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Marc Lindner
Die verborgenen Geheimnisse
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Ismars Strafe
Bruder Johannes' Mission
Ells Vater
Der Nussbaum
Das ausgelassene Abendessen
Der unerwartete Besuch
Die Rückkehr der Novizin
Manegold
Die Predigt
Die Lehre einer Abtrünnigen
Magdalena
Tag der Entscheidung
Der Besuch
Die Entscheidung des Abtes
Rauchzeichen
Der vergessene Weg
Klosterleben
Der Preis der Freiheit
Das Geheimnis des Klosters
Das Lager im Wald
Der kaputte Tisch
Der Aufbruch
Das große Grab
Abschied
Impressum neobooks
Ismars Strafe
An diesem Wochenende war Monatsmarkt. Ismar mochte diese Tage. Anders als bei den üblichen Wochenmärkten kamen auch Handwerker und Händler, die seltener die Burg aufsuchten. Einige kannten Ismar und unterhielten sich gerne mit ihm. Vielleicht lag es auch daran, dass er nicht selten etwas kaufte, wenn es ihn faszinierte, aber auch seine Neugier und sein ehrliches Interesse schienen sie an ihm zu schätzen. Seine Begeisterung war umso größer, je weniger er von etwas verstand. Das Wissen, das er hier erlangte, war anders als das, was ihm sein Hauslehrer vermittelte, auch wenn er diesen bisweilen um Erklärungen bat, die über das Wissen der einfachen Leute hinausging.
Wohlgelaunt sah Ismar dabei zu, wie die Einzelnen ihre Stände aufbauten oder hektisch ihren Platz suchten oder gegen aufdringliche Platzneider zu verteidigen versuchten. An etlichen Stellen brachen kleine Raufereien aus, doch im schlimmsten Fall reichten wenige Worte der Stadtwachen, die an diesem Tag vermehrt patrouillierten, um Streitereien zu beenden und dafür zu sorgen, dass einer der Streithähne weiter zog, wenn auch mit einer Faust in der Tasche.
Plötzlich hörte Ismar eine aufbrausende Stimme toben. Es war kein Streit, sondern reines Geschimpfe. Es war nicht weit entfernt, aber Ismar musste seine Stellung auf der Mauer aufgeben, um es sich anzusehen. Er konnte Geschimpfe nicht ausstehen. Wenn zwei sich stritten, war es ihm egal, aber bei Geschimpfe gab es immer einen, der sich nicht wehren konnte.
Ismar kletterte an einem kleinen Wachturm vorbei und eilte in geduckter Haltung westwärts und verließ damit die Hauptmarktstraße. Es war Ells Vater, der mit seiner Tochter schimpfte. Ell ließ es wie selbstverständlich über sich ergehen und mühte sich vergebens ab, ihre Hühner zusammenzutreiben. Doch nun, da sich Hektik unter diese gemischt hatte, versuchten sie in alle Richtungen zu fliehen und sich unter irgendwelchen Gegenständen zu verstecken. Das Geschreie war wenig förderlich um Ells Bemühen, die Hühner beisammen zu halten oder gar zu fangen, zu unterstützen. Dabei schrie er Ell genau deshalb an, da er weiter zu ihrem Standplatz wollte. Doch als wäre Ell mit einem Fluch belegt, stob ihr Gefieder entgegen ihrer Natur immer wieder auseinander, wenn sie die sieben Hühner zusammen getrieben hatte.
Ismar konnte sich das Schauspiel nicht länger anschauen. Er ließ sich hinter einem Stand die Mauer hinabgleiten. Als er hinter einer fülligen Marktdame hervortrat, schrie diese erschrocken auf und verschaffte ihm mehr Aufmerksamkeit als beabsichtigt.
Er versuchte sich zu entschuldigen, doch die Frau wollte davon nichts wissen und drohte ihm in unterdrücktem Ärger für das nächste Mal Schläge an.
Mit einer wohlgeübten Unschuldsmiene empfahl er sich und stellte sich zwischen Ell und ihren tobenden Vater.
„Warte, ich helfe dir.“ Ismar ignorierte, dass ihr Vater ihn nun in seine Flüche mit aufnahm. Ell war leicht verzweifelt und sah ihn resignierend an.
