Einmal noch schlafen, dann ist morgen

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Einmal noch schlafen, dann ist morgen
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Für Stefanie, Ronja und Luise

Inhalt

Vorwort

Prolog

1 Schon wird es heikel. Mein 16-jähriges Ich wohnt zwei Türen weiter oder Was das Aufräumen mit meinem Beruf zu tun hat

2 Irgendwas kann ein jeder. Von der Pflicht zur Schrulligkeit

3 Einmal noch schlafen, dann ist morgen. Sätze, die mich über Jahre verfolgen. Ich versuche zu verstehen, wo sie herkommen

4 Depression, du kannst mich mal. Notizen einer Verstörung, Begegnung mit Franz

5 Hinter den Kulissen der Traumfabrik. Zwei Männer sitzen auf einer Parkbank vor einem Stundenhotel in Wien

6 Seien Sie nicht Sie selbst. Warum Authentizität so lähmend wie Corona ist

7 Ihr übertreibt. Vom Umgang mit Kritik und dazu ein Rückblick auf ein paar weitere Härtetests im Leben

8 Leise rieselt der Schmäh. Von Laugenschmaus und Dinkelpause: Ein Streifzug durch die Wortspielhölle

9 Lasset uns den Müßiggang Wieder hochleben! Leidenschaftliches Plädoyer für die 20-Stunden-Woche und das bedingungslose Grundeinkommen

10 SEX. Eine kurze Geschichte über moderne Einsamkeit oder Wie es wäre, wenn ich Single wäre

11 Rubey hört auf, Drogen zu nehmen. Ein Versuch

12 Beweise, warum man besser nicht reise. Die Zeitung vor der Tür und den Espresso, so wie ich ihn kenne. Also reise ich entweder nach Sizilien oder nirgendwohin

13 Geister, Feen und traurige Seelen. Haben Sie schon etwas in Echtzeit gemacht?

14 Fliegenfischen ist keine Lösung, aber ein Anfang. Leidenschaft – Flow – Ohnmacht

15 Dress up and play. Der Versuch einer Erklärung, warum Scheitern und Gelingen dasselbe sein können

16 Die drei Hybrisse*. Der Wiener im Waldviertel und Besuch vom Tod

17 Mathematik und die Mutter aller Listen. Auf nach Nangijala!

THE END

* Der Plural von Hybris ist natürlich Hybris

DIE PSEUDOWEIRDOS PROBEN NOCH ICH WURDE SO GEBOREN VON SEINEM POSTER GRINST VAN GOGH BIS ÜBER BEIDE OHREN.

BLUMFELD

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

danke, dass Sie dieses Buch erstanden haben.

Jetzt schreibt er auch noch ein Buch! Warum denn das? Also gut: Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so gab es im Wesentlichen vier Dinge, die mich interessierten, die mich begeisterten, die mir weiterhalfen, die Welt ein bisschen besser zu verstehen, oder zumindest eine Ahnung von ihr und unserer komischen, wunderlichen Existenz zu bekommen:

FRÜHKINDLICHE LISTE

1)Mich verkleiden

2)Komikern bei der Arbeit zusehen

3)Lesen

4)Diskutieren

Ich liebe Listen. Listen sind der absurde Versuch, Ordnung zu schaffen. Ordnung ist mir wichtig. Sehr wichtig. Seit ich denken kann, versuche ich das Chaos zu besiegen, mein Leben unter Kontrolle zu kriegen. Ich weiß, dass ich diesen Kampf verlieren werde. So wie ich auch eines Tages den Kampf gegen den Tod verlieren werde. Genauso wie Sie übrigens. Aber eben erst eines Tages, und wenn wir bis dahin die Zeit gut nützen, ist so ein Leben eh ganz schön lang. Und auch ganz schön gut, wie ich finde. Also meistens zumindest.

FERDINAND VON SCHIRACH

Wir gehen unser ganzes Leben auf dünnem Eis, und wenn wir Glück haben, bricht es erst ganz spät.

Aber nur wenn wir Glück haben.

Schirach ist gleich die erste Empfehlung. Lesen Sie alles von ihm. Er wird in hundert Jahren einen Stellenwert wie Franz Kafka oder Albert Camus haben. Das prophezeie ich. Ich habe gut reden, werden Sie jetzt sagen, weil in hundert Jahren mir niemand nachweisen wird können, wenn ich falsch lag. Schirach auch nicht. Wozu also dieses Buch? Weil ich es so will, und weil es mir ein Anliegen ist. Weil ich Buchstaben über alles liebe, und weil ich so gerne all die schönen Sätze weitergebe, die ich lese.

