Czytaj książkę: «Crescendo bis Fortissimo»
Manfred Eisner
Crescendo bis Fortissimo
Zweiter Roman
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Wenn man hier im Lande mit der Verfolgung
einer gewissen Gruppe unserer Landsleute anfängt,
nur um ihrer Abstammung willen, dann ist es
christliche Pflicht zu rufen: „Das ist gegen das
Grundgesetz im Reiche Christi, die Barmherzigkeit“,
und das ist verabscheuungswürdig für jedes nordische Denken ...
Ein christliches Volk, das tatenlos zusieht,
wenn seine Ideale mit Füßen getreten werden,
gibt dem tödlichen Keim der Verwesung Einlass
in seinen Sinn, und Gottes Zorn wird es treffen!
Kaj Munk, dänischer Pastor und Schriftsteller, * 13.01.1898 in Maribo, Lølland, † 05.01.1944 in Vedersø, auf Anordnung Hitlers und Himmlers ermordet von SS-Schergen.
Diesen Roman widme ich mit höchster Anerkennung und in tiefer Dankbarkeit all jenen Mutigen, Aufrichtigen und Anständigen, die sich während des nationalsozialistischen Terrors selbst unter eigener Gefährdung nicht scheuten, den Verfemten, Verfolgten und in Lebensnot Geratenen tatkräftige Unterstützung, Hilfe und Schutz zu gewähren.
Manfred Eisner
Brokdorf, im Frühjahr 2014.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Zitat
Vorwort
1. Gottesdämmerung
2. Rückblende
3. Crescendo
4. Lieber Besuch
5. Hans-Peters Bekehrung
6. Bedrängnis
7. Josefs Bekümmernisse
8. Aus Clarissas Tagebuch
9. Üble Machenschaften
10. Weihnachtsbeichte
11. Prost Neujahr 1936!
12. Silkes Gewissen
13. Verlobung
14. Heikle Recherchen
15. Des Oskars Rätsel
16. Das fehlende Glied
17. Stammbaum
18. Schlupfwinkel
19. Magerer Bescheid
20. Haschende Profiteure
21. Unheilvolle Enthüllung
22. SOS
23. Heiligabend
24. „Muss i’ denn ...“
25. Geschichte an zwei Orten
26. Fortissimo
27. Clarissas Reisebericht
Nachwort
Der Autor
Danksagung
Vorwort
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
es sind einige Jahre über Oldenmoor, die imaginäre, irgendwo in der holsteinischen Marsch gelegene Kleinstadt, hinweggezogen, seit unsere liebenswerten Hauptpersonen aus „Leise Musik aus der Ferne“ endlich ihrer Liebe gewahr wurden.
Sie, als Eingeweihter, pflichten dem Autor hoffentlich bei, dass es doch eigentlich bedauerlich gewesen wäre, es dabei bewenden zu lassen und diese Szenerie samt ihren imaginären Darstellern so mir nichts, dir nichts aus den Augen und aus dem Sinn zu verlieren.
Deshalb setzen wir nun die Geschichte fort und begleiten Clarissa und Heiko bei ihrem alltäglichen Bemühen, den sich ausbreitenden Widrigkeiten und Verfolgungen inmitten Deutschlands während der neunzehnhundertdreißiger Jahre mit mutiger Aufrichtigkeit und menschlichem Anstand zu begegnen und letztendlich zu entkommen.
Die harsche politische Realität dieser Zeit stellt dabei wiederholt gefährliche Klippen ins Fahrwasser, die es geschickt zu umschiffen gilt.
Dazu weht ihnen ein anschwellend eisiger Gegenwind ins Gesicht, denn die zeitlichen Wirren spitzen sich rasant zu – bis zum unausweichlichen Orkan.