Ismar zögerte nicht lange und hatte alsbald das erste Huhn gefangen, das sich eben unter einen der Wagen stehlen wollte. Er ging damit zu Ell und reichte es ihr mit den Füßen nach oben. Ihr Vater stemmte die Hände in die Seiten seines dicken Bauches und blickte mürrisch drein. Statt zu schreien, begnügte er sich damit, ungeduldig zu atmen. Ismar fing ein Huhn nach dem anderen ein, um es Ell zu geben. Ismar fing sich etliche Verwünschungen ein, weil er anderen Marktteilnehmern in die Quere kam. Es war Ell unangenehm, nicht helfen zu können, doch mit den Hühnern in der Hand, war es ihr nicht möglich. Ebendies war ohnehin ihr Dilemma gewesen. Es war schier unmöglich, alleine sieben Hühner einzufangen und gleichzeitig festzuhalten. Jeder, insbesondere ihr Vater, musste das wissen.
Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht, brachte Ismar endlich das siebte Huhn. Doch da wurden die Hühner unruhig und flatterten selbst mit dem Kopf nach unten hängend wild umher. Das war sonderbar, dann normalerweise taten Hühner das nie. Plötzlich stöhnte Ell schmerzhaft auf und ließ eine Hand los. Ihr Vater schrie auf und wollte sie schlagen, doch Ismar ging dazwischen und fing unfreiwillig die Ohrfeige an ihrer statt ein. Verdutzt blieb ihr Vater stehen und stotterte etwas Unverständliches zusammen. Er wusste nur zu gut, wer er war. Ismar wendete sich Ell zu und wollte fragen, was los war als er sah, dass ihr Arm blutete. Gleich darauf traf auch ihn ein Stein, der eigentlich für Ell oder ihre Hühner gedacht war. Ismar drehte sich wütend um und erkannte Mauricius, wie er auf dem Dach eines niedrigen Hauses hockte und seine Steinschleuder auf sie gerichtet hielt.
„Hey du Dumpfbacke, komm da herunter, du feiger Hund!“, schrie Ismar ihn an.
„Komm doch hoch, wenn du dich traust.“ Der Junge streckte ihm die Zunge heraus und hielt sich für den Größten.
„Na warte, dir werde ich noch Manieren beibringen!“ Mit diesen Worten nahm Ismar Anlauf und war in drei Zügen auf dem Dach, wo er dem verdutzten Mauricius gegenüber stand.
Ismar nutzte dessen Überraschung und entriss ihm gleich die Schleuder. Der Junge war stärker als Ismar, doch Ismar war flinker und wusste die Bewegungen seines Gegenübers zu seinem Vorteil zu nutzen. Bald lag Mauricius flach auf dem Dach mit einem Arm hinter dem Rücken.
„Komm da herunter“, schrie eine Männerstimme.
Ismar blickte verwundert hinunter und sah dort den Burgherren stehen, seinen Vater. Ismar schluckte kräftig und stand sogleich auf und gab Mauricius frei. Ohne zu zögern ging Ismar auf dem Dach nach vorne, da er wusste, dass alles Zögern die Konsequenzen nur verschlimmern würde.
Er wollte eben hinabspringen, als er hörte, dass Mauricius auf ihn zulief. Im letzten Moment duckte sich Ismar und sprang zur Seite. Mit dem Schwung mit der er Ismar hinab stoßen wollte, fiel Mauricius herunter. Schmerzhaft landete er auf allen Vieren und begann gleich zu weinen. Ismar beeilte sich hinab.
„Sei still und verschwinde du hinterhältiger Hund. Das geschieht dir nur Recht!“
Ismar stellte sich aufrecht vor seinen Vater, so wie dieser es ihn gelehrt hatte. Als Dank empfing er eine derbe Ohrfeige, die sogar Ells Vater zusammenzucken ließ. Vielleicht lag es auch nur an seinem schlechten Gewissen.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht herumprügeln sollst.“
Ell stellte sich neben den Burgherren und wollte es wagen ihm zu wiedersprechen. Ismar schüttelte rasch den Kopf und drückte sie zur Seite.
„Verzeiht Vater, ich war unartig. Last mich helfen, dem Mädchen ihren Schaden gutzumachen, sie hat drei ihrer Hühner verloren.“
Der Burgherr wank einen Mann zu sich.