Ich habe große Skepsis meinen Gedanken gegenüber. Kann ich den Dingen trauen, die ich denke? Ein gutes Mittel, mich zu vergewissern, ist das Schreiben. Es gibt Situationen, die mich nachhaltig verwirren, zum Beispiel jede Form von Rechthaberei. Mich irritieren Menschen, die immer das letzte Wort haben müssen. Mich irritieren auch Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit, ich bin zutiefst verwirrt über Egoismus, der über alles und jeden drüberfährt, und mich verwirrt. Dummheit, ja ganz besonders verwirrt mich Dummheit. Sie merken schon, ich bin relativ oft verwirrt, und wenn das der Fall ist, setze ich mich hin und schreibe, bis eine vertrauenserweckende, kluge, klare Person auf dem Papier auftaucht. Irgendwie werde ich dann manchmal zu ihr und kann mich selbst klären und widerlegen. Es verhilft mir zur Klärung und oftmals zu dem laut ausgerufenen Satz: Was interessiert mich mein blödes Geschwätz von gestern!

Ich glaube an die Wirkkraft von Erzählungen – sei es in einem Buch, auf einer Bühne, bei einer Serie, in einem Film: Ich bin davon überzeugt, dass wir von guten Geschichten abhängig sind. Wir sind gierig danach und können gar nicht genug bekommen. Das steckt in uns drinnen, ebenso wie der unbändige Drang, die Erfahrung unsere guten Geschichte mit Menschen teilen zu wollen, die wir lieben. Man nennt es Mundpropaganda, und ich bin demütig und dankbar, dass es viele gibt, die sich für mich und meine Arbeit interessieren. Ich kann sogar sagen, das macht einen tiefen Eindruck auf mich. Nicht nur finanziell .

Ich möchte gerne ein paar meiner Eindrücke und Gedanken mit Ihnen teilen. Vieles, das in diesem Buch abgedruckt ist, hat mir weitergeholfen. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Dies soll aber keinesfalls ein esoterischer Ratgeber werden. Esoterik ist mir genauso nah wie Astrologie und Homöopathie. Also ich finde, Homöopathie ist die zweitbeste Form der Medizin, so wie die Scheibe die zweitbeste Form der Erde und Kaffeesudlesen die zweitbeste Form der Wissensvermittlung ist.

Ich liebe das Spiel mit der Wahrheit. Das ist die Chance, meine Privatheit, diesen allerengsten Kern zu schützen. Aber Sie, liebe kluge Lesende, interessieren sich zu meiner Freude da eh nicht so dafür. Es wäre übrigens viel einfacher, ein Tagebuch zu schreiben und das auf die Bühne zu bringen oder die Seiten eines Buches damit zu bedrucken. Wäre aber langweilig. Es muss natürlich bigger than life sein. Sonst wäre es ja auch keine Arbeit, sondern Big Brother.

 

PETER BICHSEL

Aber verzichten Sie bitte darauf, mich auf Autobiografisches anzusprechen. Ich werde alles abstreiten und auf meinem Recht auf Fiktion beharren.

Das schönste Kompliment, das ich beruflich jemals bekommen habe, kam von Josef Hader. Er sagte in einem Interview mit der Zeitschrift Tele.

JOSEF HADER

Manuel Rubey ist ein hochinteressanter Schauspieler, bei dem man als Zuschauer nie genau weiß, woran man ist.

Er hat immer ein Geheimnis.

Ich werde nicht alles offenlegen, wir sind schließlich nicht im Privatfernsehen. Aber ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, an den Dingen teilhaben lassen, die mir wichtig sind. Und seien Sie versichert: Ich gebe natürlich viel preis. Immer.

Ich wollte ursprünglich ein Buch über Faulheit schreiben, dann merkte ich, dass das Weglassen, die Reduktion viel eher gemeint sind. Dass auch eine Qualität darin liegen kann, weniger zu machen und langsamer zu werden. Wir hatten auch schon einen Titel: Rubey hört auf. Ich wollte all meinen Helden huldigen, die das Aufhören zur Maxime gemacht haben. Von Bartleby aus Melvilles Kurzgeschichte, der sich mit den Worten »I prefer not to« stets aus der Affäre zu ziehen weiß. Oder von meinem Lieblingscomic Gaston, der genialische Büroangestellte von Franquin, bis hin zu Pessoa und Groucho Marx.