1. Gottesdämmerung
Heiko sitzt in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und liest mit ernstem Gesichtsausdruck den Courier, das Lokalblatt Oldenmoors. Auf der ersten Seite dominiert die Überschrift in großen Lettern:
Deutschland ist wieder gesund! Der Führer schafft klare Verhältnisse.
Darunter ein Bericht über die Sitzung des Deutschen Reichstages anlässlich des Parteitages der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei. Es folgt eine Zusammenfassung der in Nürnberg am Vortage verkündeten neuen Gesetze: das „Reichsbürgergesetz“ sowie das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.
Mit jeder gelesenen Zeile steigert sich Heikos Betroffenheit. Sein besorgter Blick wendet sich von der Zeitung ab und fixiert das sich von Wand zu Wand erstreckende Bücherregal, vollgestopft mit zahlreichen antiquarischen und modernen Büchern, die in Leder, Leinen und Karton eingebunden sind.
Ein kalter Schauer fährt Heiko den Rücken hinab. Er ist dreiundzwanzig, ein maskuliner Typ, groß und schlank gewachsen und in den vergangenen Jahren vom rebellischen Jüngling zu einem gestandenen jungen Mann herangereift. Nicht wissend, ob er wegen des soeben Gelesenen oder der Kälte seines Arbeitszimmers fröstelt, erhebt er sich, geht an die Tür und öffnet sie.
„Silke!“, ruft er mit heiserer Stimme hinunter.
Unten sind Schritte zu hören, danach das Öffnen einer Tür. „Jawohl, Herr Keller?“
„Seien Sie so gut, bringen Sie den Kohleneimer und machen Sie den Ofen in meinem Zimmer an. Es ist ziemlich kalt hier oben.“
„Komme sofort!“ Die Tür schließt sich wieder.
Heiko geht zurück an den Schreibtisch und setzt sich in den Drehsessel. Verloren in ernsten Gedanken, spielen seine Hände unbewusst mit dem Totenschädel (eine von Harald Suhls Hinterlassenschaften), den er mit seiner Rechten vom Schreibtisch gegriffen hat. Die Finger der linken Hand gleiten auf der elfenbeinfarbenen Schädeldecke langsam hin und her.
Als „Onkel“ Harald Suhl vor einigen Jahren starb und ihm sein gesamtes Vermögen vererbte, zog Heiko von seinem Kellerzimmer im Herrenhaus der von Steinbergs in dieses Haus um. Während inzwischen in den anderen Wohnräumen des Hauses zahlreiche Umbauten durchgeführt wurden, blieb dieses Zimmer unberührt. Mit Ausnahme der neuen Tapeten befand es sich noch im selben Zustand wie beim Ableben des kauzigen Alten. Heiko liebte dieses Arbeitszimmer, da es mit zahlreichen Erinnerungen an seine Kindheit verbunden war.
Onkel Suhl, ein langjähriger Freund der Familie und unerwidert gebliebener Jugendliebhaber von Heikos Großmutter Alexandra, war sozusagen „Oldenmoors Institution des Wissens“ gewesen. Trotz seines exzentrischen Verhaltens und seiner für seine Gesprächspartner oft unverständlichen Ausdrucksweise hielt man ihn für eine Kapazität. In der Tat war er sehr belesen und hinterließ eine ansehnliche Bibliothek. Heiko hatte einige Mühe, seine eigenen, ebenfalls zahlreichen Bücher in dem bereits ziemlich vollen Bücherregal unterzubringen.
An der gegenüberliegenden Wand hängt ein in dezenten Pastelltönen gemaltes Bild: ein sehr hübsches, etwa sechzehn Jahre altes Mädchen mit himmelblauen Augen, langlockigem, kastanienbraunem Haar und wohlgeformten Lippen, das den Betrachter mit einem leicht angedeuteten Lächeln ansieht. Unter dem Signum „Heiko Keller“ und der Jahreszahl 1930 am unteren Bildrand steht in kleinerer Schrift: „Bildnis der Prinzessin von der madigen Erbse, die in einem verzauberten Schloss an der alten Esche gefangen gehalten wurde“.