„Zahle dem Mädchen für ihre drei Hühner und verdoppele es für den Schreck, den es erlitten hat.“
Ell bedankte sich mit einem ungeübten Knicks. „Vielen Dank Herr, ihr seid zu gnädig.“
„Ein Mann hat sich ehrenhaft zu benehmen. Es soll nicht euer Schaden sein, wenn mein Sohn sich nicht zu benehmen weiß.“
Ell knickste vorsichtshalber gleich noch einmal und nahm mit großen Augen die Zahlung des Schatzmeisters entgegen. Sie hatte in ihrem Leben noch keine so teuren Hühner besessen, als sie nun bezahlt bekam. Selbst Ells Vater machte große Augen und sah sich auch zu Dank verpflichtet und verneigte sich ungelenk.
„Du wirst deine Schuld abarbeiten, Ismar!“ Sein Vater erhob die Stimme, so dass es jeder im Umkreis gut verstehen konnte. „Du gehst in den Stall die Pferde missten und du wirst solange deine Dienste anbieten, bis die Schuld beglichen ist. Es sind nicht die Steuerzahler, die für deinen Unfug einstehen müssen.“ Mit diesen Worten verließ der Burgherr den Schauplatz.
„Warum hast du deinem Vater nicht die Wahrheit gesagt?“, fragte Ell ungläubig.
„Weil sie ihn nicht interessiert hätte. Es gibt Väter, die strafen lieber, als zu verstehen.“ Ein Seitenblick ließ Ells Vater verstehen, wer gemeint war. Dieser stand unbeholfen umher, da er wusste, dass Ismar an diesem Tag zweimal wegen seiner Tochter ungerechtfertigt Ohrfeigen bezogen hatte.
„Komm wir müssen uns beeilen die Hühner einzufangen, bevor sie wirklich verschwunden sind.“ Ismar versuchte die verschreckten Hühner einzufangen und diesmal half ihm gar Ells Vater.
Doch sie fanden nurmehr zwei der drei Fehlenden. Das Dritte würde wohl einen glücklichen Dieb sättigen. Ells Vater wollte ihm die zwei Hühner geben, da er sie schließlich auch bezahlt hatte, aber Ismar lehnte ab, und ließ sich stattdessen das Versprechen geben, dass er Ell fortan gerecht behandeln sollte. Ismar war sich nicht sicher, ob es etwas helfen würde, aber er war gewillt an das Gute im Menschen zu glauben.
„Die Strafe wird mir nicht schaden“, verabschiedete sich Ismar selbstbewusst und verschwand in der gaffenden Menge.
Es war längst nicht die erste Strafe dieser Art. Sein Vater verabscheute Gewalt und unnütze Strafen. Eine Ohrfeige war das Höchstmaß an körperlicher Pein, die Ismar ertragen musste, doch selbst dies kam nur selten vor und meist nur bei einem großen Publikum, wie an diesem Tag. Obwohl Ismar erst zehn war, gab es nurmehr wenige Arbeiten, bei denen er noch keinen Strafdienst geleistet hatte. Das Interessante an diesen Strafen war, dass er sich diese selbst aussuchen durfte, diesmal mit Ausnahme des Stallmistens, was eine der Lieblingsstrafen seines Vaters war. Doch das störte Ismar nicht. Er mochte Casper und Michel beide gut leiden und einer der Beiden war meist in den Ställen. Sie erlaubten ihm bisweilen gar, den Pferden das Fell zu striegeln oder sie am Zügel auszuführen. Obwohl die Arbeit des Stallmistens hart war, mochte es Ismar, so nah bei den Pferden zu sein. Dass das Ganze Strafe sein wollte, erheiterte ihn dabei nur. Ohnehin half er hier, wie auch woanders mehr, als er sich durch Strafen als Pflicht einhandelte. Doch nur im Falle einer Strafe tauschte er seine Dienste gegen Geld. Üblicherweise tauschte er es gegen kleine Kunstwerke oder Lehrstunden. Beim Schmied beispielsweise hoffte er mit 17 ein eigenes Schwert zu erlangen, aber das konnte er mit bloßer Arbeit nicht erreichen. Doch zum Glück wusste Haman, der Schmied, es zu schätzen, dass Ismar ihm das Rechnen und in Ansätzen das Schreiben beibrachte. Das war weit mehr Arbeit als Ismar es sich hätte vorstellen können, denn ihm selbst bereitete das Rechnen keinerlei Mühe. Doch so geschickt Haman mit dem Eisen umging, so ungeschickt stellte er sich mit Zahlen an. Nicht selten bezeichnete er es gar als Hexenwerk, kurz bevor er die Lehrstunde abbrach. Aber Ismar hatte ihn mehrmals davor bewahrt über den Tisch gezogen zu werden und so willigte er immer wieder ein, doch weiter zu üben.
