spielprozesses. Theaterpädagogik ist noch kaum wissenschaftlich aufbereitet und untersucht.

So basieren die ‹Erfolgsmeldungen› über die ‹Chance Theaterspiel› denn in der Regel auch auf Erfahrungen einzelner Macherinnen und Macher, auf mündlichen Rückmeldungen von Klassen und Lehrpersonen, auf Interviews und Kurzevaluationen mit Beteiligten.