Heiko hört Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich und eine robuste, etwa siebzehnjährige stämmige Deern mit blauen Augen und langen, blonden Zöpfen betritt freundlich lächelnd das Zimmer. Sie trägt den Kohleneimer in der einen und einige alte Zeitungen in der anderen Hand.
„Ich mache Ihnen sofort das Feuer an, Herr Keller“, sagt sie eifrig und geht vor dem kleinen Kachelofen in die Knie.
Durch das Eintreten des Hausmädchens aus seinen tiefen Gedanken herausgeholt, nickt Heiko stumm. Beklommen blickt er auf den Totenschädel in seiner Hand und deponiert diesen schließlich auf dem Zeitungsartikel über das Blutschutzgesetz. Er steht auf und geht langsam im Zimmer umher. Plötzlich bleibt er vor dem Bücherregal stehen, greift nach einem Band und blättert suchend darin. Nachdem er die gewünschte Stelle gefunden hat, liest er ein paar Seiten, schüttelt den Kopf und schiebt das Buch in seine Lücke zurück.
Sein Blick bleibt an einem Wandkalender haften, der anzeigt, dass heute der 16. September 1935 ist.
„Die gnädige Frau ... lässt Ihnen ausrichten, dass ... es bald Abendbrot ... geben wird“, sagt Silke, wobei sie ihren Satz mehrmals zum Tief-Luft-Holen und In-das-Feuer-Blasen unterbricht. In der Feuerstelle des Kachelofens lecken bereits einige rötliche Flammenzungen gierig an den fetten, schwarzen Kohlen.
„Danke, Silke. Haben die Kinder schon gegessen?“
„Sie waren gerade dabei, als ich hochgekommen bin.“
„Gut, dann gehe ich schon mal runter.“
Heiko steigt die Treppe hinab und schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele bis hin zur Küche. Leise öffnet er die Tür, bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet mit einem stummen Lächeln das lebendige Bild, das sich vor ihm auftut. Am Küchentisch sitzt eine auffallend hübsche, junge Frau, die eine große Ähnlichkeit mit dem Portrait in seinem Arbeitszimmer hat. Aus der damals mädchenhaften Clarissa ist inzwischen eine besonders aparte Erscheinung geworden. Mit fürsorglichem Mutterblick wacht sie über das Abendessen ihrer beiden Kinder. Ein etwa zweijähriger, strohblonder Bube sitzt auf einem Kinderstuhl und rührt eifrig mit dem Löffel in seinem Schüsselchen herum, wobei der Brei darin überzuschwappen droht. Währenddessen gibt Clarissa dem Baby auf ihrem Schoß die Milchflasche.
„Oliver! Hör bitte auf, in deinem Brei herumzustochern. Mit dem Essen darf man nicht spielen.“ Clarissa spricht ihren Verweis in einer ruhigen, versöhnlichen Stimme aus.
Oliver hebt seinen Blick von der Schüssel und sieht Heiko in der Tür stehen. Seine blauen Äugelein strahlen vor Freude und er fuchtelt wild mit dem Löffel in der Luft herum, während er gleichzeitig in seiner Kleinkindersprache in hohen Tönen quiekt.
Verwundert blickt sich Clarissa um. Mit einem warmen Lächeln begrüßt sie ihren Mann, der auf das Trio zueilt und jeden von ihnen zärtlich umarmt und küsst. Heiko nimmt Oliver den Löffel aus der Hand und füttert ihn geduldig, bis er seinen Brei aufgegessen hat.