An diesem Tag hatte Ismar allerdings wenig Glück. Michel kam der Arbeit nicht hinterher. Wegen des Monatsmarktes war der Stall zum Bersten gefüllt, ebenso drinnen, wie auch draußen die überdachten Flächen. Sogar einige störrische Esel wollten gefüttert werden. Zu allem Übel war Caspar ausgefallen, weil ein junger Hengst in der Unruhe ausgetreten und ihn getroffen hatte. Dabei konnte Caspar sich noch glücklich schätzen. In drei Tagen würde er wohl wieder stehen können, aber auf Wochen würde er keine schwere Arbeit verrichten können.
Michel war völlig damit ausgelastet, die Pferde notdürftig zu versorgen und den Reitern ihre Pferde abzunehmen oder zu geben, wenn sie die Stadt verließen. An Ausmisten war nicht zu denken, auch wenn ihm zwei ältere Männer halfen. Dementsprechend viel war für Ismar zu tun und Michel war mehr als froh über seine Hilfe. Bis in den späten Nachmittag füllte Ismar die Karren, die die Gehilfen dann hinaus fuhren. Gegen Ende schaffte er es kaum noch die Mistgabel hochzuheben, selbst wenn er kaum Mist darauf legte. Deshalb war er diesmal froh als die Arbeit vollrichtet war und er den Dienst quittieren konnte.
Danach war er zu müde um noch über den Markt zu gehen, der sich ohnehin bereits im Rückbau befand. Zumindest für all jene aus dem Umland, die nur einen der zwei Tage blieben und noch vor Einbruch der Nacht zu Hause ankommen wollten. Zurück zu seinem Vater wollte Ismar aber noch weniger. Er verspürte keine Lust ihm über den Weg zu laufen und zudem wollte er seine Schuld begleichen. So ging er zu Haman, weil er dort auch im Sitzen Arbeit fand.
„Ah, Ismar, gut dass du kommst. Es gibt viel Arbeit, wie du siehst.“ Haman war bester Laune und konnte sich nicht über mangelnde Kundschaft beklagen. Viele Reisende wünschten neue Hufeisen für ihre Pferde, gaben Bestellungen auf oder wünschten Reparaturen, die sie dann später im Jahr abholen würden.
„Kannst du Holz nachlegen?“ Haman schenkte Ismar nur kurz Aufmerksamkeit, weil er nicht wusste, was er zuerst tun sollte.
„Pfff“, stöhnte Ismar. „Ich war eben bei Michel.“ Obwohl er seine Arme kaum mehr spürte legte er einige Scheite Holz nach.
„Der kann nicht viel Arbeit für dich gehabt haben“, scherzte Haman, „so viele Pferde wie bei mir sind, muss der Stall bei ihm leer sein.“
„Caspar ist von einem Pferd getreten worden“, berichtete Ismar.
„Oh, schlimm?“ Haman hielt erschrocken inne. Caspar war sein Cousin. Die Beiden neckten sich zwar ständig, aber sie standen sich trotzdem sehr nahe.
„Michel meint er würde wieder ganz der Alte werden.“ Die Flammen nahmen sich rasch dem nachgelegten Holz an.
„Sieht ihm auch ähnlich sich einen Pferdekuss einzuhandeln, um ein paar Tage den faulen Lenz mimen zu können“, lachte Haman, ohne ganz seine Sorgen aus seinem Ton fernhalten zu können. „Und du durftest das dann auch noch ausbaden. Da hast du dir aber einen ungünstigen Tag ausgesucht.“
„Vater hat mir wieder eine Geldstrafe auferlegt“, murrte Ismar. Wie selbstverständlich ging Ismar hinter einen massives Pult und kletterte auf einen für ihn zu großen Hocker.
„Ah, das ist eine gute Idee“, zeigte sich Haman erleichtert. „Dann kann ich endlich weiter arbeiten.“
Ismar nahm sich der anstehenden Kundschaft an. Etlichen passte es nicht, von einem Knaben bedient zu werden, aber wenn sie sahen, wie Ismar die Bestellungen niederschrieb, gaben sie meistens Ruhe. Nur selten war es nötig, dass Haman bestätigte, was Ismar sagte, damit sich die vornehmere Kundschaft fügte. Ismar hatte für sich Preislisten angefertigt und konnte abschätzen, was Haman direkt erledigen konnte oder bis wann etwas fertig sein konnte. Wenn er sich nicht sicher war, fragte er Haman, der sich nun fast vollständig auf seine Arbeit konzentrieren konnte.