Wir wollten kluge Menschen befragen, und am Ende hätte rauskommen sollen, dass wir sehr wahrscheinlich schon in nicht allzu ferner Zukunft eine 20-Stunden-Woche brauchen, um bei Vollbeschäftigung zu bleiben und dies sehr wohl auch zu finanzieren sei. Also unter dem Deckmantel der Faulheit hätte sich unter anderem ein politisches Manifest verborgen, das eine friedvolle Revolution der Langsamkeit, des Weglassens und der Menschenwürde vorgeschlagen hätte. So der Plan. Man wird ja noch Visionen haben dürfen. Wenn diese zu stark werden, empfehle ich übrigens durchaus Antidepressiva (dies ist an anderer Stelle nachzulesen).

Dann kam Corona, und fast von einem Tag auf den anderen waren all die klugen Ideen, das Fest der Langsamkeit, der Spaß an der Reduktion vom Tisch. Weil wir ja alle zusammen mit allem aufhören mussten.

Die Corona-Krise trifft die Welt in einer verwundbaren Zeit. Erderhitzung, wachsender Nationalismus, bröckelnde Demokratien, Flucht. Zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht abzusehen, wie die Geschichte ausgehen wird. Ob wir etwas begriffen haben werden und vielleicht auch das eine oder andere an positiver Erkenntnis mitnehmen. Zum Beispiel, dass es vielleicht doch auf so altmodische Begriffe wie Würde, Gleichheit und Respekt ankommt? Auf Solidarität zwischen Menschen, Generationen und Staaten? Haben wir erkannt, dass es der Markt eben nicht regelt? Also er regelt es schon, aber dann bleiben einfach tatsächlich sehr viele auf der Strecke. Oder wird es so ausgehen, dass sich alles noch weiter zurückzieht in nationale Kleingartensiedlungen und patriotische Egoismen? Ich habe natürlich keine Ahnung. Aber ich habe für mich aus den Wochen der Isolation mitgenommen, dass es vielleicht gar nicht so sehr um Reduktion geht, sondern vielmehr um fokussierte Verlangsamung. Dann fallen ganz automatisch Dinge weg, die wir in unserem Leben vielleicht nicht mehr brauchen und haben wollen. Die 20-Stunden-Woche ist damit ganz und gar nicht vom Tisch, wir brauchen sie meiner Meinung nach dringender denn je. Und viele sehen in Zeiten der Kurzarbeit, dass es geht, und dass es Möglichkeiten gibt, weniger zu arbeiten und trotzdem gut und verantwortungsvoll zu wirtschaften. Die Krise zeigt, dass unsere Pläne und Lebensentwürfe uns jederzeit um die Ohren fliegen können, und dass schließlich und letzten Endes nur der Moment und die Gegenwart bleiben. Das ist natürlich nichts Neues, aber trotzdem die Lösung.

Der Titel dieses Buches

EINMAL NOCH SCHLAFEN, DANN IST MORGEN

stammt von meiner Tochter. Und das trifft es. Es ist das stärkste Ja zum Leben, das ich wahrscheinlich je gehört habe. Wir nehmen diesen Tag. Soll er nur kommen. Wir heißen ihn willkommen. Wir wissen nicht, was in zwei Wochen sein wird, aber wir wissen, dass wir jetzt gerade am Leben sind. Und das ist gut. Oder wie Kid Kopphausen singen:

KID KOPPHAUSEN

Jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt.

Kaum etwas ist absurder als das Beharren auf nationalen Grenzen. Das Virus fraß sich in kurzer Zeit durch die Welt und brachte stabile Gesellschaften an den Rand des Zusammenbruchs. Bereits ins Wanken geratene Demokratien wurden zu Autokratien oder Diktaturen. Es zeigt sich, dass wir in einer synchronen Gleichzeitigkeit leben. In einer existenziellen Abhängigkeit von weltweiten Produktionsketten, Versorgungsketten, Lieferketten, und ja, auch Verantwortungsketten. In der zusammengewachsenen Welt mutiert ein lokales Risiko über Nacht zu einem globalen Problem. Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass es keine Provinz mehr gibt, außer in unseren Köpfen. Mein Nachbar im Waldviertel ruft über den Zaun hinweg zu mir rüber.