Unterdessen berichten sich die jungen Eltern gegenseitig von ihrem Tagesablauf. Während er Clarissa zuhört, denkt Heiko, dass sie sich seit jenem Frühlingsabend vor vier Jahren, an dem ihr endlich ihre Liebe zu ihm bewusst wurde, äußerlich kaum verändert habe. Sicherlich, sie ist inzwischen reifer geworden, aber die zweimalige Mutterschaft hat weder ihrem Gesicht noch ihrer Figur nachteilige Veränderungen zugefügt. Sie ist noch genau so erfrischendnaiv-aufrichtig-bildhübsch wie damals, gesteht sich Heiko mit Bewunderung ein.
„Ich war heute mit den Kindern zu Besuch im Herrenhaus“, erzählt Clarissa. „Der Papa und die Mama haben sich sehr gefreut. Tante Therese kam später auch noch dazu. Sie alle lassen dich grüßen.“
„Danke für die Grüße. Ich habe euch aus dem Fenster meines Arbeitszimmers gesehen. Der beeindruckende Konvoi zweier Kinderwagen unter Führung eines bezaubernden Kommodores entging nicht meiner Aufmerksamkeit.“
Von Heikos Bürofenster in der Backwarenfabrik blickt man direkt auf das Herrenhaus der Familie von Steinberg. Dieses gehört allerdings schon seit einigen Jahren Heiko. Er löste damals mit einem Teil des von Onkel Suhl geerbten Geldes eine fällige Hypothek ab und konnte somit seinen zu der Zeit noch zukünftigen Schwiegereltern – gleichzeitig Großonkel und Großtante – ihr Heim erhalten.
Clarissa nimmt das Kompliment ihres Mannes mit einem Lächeln an. Während sie das Baby halb über ihre Schulter hält, klopft sie rhythmisch und zart auf dessen Rücken. Elisabeths wiederholtes, lautes Aufstoßen bestätigt der Mutter die Wirksamkeit dieser Methode, die ihr Sanitätsrat Dr. Schmitthofer zur Entfernung der lästigen Luft aus dem Babybäuchlein empfohlen hat. „Und wie war dein Arbeitstag, mein Liebling?“
„Nichts Ungewöhnliches, alles Routine. – Hast du heute schon die Zeitung gelesen?“
„Ja, aber nur oberflächlich. Ich ...“ Abrupt unterbricht Clarissa den angefangenen Satz, als Silke in der Tür erscheint. Sie steht auf und hebt spielerisch ihr Baby in die Luft. „... bringe jetzt die Kinder ins Badezimmer und danach geht’s ab in die Heia! Silke, bringen Sie bitte Oliver mit?“ Im Vorbeigehen küsst Clarissa ihren Mann rasch auf den Mund und ist danach auch schon aus der Küche verschwunden. Silke folgt ihr mit Oliver auf dem Arm. Der Bub protestiert laut und wirbelt mit seinen Ärmchen wild in der Luft herum.
Nach einem kurzen Augenblick erlischt Heikos Lächeln, das sich durch Clarissas überraschende Liebkosung auf seine Lippen geschlichen hatte. Seufzend setzt er sich wieder an den Küchentisch und rührt gedankenverloren mit dem Kinderlöffel in Olivers leerer Breischüssel. So weit sind wir also schon gekommen, gesteht er sich verbittert ein. Man kann seine Gedanken nicht einmal mehr im eigenen Heim offen zum Ausdruck bringen. Jeder hat – ja, jeder muss vor jedem Angst haben. Man redet zwar nicht offen darüber, aber man weiß, was mit jenen passiert ist, die es gewagt hatten, das zu sagen, was sie dachten. Sie verschwanden plötzlich und man hat die meisten von ihnen nicht wieder gesehen. Und die wenigen, die zurückgekommen sind, schweigen sich aus.
* * *
Heiko und Clarissa sitzen im Esszimmer. Silke hat soeben den Tisch abgeräumt und verlässt, vollbeladen mit Tellern und Besteck, den Raum. Während des Abendessens ist keine richtige Unterhaltung zwischen den beiden zustande gekommen, sie haben die meiste Zeit nur schweigend gegessen.