Besonders die Boten freuten sich über Ismars Anwesenheit, weil ihre Wartezeit deutlich verkürzt wurde. Auf Wunsch schrieb er ihnen sogar eine Bestätigung der Bestellung mit Preis und Datum der Fertigstellung. Diesen Dienst hätte Haman ihnen niemals gewähren können.
Ismar war froh diesmal im Sitzen arbeiten zu können und wurde sich abermals bewusst, warum es gut war, so viel zu lernen.
„Entschuldigen sie, werter Herr“, schmeichelte ein Mann in einfacher Arbeitskleidung Ismar.
Ismar blickte lächelnd auf. Es war längst Abend und der letzte Kunde war schon eine Weile weg und Ismar war dabei die Einnahmen abzuschätzen und die Bestellungen beiseite zu legen. Übermorgen, wenn der Markt vorbei war, würde er Haman alles vorlesen, weil dieser kaum schreiben und nur sehr schlecht lesen konnte.
„Wie kann ich behilflich sein?“ Ismar machte von seiner guten Erziehung gebrauch.
„Es ist ein wenig kompliziert“, sprach der Mann mittleren Alters um den heißen Brei. „Vielleicht ist es besser ich rede direkt mit Haman.“
Wahrscheinlich wollte der Mann einen Freundschaftsdienst, wollte aber gleichzeitig nicht derjenige sein, der Haman bei der Arbeit störte und hoffte, dass Ismar dies für ihn übernahm.
Ismar war das einerlei und so ging er mit dem Mann hinüber zum Amboss, wo Haman, völlig in seinem Element, auf ein Stück Eisen eindrosch.
„Haman, hier ist jemand der dich sprechen möchte.“
„Moment.“ Das Stück war noch rot glühend und ließ sich leicht formen, und er wollte die Hitze nicht vergeuden. Nach zweidutzend Schlägen legte er das Stück zurück in den Ofen und drehte sich mit von der Hitze gerötetem Gesicht um.
„Oh, Bechtol, altes Haus, dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wie laufen die Geschäfte?“
„Ehrlich gesagt, ging es schon besser. Jetzt da sie den Wald im Norden der Stadt roden, will kaum einer mehr das Holz aus dem Westen, wo ich die Lizenz zum Holzfällen habe. Es ist mit einem Tagesmarsch zu weit entfernt. Es lohnt nur für das gute Bauholz, da es besser ist als die jungen Bäume im Norden.“
„Und wie kann ich dir helfen?“
Ismar konnte Haman ansehen, dass sie gute Freunde waren.
„Ich musste mir einige zusätzliche Pferde zulegen, weil keiner mehr bereit ist, das Holz selbst holen zu kommen.“
„Dann brauchst du wohl Hufeisen?“, mutmaßte Haman.
„Ja, vier Tiere sind vom letzten Jahr und hatten noch gar keine und bei zwei weiteren sollten die Beschläge erneuert werden.“
„Das ist kein Problem. Ich nehme an du möchtest, dass ich deswegen zu dir komme, damit du mit diesen lahmen Gäulen nicht herkommen musst.“
„Das wäre prima aber nicht wirklich nötig. Mein Problem ist, dass ich kein Geld mehr habe. All mein Besitz steckt nun in den Tieren.“
„Aber Bechtol, du kannst jederzeit bei mir anschreiben, das weißt du doch.“
„Das werde ich dir nie vergessen!“ Bechtol war mehr als erleichtert und es war ihm anzumerken, dass er nur widerwillig zum Schuldner wurde.
„Warum so kompliziert?“, meldete sich Ismar zu Wort.
Bechtol sah Ismar verwundert an. Er war es wohl nicht gewohnt von einem Jungen im Gespräch unterbrochen zu werden, doch scheinbar machte es Haman nichts aus, und überrascht war er wohl auch nicht.