DER NACHBAR

Du, Schauspieler, waaßt du, was das beste Rezept jetzt gegen die Krise ist? Selbstgebrannter! Der liebe Augustin war so fett in der Pestgrube, dass alle geglaubt haben, er is scho tot, daweil hat er nur seinen Rausch ausgeschlafen.

Mehr dazu in Kapitel 11.

Wir brauchen Geschichten, und wir brauchen Humor. Poesie ist die schöne Illusion, die uns glauben macht, wir können zärtlich und zivilisiert sein, habe ich einmal gelesen. Und um uns darauf einzulassen, brauchen wir Zeit und Langsamkeit. Ich wünsche Ihnen schöne, hoffentlich erhellende und überraschende Stunden mit diesem Buch.

NERDS, DIE UNSERE WELT RETTEN KÖNNTEN

(frei nach Sybille Berg)

Lisa Simpson

André Heller

Helene Klaar

Ankathie Koi

Miranda July

Gaston

Monk

Daniel Düsentrieb

Christine Baranski

Sybille Berg

Meine Freunde

(mehr dazu gleich in Kapitel 2)

Prolog


Lesen, Verkleiden, Sitzen und Sitzungen. Wenn man genau hinsieht, liegt auch eine Ersatzlektüre parat. Des Weiteren sagen die Menschen, die mich seit damals kennen – also meine Eltern –, dass ich diese Geste auf der Bühne immer noch mache.

Ich konnte mit anderen Kindern nicht viel anfangen, und auch deren Spiele haben mich nicht interessiert. Am liebsten diskutierte ich mit Erwachsenen oder gab Theatervorstellungen zu völlig überzogenen Eintrittspreisen. Mein Vater hat ein paar Dinge mitgeschrieben, die ich so von mir gab. Zwei Zitate erscheinen mir erwähnenswert, weil sie irgendwie auch zeigen, dass ich mich kaum weiterentwickelt habe:

MANUEL ALS 3-JÄHRIGER

(am Begräbnis der Urgroßmutter)

Sterben muss schiach sein, weil da kriegt man Erde in die Augen.

MANUEL ALS 5-JÄHRIGER

Ich will Formel-1-Fahrer werden, weil das ist ein Beruf, der im Sitzen ausgeführt wird. Außerdem ist man berühmt und verdient viel Geld.

1
SCHON WIRD ES HEIKEL

Mein 16-jähriges Ich wohnt zwei Türen weiter oder Was das Aufräumen mit meinem Beruf und dem Scheitern zu tun hat

* Wie Sie, hochgeschätzte LeserInnen, erkennen können, bin ich schon am Finden eines knackigen, aber trotzdem nicht zu banalen Titels für dieses Kapitel gescheitert.

Sie hängt die Nirvana T-Shirts sehr akkurat auf den Kleiderständer und stellt diesen auf den Gang, vor die Bassena. Das Mietshaus, in dem ich lebe, ist zwar so alt, dass der berühmte Bassenatratsch hier bestimmt stattgefunden hat, aber das ist lange her, und deshalb traue ich mich nicht, meine Nachbarin, mein 16-jähriges Ich, das gerade wieder ihren Wäscheständer auf den Gang gestellt hat, anzusprechen. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich es schön finde, wie liebevoll sie die Wäsche aufhängt und dass die Band Nirvana meinem Leben damals als 16-Jährigem einen neuen Sinn gegeben hat. Aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst, sie würde es als übergriffig empfinden. Ich weiß das von meinen Töchtern. Aus ihrer Perspektive bin ich schließlich uralt. Aber ich erkenne in ihr eine Verbündete. So wie sie ihre Kräuter am Gang pflegt und stets die Fußmatte richtet, bevor sie wieder in die Wohnung geht. Warum fällt mir das auf? Weil ich in dieser Causa immer auf der Suche nach Verbündeten bin. Es ist mehr als eine Causa. Es ist eine Weltanschauung. Alles, was man nicht wirklich braucht, gehört entsorgt. Wir müssen uns von allem Ballast befreien, um uns auf die wesentlichen Dinge konzentrieren zu können.