Besorgt sieht Clarissa ihren Ehemann an. „Was hast du, Heiko? Du siehst so bedrückt aus. Ist etwas passiert?“
Heiko blickt vielsagend in Richtung Tür. „Jetzt nicht – später!“ Er nimmt sich zusammen und versucht, seine Frau mit einem Lächeln zu beruhigen. Er greift nach ihrer Hand, und nachdem Clarissa ihm diese überlassen hat, streichelt er sie liebevoll, versinkt aber schon nach einigen Sekunden abermals in seinen Gedanken.
„Möchtest du noch etwas, Heiko?“
„Nein, Prinzessin, vielen Dank. Wollen wir nicht hinübergehen?“
In ihrer Kindheit spielten sie mit ihren Spielkameraden oft „Entführung der Prinzessin“. Heiko, Anführer der Bande und damals ein ziemlich rüder und eigensinniger Einzelgänger, verlieh Clarissa den wenig schmeichelhaften Namen „Prinzessin der madigen Erbse“, worüber sie verständlicherweise sehr enttäuscht war, hatte sie sich doch einen viel wohlklingenderen Namen erhofft. Noch in den Jahren danach sprach Heiko Clarissa immer dann mit „Prinzessin“ an, wenn er sie bewusst ärgern wollte. Nach ihrer Verlobung und der Hochzeit wurde daraus jedoch ein Kosename.
Beide stehen auf und gehen Hand in Hand ins Wohnzimmer, in dem ein loderndes Kaminfeuer dazu einlädt, sich gemütlich niederzulassen. Der geräumige Salon ist mit dunkel gebeizten Möbeln im neuen Renaissancestil ausgestattet. Vor dem Kamin stehen rund um einen passenden Sofatisch ein bequemes Sofa und drei große Sessel mit gewaltigen Löwentatzen als Füße. Genüsslich lässt sich Clarissa auf dem Sofa nieder und zieht ihren Mann an ihre Seite. Heiko legt seinen Arm um ihre Schulter und sie schmiegt sich an ihn.
Als Heiko in das hellbraun getünchte Haus mit dem markanten Balkon umgezogen war, plante und verwirklichte er sehr sorgfältig und weitsichtig dessen Umbau. Boie Sötje, ein ehemaliger Schulfreund vom Gymnasium und Sohn des Inhabers des größten Baugeschäftes in Oldenmoor, stand damals kurz vor der Beendigung seines Architekturstudiums und unterstützte ihn mit Rat und Tat. Die Bauarbeiten führte die Firma Sötje aus.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Aus dem alten und ziemlich heruntergekommenen Gebäude, das Onkel Suhl in seinem Einsiedlerleben sehr vernachlässigte, ist ein wohnliches, einladendes und komodiges Heim geworden, mit allen Raffinessen, welche die moderne Technik zu bieten hat: Spülklosett, Badezimmer, fließend kaltes und warmes Wasser – ja sogar ein elektrischer Herd mit Backröhre und ein Kühlschrank schmücken die Küche. Auch ein Fernsprecher ist nunmehr im Haus vorhanden. Das obere Geschoss, das vormals mit Ausnahme von Onkel Suhls Arbeitszimmer ungenutzt war, wurde ausgebaut. Neben den beiden Kinderzimmern befinden sich dort jetzt ein Gästezimmer, ein Zimmer für das Hausmädchen und ein kleines Badezimmer mit Dusche und Spülklosett.
Heikos größte Freude an dem gelungenen Umbau ist die Tatsache, dass man dem Haus von außen nichts von den inneren Veränderungen ansieht. Das kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün lackierte Geländer des Balkons mit seinen wohlgeformten, weißen Schwänen thront an der Fassade und gibt dem Haus sein ganz besonderes Gepräge.