„Haman, bei den Unmengen an Holz die du brauchst, kann Bechtol dich gleich damit bezahlen.“
Bechtol machte große Augen. „Natürlich, daran hatte ich gar nicht gedacht.“
Auch Haman nickte eifrig und klopfte Ismar anerkennend auf den Kopf. „Oft scheinen die komplizierten Lösungen einfacher zu sein, weil es kompliziert ist, die einfachen Lösungen zu finden.“ Das war einer von Hamans Lieblingssprüchen, wenn er sich unnütz Mühe gegeben hatte.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht zog Ismar von dannen. Es war Zeit, dass er zu Hause einkehrte, sonst würde es nochmals Ärger geben. Derweil blieb Bechtol bei Haman und ging ihm soweit er konnte zur Hand. Haman hatte ihm für die Nacht ein Quartier angeboten, aber er musste noch bis zum letzten Licht des Tages arbeiten, weil Morgen Einige ihre Bestellung abholten, bevor sie abreisen würden.
Bruder Johannes' Mission
Hönnlin ritt ohne Eile weiter nach Westen. Er hatte unterwegs viel erlebt und viel gelernt. Das Leben, das er früher geführt hatte und das nun auf ihn wartete, würde er nicht weiter führen können. Dort würden sie ihn Bruder Johannes nennen, doch den Namen hatte er irgendwo auf der Rückreise abgelegt. Zwar trug er noch sein Mönchgewand, doch hatte das eher praktische Gründe. Auf seinen Reisen hatte er seinen Glauben gefunden und gefestigt, aber das führte dazu, dass er sich von seiner Religion würde trennen müssen. Hönnlin wollte den Menschen dienen und seinem Glauben treu sein. Er wollte keine Lügen leben oder leere Worte predigen wie seine Brüder. Im Gegensatz zur Kirche wollte er sich fremden Wissen nicht verschließen. Wüsste die Kirche um sein Wissen und um seinen Besitz, soviel war gewiss, würde er als Ketzer brennen. Hönnlin wusste nicht alles, eigentlich war er sich bewusst, dass er recht wenig wusste, aber es reichte, um die Mechanismen der Kirche zu durchschauen. Sie diente sich selbst und nicht wie sie predigte Gott und erst recht nicht den Menschen, die sie dumm und abergläubisch zu halten pflegte. Hönnlin war auf seiner Reise viel Wirken seiner Kirche begegnet. Wirken, das schon lange vergangen war, und jenes, das noch andauerte.
Nein, Hönnlin war sich sicher. Die Wege seiner Kirche und der seine würden sich trennen, doch erst noch würde er in seine Heimat reisen. Dort würde er dann auf seine Weise Gott, und vor allem den Menschen dienen. Aber zuvor musste er noch etliche Tagesreisen hinter sich bringen und dabei wollte er den Schutz seines Ordens nicht aufgeben, schließlich hatte er die Reise auch in deren Interesse auf sich genommen. Bloß die Antworten, die er gefunden hatte, waren nicht die gewesen, die zu finden seine Mission gewesen war. Aber dies war nun einmal die Gefahr, wenn man nach Antworten suchte, und sicher nicht sein Fehler.
Bis Norditalien hatte er es bereits zurückgeschafft, doch die Spuren des Winters waren hier noch zu spüren. Deshalb hatte er es auch nicht eilig, da er wusste, dass er die Alpen erst mit Beginn des Sommers würde überqueren wollen. Deshalb wollte er am folgenden Tag auch ein Kloster aufsuchen und für wenige Wochen rasten.
Der Abend brach herein und so suchte Hönnlin sich ein geschütztes Plätzchen in einem Waldstück abseits des Weges.
An einer lichten Stelle grub er ein Loch. Dabei legte er die Erde auf einer Decke ab, da er keine Spuren hinterlassen wollte. Er vermied es, das Loch groß werden zu lassen und grub stattdessen in die Tiefe. Doch die zahlreichen Wurzeln erschwerten sein Bemühen. In unregelmäßigen Abständen hielt er inne und überprüfte ob sich keiner näherte.
Schließlich nahm er einen Teil seines gut verstauten Gepäckes, legte es fest in Leder verschnürt in die Erde und schloss das Loch. Die überschüssige Erde trug er fort und verteilte sie unauffällig. Über der Grabstelle entzündete er ein gemütliches Feuer und richtete sich für die Nacht ein. Er sparte diesmal nicht mit dem Holz, mit dem er das Feuer unterhielt.