Ich kenne mein 16-jähriges Ich nicht. Sie wohnt mit ihrer großen Schwester zwei Türen weiter. Mehr weiß ich nicht. Aber sie hat offensichtlich Nirvana-T-Shirts, und in ihren Bewegungen findet sich eine langsame Eleganz, die ich bei Menschen selten sehe. Deshalb stelle ich mir vor, sie sei meine Verbündete.

Es wird jetzt heikel. Aufräumen und Wegschmeißen sind wahrscheinlich meine Lieblingsthemen. Ich bin die Marie Kondo von Wien (mit der Ausnahme, dass ich mich bei den Dingen, die ich wegschmeiße, nicht bedanke).

Je nach Sichtweise geht es um Klarheit und Struktur (meine Sicht) oder Wahn und Zwang (jene fast aller anderen). Es geht mir nicht so sehr um Reinlichkeit, wenngleich ich es schon auch gerne sauber habe, sondern vielmehr um den Luxus der Leere. Ich liebe leere Räume, und ein freier Parkettboden ist für mich der Inbegriff von vollendeter Schönheit. Nichts ist schlimmer, als wenn zum Beispiel auf dem Küchenblock oder dem Schuhregal Dinge abgestellt sind, die da nicht hingehören. Das macht mich traurig und antriebslos. Und wissen Sie, was ich ganz schlimm finde? Wenn man sich die Schuhe ausziehen muss. Ich finde Hausschlapfen schlimmer als Gartenzwerge. Aber das nur am Rande.

Diese Sichtweise hat mich beinahe schon Freundschaften und meine Beziehung gekostet. Es ist also ernst. Ich bin sonst wirklich konsensorientiert, aber in diesem Punkt gibt es wenig Verhandlungsspielraum.

Nach dem Zivildienst zog ich mit meinen beiden engsten Freunden in eine WG in die Wiener Mollardgasse. Ich suchte vorrangig in diesem Grätzl nach einer Wohnung, weil ich wusste, dass Josef Hader gerne im nahe gelegenen Café Rüdigerhof saß und ich ihn stalken wollte. Meine beiden Freunde und ich – man kann über sie im nächsten Kapitel mehr erfahren – hatten uns die Jahre davor wunderbar verstanden, waren sogar viel zusammen gereist und hatten kaum Auseinandersetzungen gehabt.

Das Zusammenleben entpuppte sich als relatives Desaster. Ich putzte den beiden hinterher und fühlte mich rasch ausgenutzt. Was ich nicht verstand: Es war ihnen egal, wie es aussah. Schneidbretter wurden mehrere Tage benutzt, danach einfach umgedreht und weitere Tage weiterbenutzt, ehe ich sie reinigte. Sie hätten erst abgewaschen, wenn sich wirklich kein einziger sauberer Teller mehr in der Küche befunden hätte! Als ich einmal längere Zeit nicht in der Wohnung war, fand ich die beiden beim Heimkommen bekifft am Küchentisch sitzend. In den Töpfen hatte sich grüner Schimmel gebildet, den sie fasziniert beobachteten. Sie hatten dem Schimmel sogar einen Namen gegeben.


Dazu hörten sie OK Computer1, vielleicht das wichtigste Album der 90er-Jahre. Wenigstens in diesem Punkt waren wir uns einig.

Ich war fassungslos. Sie hatten nicht nur die Küche nicht aufgeräumt, sie hatten auch nicht geduscht und nicht gelüftet. Wahrscheinlich geht normales Jung-Sein so. Ich konnte nicht mit, gab bald entnervt auf, und wir zogen auseinander.

Bevor ich koche, reinige ich die Küche, bevor ich zu schreiben beginne, wird der Schreibtisch komplett geleert.

BERNARD GLASSMAN

Die Küche zu reinigen, bedeutet den Geist zu reinigen.

 

Ich schaue KöchInnen sehr gerne bei der Arbeit zu: Bevor die erste Zwiebel geschnitten wird, wird alles sauber gemacht. Übrigens findet sich eine ähnliche Argumentation in der buddhistischen Lehre, wenn ich das richtig verstanden habe. Jedenfalls können diese ordnenden Tätigkeiten wundervoll klärend sein.