Obwohl schon vier Jahre seit Heikos Einzug vergangen sind, wird dieses Haus in Oldenmoor immer noch „Harald Suhls Hus“ genannt. Darüber freut sich Heiko ganz besonders, weil die Menschen auf diese Weise seinem Gönner, dem lieben alten Spaßvogel, der so viele Oldenmoorer Bürger (natürlich ohne deren Wissen) mit seinen Pseudoweisheiten hinters Licht führte, so etwas wie ein Denkmal gesetzt haben.
Alle diese und noch viele andere Erinnerungen wandern gerade durch Heikos Gedanken.
„Was bedrückt dich, Deichkater?“, flüstert Clarissa in Heikos Ohr. „Du machst mir ernsthafte Sorgen.“ Jedes Mal, wenn sie Heiko mit seinem Spitznamen anspricht, muss sie unwillkürlich an den rebellischen Spielgefährten ihrer Kindheit denken, der diesen Namen wegen seines zeitweisen Untertauchens in einer aus Weiden selbst gebastelten Hütte am Elbdeich trägt.
„Ach, mein Schatz, es ist die augenblickliche Lage, die mir so sehr an die Nieren geht.“ Auch Heiko spricht ganz leise. „Wir rasen immer schneller dem Abgrund entgegen und es sieht so aus, als ob es niemand merkt. Und von denjenigen, die es zumindest ahnen, will es sich keiner eingestehen. Alle schreien vor Begeisterung Hurra und ich vermute, das Denken dieser Menschen ist wohl ausgerastet. Was ich da heute wieder gelesen habe ...“
„Ja, ich weiß. Und auch, wie du darüber denkst, wir haben uns ja schon öfter über dieses Thema unterhalten. Ich finde es ebenfalls sehr schlimm und all diese armen Menschen tun mir furchtbar leid. Aber unserer Familie droht doch keine Gefahr, oder?“
„Doch, Clarissa, aber ja!“
Clarissa legt ihre Hand vor Heikos Mund, weil sein Ausruf heftig und laut war. Er hält einen Moment inne und küsst ihre Finger. Clarissa lächelt und nickt ihm zu – eine stumme Aufforderung, seine Behauptung zu erläutern.
Heiko fährt in leisem, jedoch markantem Ton fort: „Begreifst du denn nicht, dass es hier um die elementarsten Menschenrechte geht? Ist dir nicht bewusst, dass das, was hier heute geschieht, ein gellend schreiendes Unrecht gegen alle Völker der Erde ist, für das wir Deutschen eines Tages, ob wir es gewollt haben oder nicht, ob wir aktiv mitgemacht oder es nur tatenlos geduldet haben, vor der Welt Rechenschaft werden ablegen müssen?“
„Ich fühle genau wie du, Heiko. Auch ich empfinde ein großes Unbehagen. Was ist nur in all diese Menschen gefahren? Nicht mal mehr ein freundliches ‚Guten Morgen‘ oder ein lächelndes ‚Guten Tag‘ beim Treffen mit Freunden und Bekannten ist noch drin. Nein! Bis heute kriege ich dieses primitive ‚Heil Hitler!‘ nicht über meine Lippen.“
„Wenn es nur das wäre!“, seufzt Heiko. „Das Ganze geht noch weiter, es kommt noch viel schlimmer. Jeder Deutsche muss jetzt den Beweis erbringen, dass er Arier ist! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diesen Humbug schallend lachen!“
„Na, wenn uns nichts Schlimmeres passiert!“, witzelt Clarissa und versucht Heiko auf diese Weise aufzumuntern. Das Lächeln, das Heiko darauf erwidert, ist ein trauriges. „Ja, ja, für dich, Clarissa von Steinberg, du Prinzessin der madigen Erbse, ist das kein Problem. Da gibt es ja auch nicht den geringsten Zweifel an deiner Herkunft und dass in deinen Adern rein arisches Blut fließt! Außerdem ist all dies einfach zu belegen. Aber wie sieht es für mich, den Heiko Keller, aus?“
Pause.