Er kochte sich Wasser für einen Tee und stand nochmals auf, um wie fast jeden Abend eine Walnuss zu pflanzen. Erst dann aß er zu Abend und nutzte die letzten hellen Minuten zum Lesen, und legte sich dann früh schlafen.
Am Morgen darauf war die Feuerstelle abgekühlt. Sorgsam überprüfte er, dass die Asche die Spuren seines Versteckes kaschierte, und prägte sich die Stelle gut ein, für den Fall, dass er unerwartet doch länger fern bleiben würde.
Eine halbe Tagesreise trennte ihn von dem kleinen Städtchen mit dem vertrauten Kloster. Auch deshalb war es eher ungewiss, dass einer sich hierher verlief.
Gegen Mittag trat er durch das Stadttor. Es herrschte nur mäßiges Treiben auf den Straßen. Wie anderenorts auch waren die Meisten damit beschäftigt, die Arbeiten zu vollrichten, für die beim nächsten Wetterumschwung keine Zeit mehr bleiben würde. In zwei Wochen würde vieles hier anders aussehen. Hönnlin mochte diese Atmosphäre und ging deshalb nicht auf direktem Weg zum Kloster.
Hönnlin brachte seinen Esel zum Stall des Ordens. Dieser verdiente den Namen nicht wirklich, aber der Abt würde es ihm nicht verzeihen, wenn er sein Tier im Stall der Städter unterbringen würde. Hönnlins Esel war heute das einzige Tier im Stall, da das Kloster über keine Eigenen verfügte und nur jene seiner Gäste versorgte. Hönnlin wusste aber, dass dies mehr schlecht als recht geschah und versorgte es gleich selbst.
„Bruder Johannes! Meine Augen haben mich nicht getäuscht“, wurde Hönnlin von der Seite angesprochen, als er seinen Esel striegelte. „Was für eine Freude.“
„Bruder Matthias“, begrüßte Hönnlin seinen Ordensbruder und guten Bekannten. Sie hatten einige kleine Reisen gemeinsam bestritten, bevor der einige Jahre ältere Bruder Matthias hier schließlich hängen geblieben war. Aber von den Abenteuern der Anderen hörte er immer noch gerne und träumte sich dann mit auf Reisen. Wäre sein Rheuma nicht schlimmer geworden, wäre er wohl auch nicht sesshaft geworden.
Lange blieben die Beiden im Stall und tauschten sich aus. Es gab viel zu erzählen.
„Aber was bin ich dir ein Freund“, unterbrach Bruder Matthias sich selbst. „Ich frage dich aus und denk dabei nur an mich. Du hast sicher Hunger und ein wenig Rast wird auch dir nichts schaden. Komm ich bringe dich in die Küche.“
Hönnlin hatte nichts dagegen einzuwenden, und folgte der Einladung gerne. Die Küche war wie gewohnt spärlich ausgestattet und nun nach dem Mittagsessen menschenleer. Bruder Matthias legte ein Stück Holz auf die Glut im Ofen und kochte Hönnlin Haferbrei. Zur Feier des Tages griff Bruder Matthias in ein Gefäß mit den klostereigenen Rosinen und ließ diese im Haferbrei verschwinden.
Bruder Matthias setzte sich mit an den Tisch, aß selbst aber nichts. Stattdessen hielt er nun seinerseits Hönnlin Gespräch und unterrichtete ihn über das Wenige, das sich im Kloster zugetragen hatte, aber auch über das, was ihm von außerhalb zu Ohren gekommen war. Für Letzteres begeisterte er sich merklich inniger.
„Welcher Faulpelz wärmt sich da wieder am Herd“, wurde eine Stimme aus dem Flur herangetragen. „Oh, es wird gar gegessen!“ Die Stimme kam Hönnlin bekannt vor, aber es war das Temperament, das ihm verriet, wer gleich zur Tür hereintreten würde.
„Bruder Matthias, erklärt euch.“ Er sah Hönnlin erst jetzt und sah ihn prüfend an, da er ihn nicht gleich erkannte.
„Vater Andreas, Bruder Johannes ist von seiner langen Reise zurückgekehrt. Die Nächstenliebe verpflichtete mich, unserem Gast Rast und Verpflegung zuteil werden zu lassen.“
„Nun gut, meine Schuldzuweisung war unnötig“, ruderte der Abt zurück, zumal er sah, dass Bruder Matthias nichts vorzuwerfen war.