Ich erinnere mich, dass ich mein Bücherregal einmal nach Farben sortiert habe. Es war ein klassischer Fall von Prokrastination, lange bevor das Wort modern wurde. Ich studierte und hatte mir noch nicht eingestanden, dass das Uni-Leben mich unglücklich machte. Statt für die Prüfung zu lernen, räumte ich das gesamte Regal aus und ordnete die Werke in tagelanger Arbeit nach Farben. Das Problem bemerkte ich erst zum Schluss: Ein nach Farben geordnetes Bücherregal mag zwar hübsch anzusehen sein, aber man findet darin kein einziges Buch mehr. Überdies zog ich mir die Sorge meiner Mitmenschen zu, die sich fragten, ob mich Marihuana nun endgültig zerstört hatte oder aus mir ein anthroposophischer Extremist geworden war.

Heute ist vieles leichter. Oder zumindest habe ich eine bessere ironische Distanz zu meinem Wahn. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, wenn andere sagen: Ich muss unbedingt zum Yoga oder ins Fitnessstudio, sonst werde ich unrund. Dann sage ich: Ich muss unbedingt noch die Küche putzen und das Wohnzimmer aufräumen, sonst werde ich unrund.

In den letzten Jahren ist es mir, glaube ich, ganz gut gelungen, an den Dingen des Alltags, an den Notwendigkeiten, die eben gemacht werden müssen, Freude zu empfinden und sie als Teil des Spiels zu sehen. Ich schätze am Aufräumen wirklich sehr, dass die Tätigkeiten allesamt nach kurzer Zeit ein Ergebnis zeitigen. Abgewaschenes Geschirr. Gebügelte Wäsche. Gewichste Schuhe. Die Ergebnisse können sich sehen lassen, und sie sind schöner, klarer, und ja eben aufgeräumter als vorher. Vielleicht hat es mit meinem Beruf zu tun. Ich will jetzt nicht vom inneren Chaos sprechen, das im Außen kompensiert werden muss, aber die Tatsache, dass sich meine Arbeit oft so flüchtig und ungreifbar anfühlt, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich es im Alltag gerne ordentlich habe. Schreib- und Probenprozesse führen oftmals dazu, dass auch nach Stunden des Grübelns nachher mehr Chaos herrscht als vorher. Das kann mir beim Wäscheaufhängen nicht passieren. Ich habe hier mit meinem Kollegen und Bühnenpartner Thomas Stipsits eine große Einigkeit erlebt.

Wir haben sehr schnell festgestellt, dass wir beide ziemliche »Monks«2 sind. Wenn man seinen Geschirrspüler »ohne System« einräumt, räumt er diesen wieder aus und neu ein. Ein mildes Lächeln des Besserwissenden auf den Lippen.

FRANK BERZBACH

Gehirne von Kreativen haben eine erhöhte Anfälligkeit für Verzweiflung, da sie pausenlos Probleme höchster Komplexität lösen. Während die meisten Berufsgruppen damit beschäftigt sind, klar umrissene und vorgegebene Aufgaben zu lösen, stehen Kreative oft vor Herausforderungen, bei denen nicht einmal klar ist, wo genau das Problem liegt.

Ich empfehle, alle Bücher von Frank Berzbach zu lesen. Es wird Ihnen danach besser gehen.

GUSTAVE FLAUBERT

Seien Sie in Ihrem Leben genau und geordnet, damit Sie in Ihrer Arbeit gewalttätig und originell sein können.

Es ist eine Lebenseinstellung geworden, und sie lässt sich gut begründen: Ich will es unaufwendig haben.

DIE REDUKTION IST FÜR MICH DER SCHLÜSSEL ZUM GLÜCK.

Vereinfachung im Alltag. Zum Beispiel habe ich das Fitnessstudio durch hundert Liegestütze pro Tag ersetzt. Und auf Tour habe ich fast nichts mit außer einer guten Flasche Wein, falls jene beim Catering nicht entsprechen sollte, 26 Buchstaben in unterschiedlicher Reihenfolge gebunden oder als Taschenbuch, sowie meine Laufschuhe. Die Laufschuhe immer dabei zu haben und von überall einfach starten zu können, ist eine Definition von Freiheit und Selbstbestimmung. Laufen und Lesen. Die beiden großen L’s sind ein Mitgrund, warum ich gerne auf Tournee bin. Ich muss dort keine Hausarbeit verrichten, also kann ich mich zwischen den Auftritten darauf fokussieren. Laufen und Lesen geht immer. 26 Buchstaben und ein paar Schuhe, und die Gedanken können fliegen und ganze Kontinente erschaffen. Wenn es nur gelänge, diese 26 Buchstaben in der perfekten Reihenfolge auf Papier zu bringen, hätte ich die vollendete Geschichte. Es wird mir nicht gelingen. Aber der Versuch lohnt sich allemal und immer wieder.