Mit ernstem Blick sieht Clarissa ihren Mann an. Auch Heikos Mutter war eine von Steinberg, eine Cousine des Papas. Trotz des Widerstands der Familie heiratete Elisabeth aus Liebe den Kunstmaler Oskar Keller, über den man nichts Genaues wusste – weder über seine Herkunft noch über seinen späteren Verbleib, hatte er doch Frau und Kind kurz nach Heikos Geburt genauso unauffällig verlassen, wie er einst auf der Bildfläche erschienen war. Elisabeth konnte diesen Kummer nicht bewältigen und nahm sich kurz darauf das Leben. Heiko wurde daraufhin von seiner Großmama, Tante Alexandra, aufgezogen.
„Ich verstehe, Deichkater. Du sorgst dich, weil du glaubst, dass es schwierig sein könnte, die Herkunft deines Vaters zu erforschen.“
„Ja, oder besser gesagt: nein! Es ist ekelhaft, so etwas überhaupt tun zu müssen, verstehst du? Wäre ich denn ein anderer, ein schlechterer Mensch, wenn sich herausstellen sollte, dass mein Vater kein reiner Arier gewesen ist?“
„Natürlich nicht ...“ Clarissa hält inne, als Silke mit dem Teeservice hereinkommt.
„Ist die gnädige Frau damit einverstanden, wenn ich schon jetzt den Tee serviere? Weil ich doch heute noch ausgehen müsste, das heißt, wenn Sie nichts dagegen hätten.“
„Ist schon gut, Silke, servieren Sie jetzt den Tee und danach können Sie sich gern den Rest des Abends freinehmen.“ Clarissa hilft ihr beim Verteilen des Geschirrs.
„Danke, gnädige Frau.“
„Wo soll’s denn hingehen, Silke?“, fragt Heiko, während sie seine Tasse mit dem bernsteinfarbenen Aufguss füllt.
„Zum Heimabend beim BDM.“
„Ach so, natürlich, da dürfen Sie keineswegs fehlen!“, entfährt es Heiko wie aus einer Pistole geschossen. Häme schwingt in seiner Stimme mit. Bund Deutscher Mädchen! Diese dämonischen Verführer machen auch vor der noch unschuldigen Jugend keinen Halt.
Nachdem Clarissa zunächst Heiko einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hat, sieht sie besorgt auf Silkes Gesicht, um zu erspähen, wie das Hausmädchen seine unvorsichtige Bemerkung aufgenommen haben könnte. Silkes klarer, aufrichtiger Blick jedoch beruhigt sie.
„Na ja, dann wünsche ich ’ne gute Nacht. Heil Hitler!“, sagt das Mädchen, während es das Wohnzimmer verlässt.
„Gute Nacht, Silke.“
Das Ehepaar bleibt in der Stille sitzen, bis ein Geräusch verrät, dass gerade die Haustür ins Schloss fällt. Endlich sind sie allein.
„Heiko, du darfst nicht ...“
„Ich weiß, Clarissa, du hast recht, aber manchmal überfährt es mich und ich kann einfach nicht an mich halten!“
„Mein lieber Herr Gemahl, du wirst lernen müssen, dich zu beherrschen, oder du bringst dich und deine Familie in größte Gefahr. Denk doch an die Kinder!“
„Natürlich hast du recht, Prinzessin! Es bleibt mir leider keine andere Wahl, als mich zukünftig im Kuschen und Duckmäusern zu üben. Denn trotz meiner Überzeugung und meiner Verachtung für diese germanischen Götter des Unheils kannst du mir das eine glauben: Überleben will ich – koste es, was es wolle! Und dass ich jegliches Unheil von meiner geliebten Familie fernhalten möchte und werde, brauche ich dir wohl nicht zu versichern, oder?“ Zärtlich nimmt Heiko seine Clarissa in die Arme und küsst sie liebevoll auf Augen, Nasenspitze und Mund.