„Herzlich willkommen zurück, Bruder Johannes“, begrüßte der Abt Hönnlin reserviert. „War die Reise gesegnet?“ Hönnlin war dem Abt nicht verhasst, aber dieser betrachtete sein Treiben mit Argwohn. Er verachtete das Reisen. Er war vielmehr der Auffassung, dass das Leben eines Mönches innerhalb der Klostermauern vonstatten zu gehen hatte. Hier sollte er beten, schreiben, den Garten unterhalten und sich im Verzicht üben. Er war einer der wenigen Äbte, denen Hönnlin auf seinen Reisen begegnet war, die das ernst meinten und nicht nur ihren Mönchen auftrugen. Da Hönnlin das wusste, nahm er ihm sein kühles Benehmen nicht übel. Den Abt quälte nur ein Laster, wenn man es so nennen wollte, er liebte es neue Bücher lesen zu können, wohl aber nur jene, die mit der Kirche zu vereinen waren. Für ihn galt es als höchste Aufgabe daraufhin die Botschaft des Herrn kopieren oder übersetzen zu lassen und in die Welt hinaustragen zu lassen. Deshalb war dieses Kloster auch weithin bekannt für seine sorgsame Kopierwut. Das war auch der Grund, warum er Hönnlins Treiben widerwillig unterstützte, denn nicht wenige Schätze seiner Bibliothek verdankte er ihm und, wie der Abt es bezeichnete, anderen Abenteuern.
„Ich bin nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. An etlichen Stellen werden auch Kopien für das Kloster erstellt. Ihr könnt stolz auf die hiesige Bibliothek sein. Das Interesse an den Schriften, von denen ich berichten konnte, war groß“, erzählte Hönnlin nicht ohne Freude.
„Stolz ist ein falscher Freund“, belehrte Vater Andreas. „Aber es freut mich, dass die Schriften des Herrn auch in diesen fernen Gegenden Anklang finden.“
„Selbst in der Ferne ist Gott vielen nah“, stichelte Hönnlin, der damit seine Abenteuerlust verteidigte. Der Abt nickte stumm und spielte gedankenvertieft mit seinen Fingern.
„Ruht euch erst einmal aus“, fuhr der Abt fort. „Wenn ihr wollt, könnt ihr mir Morgen genauer von euren Reisen erzählen.“
Hönnlin war dieser Aufschub recht und so nutzte er den restlichen Tag, um durch das Kloster und seinen Garten zu streifen, während er alte Bekanntschaften auffrischte.
Am folgenden Morgen nahm der Abt Hönnlin gleich nach der ersten Andacht in Beschlag. Während die Brüder zum Frühstück gingen, folgte Hönnlin Vater Andreas nach einem kurzen Umweg in dessen Arbeitszimmer. Hönnlin war darauf vorbereitet gewesen und hatte den Ertrag seiner Pilgerfahrt bereitgestellt.
Es war ein etwas merkwürdiger Besuch. Wirklich gut kannten die Beiden sich nicht. Ihre Verbundenheit fußte fast nur auf ihre gemeinsame Ordenszugehörigkeit. Zwar war Hönnlin in all den Jahren öfters hier gewesen, doch meist nur für wenige Tag und zweimal für einige Wochen. Ihre Gespräche waren meist kurz und zweckgebunden. Vater Andreas hatte nie einen Hehl daraus gemacht, das Reisen von Mönchen nicht zu mögen, wenngleich er das Missionieren durchaus begrüßte. Hönnlin wusste nie recht, ob Vater Andreas sich des Widerspruchs bewusst war, oder ob es genau das war, worüber er sich eigentlich am meisten ärgerte.
„Wie lange beabsichtigt ihr zu bleiben?“, fragte der Abt unvermittelt, nachdem er sich alle Bücher und Schriften angesehen hatte und die beiden Bücher, die Hönnlin für dieses Kloster mitgebracht hatte, sorgsam in einem Schrank verstaute.
„Ich gedachte in meine Heimat zurückzukehren und mich ganz dem Klosterleben zu widmen.“
„Das freut mich zu hören. Ihr werdet sehen, eure Seele wird endlich Ruhe finden.“
Hönnlin nickte verständnisvoll. „Aber ich wollte die Alpen nicht vor Beginn des Sommers überqueren, darum wollte ich mich für wenige Wochen den Aufgaben hier stellen und wenn es möglich ist, solange hier bleiben.“