Das Corona-Virus hat uns vielleicht das Gefühl des Mangels spüren lassen, aber in den meisten Leben hat sich trotzdem zu viel angesammelt. Der Alltag hat uns im Griff, die To-Do- und Selbstoptimierungslisten wuchern aus, und wir fühlen uns schlecht und schuldig. Die allergrößte Schwierigkeit an meinem Beruf ist, das Dazwischen zu gestalten. Auf die Bühne zu gehen oder vor eine Kamera zu treten, ist dagegen vergleichsweise gar nichts. Das ist klar, da fühle ich mich meistens sicher. Das Spiel ist ein freier Raum, die Bühne ist ein Sicherheitsort. Viel komplexer ist der Alltag. Wie gestalte ich den? Wie schaffen wir es, uns nicht ablenken zu lassen, uns nicht treiben zu lassen? Wobei natürlich das bewusste Treibenlassen, der Flow (mehr dazu siehe Kapitel 14 und 15) etwas ganz anderes ist. Verzettelung macht den Menschen unglücklich, aggressiv, und zerfahren, wohingegen der Zustand des Flows, also die tiefe Konzentration auf eine Sache (sei es Briefschreiben oder Autoreparieren) ihn glücklich und zufrieden aus den Tiefen des Ichs auftauchen lässt – so etwa könnte man, wenn ich es richtig verstanden habe, eine Haupterkenntnis der Hirnforschung zusammenfassen. Nach einem 20-minütigen Waldspaziergang fühlt man sich zweifellos besser als nach einer Stunde in der Shoppingmall.

Gehen Sie zu Fuß! So oft und so weit wie möglich. Es ist immer besser, als es nicht zu tun. Gehen Sie spazieren, damit Sie nicht vergessen, dass es Vögel gibt!

Und trotzdem werden wir scheitern. Weil wir müssen. Wir, die versuchen Ordnung in das Chaos zu bringen, müssen scheitern. Aber vielleicht schaffen wir das in Würde und mit Eleganz. Das wäre doch das Ziel. Ich spiele gerne so Gedanken durch. Wie ging es den Menschen in den Verlagen, die Harry Potter abgelehnt hatten? Oder um es bildlicher zu machen: Im Juli 1954 begab es sich in den Sun Studios zu Memphis Tennessee, dass ein 19-jähriger Lastwagenfahrer namens Elvis Aaron Presley die ganze Weltgeschichte veränderte, indem er den Rock’n’Roll erfand. Der schüchterne junge Mann war ein Jahr zuvor in einem Aufnahmestudio in Sam Philipps gewesen, um ein Ständchen für seine Mutter aufzunehmen. Man nahm ihn in die Kartei auf, falls man in Zukunft mal einen Schnulzensänger brauche. Ist er immer noch in dieser Kartei vermerkt? Und konnte der Mann, der das entschied, danach einfach so weiterarbeiten?

LISTE DES SCHEITERNS

1)Man scheitert ja als Kind schon ständig. Ich habe lange geglaubt, mein Onkel ist Steuerberater. Stimmt aber nicht. Er ist Fahrlehrer.

2)Mein Freund Zebra erzählte mir, dass Slash von Guns’n’Roses so cool ist, dass er sogar in der Dusche raucht. Ich hab’s probiert …

3)Als ich mich das letzte Mal entspannt zurückgelehnt habe, saß ich auf einem Hocker.

4)Wer sich im Leben alle Türen offen hält, wird sein Leben auf dem Flur verbringen.

TOCOTRONIC – KAPITULATION

Und wenn du kurz davor bist

kurz vor dem Fall

und wenn du denkst

Fuck it all

wenn du nicht weißt

wie soll es weitergehen

Kapitulation

ohohoh Kapitulation.

Ich sitze mit einem Freund im Kaffeehaus und er sagt:

PETER

Schau der Angst doch einfach ins Gesicht.

Es geht letztlich um nichts.

Ich denke: Das würde ich gerne meinem jüngeren Ich sagen, das sich so viel aus der Meinung anderer gemacht hat, das sich leiten und lenken und verbiegen ließ aus Angst, nicht dazuzugehören. Soll ich es zumindest meinem 16-jährigen Ich 2.0 erklären, das zwei Türen weiter wohnt?

Alles tun, um es den anderen recht zu machen und aber trotzdem nicht dazugehören. So fühlte sich meine Jugend an. Ein Dilemma, eine Spirale.

Ist der ängstliche junge Mann plötzlich ein 40-jähriger Spießer geworden? Ich finde nicht, aber ich bin ständig mit diesem Bobo-Vorwurf konfrontiert. Lasset uns das also kurz abhandeln.

BOBO ist ein Neologismus, Oxymoron und Akronym, das sich abgekürzt aus den Wörtern bourgeois und bohémien zusammensetzt. In Deutschland firmiert er unter Hipster. Der Begriff »Bobo« wurde durch das im Jahr 2000 erschienene populärwissenschaftliche Buch Bobos in Paradise von dem Kolumnisten der New York Times David Brooks geprägt, der sich selbst als Bobo bezeichnet. Er bezeichnet dementsprechend ursprünglich die US-amerikanische Oberschicht am Ende der 1990er-Jahre, die »Konservativen in Jeans« und »Kapitalisten der Gegenkultur«. Der Lebensstil der Bobos führte zusammen, was bis dahin als unvereinbar galt: Reichtum und Rebellion. Also die Ideale der Hippies kombiniert mit der Bequemlichkeit der Yuppies. Oder so ähnlich. Da Bobos oftmals über mehr Geld verfügen, weil sie in ihrem Irgendwas-mit-Medien-Beruf erfolgreich sind, oder einfach nur geerbt haben, trotzdem aber gerne lässig bleiben wollen und sich daher gerne in räudigen, aber doch hippen Grätzeln niederlassen, unterstellt man ihnen gerne, Zugpferde der Gentrifizierung zu sein. Die Wiener Künstlerin Andrea Maria Dusl verwendet hierfür die sehr treffenden Begriffe: Boboville und Bobostan. Und da ist sie wieder, die Ambivalenz der Dinge, die sich natürlich auch in Bobostan findet. BMW fahren und grün wählen, Refugees Welcome-T-Shirts tragen, während sie die Kinder in die katholische Privatschule bringen. Der deutsche Kabarettist Andreas Rebers singt dazu:

ANDREAS REBERS – AUF KAMELEN DURCH BERLIN

Kinder machen Kinderyoga

und sie ernähren sich gesund

und der Braten ist aus Soja

und die Salate sind so bunt

Die Mama kauft gern auf dem Markt ein

Das ist so kommunikativ

Der Papa darf hier nicht mehr stark sein

Der Papa der ist kreativ

Klischees von heut’ waren früher Utopien

Wir reiten auf Kamelen durch Berlin.

Stimmt alles! Man trifft sich, um sich gegenseitig mit seinen Kochkünsten zu beeindrucken und spielt um zwei Uhr früh dann betrunken Luftgitarre auf der Pfeffermühle. Revolution 2.0. Bobos halten sich für nonkonformistisch, mögen ihre innerhalb des Gürtels gelegene Dachterrassenwohnung, werfen regelmäßig voll Freude ihren Smoothiemaker an und geben ihrem Sauerteig Rufnamen. Sie genießen das Leben und haben ein eigenes Verhältnis zum Konsum, sie kaufen in Bioläden, frequentieren Radwege und trinken Hugo sowie Aperol-Spritz statt Bier und G’spritzten. Sie lesen den Standard und den Falter, wählen vorzugsweise Grün, heißen Asylwerber willkommen, obwohl sie nur überschaubare Kontakte mit ihnen pflegen, sie sind aufseiten von Klimaschützern, nennen aber einen VW Touran oder ein anderes praktisches Auto mit viel Stauraum ihr Eigen, mit dem sie am Wochenende regelmäßig ins Waldviertel fahren. Ja, da sind Widersprüche. Trotzdem sind die meisten Bewohner von Bobostan, die ich kenne, eigentlich sehr freundlich, und Menschen, die offen sind für andere, egal welchen Geschlechts und welcher Herkunft. Sie sind mir nun einmal von Grund auf näher als die Allesverweigerer.