Czytaj książkę: «Das Konzerthaus»

Czcionka:

In der kleinen Welt, in welcher Kinder leben,

gibt es nichts, dass so deutlich von ihnen erkannt und gefühlt wird, als Ungerechtigkeit.

Charles Dickens

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

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EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8411-5

Maike Rockel

Das Konzerthaus


Prolog

„Wärest du wenigstens ein Mädchen geworden. Du bist schuld, dass ihr euch geteilt habt!“, kreischte meine Mutter, und ihr absonderlicher Blick, den ich erst später einordnen konnte, ließ mich erschauern.

Verstehen Sie das? Ich begriff es erst viel später, was sie meinte und was in ihrer abgründigen Seele vorging, aber sie ließ ihre tiefe Ablehnung zu meinem schmerzhaften Wegbegleiter werden. Es war mein Schicksal, dass ich in dem schändlichen Lebenskonzept meiner Mutter keinen Platz hatte.

Es wäre ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, mich zu lieben, aber sie verweigerte mir ihre Gunst. Sie würdigte mich entweder keines Blickes oder setzte mich auf unverzeihliche Weise herab, obwohl ich wie ein Stern strahlte.

Ich versuchte, ihre harte Hand abzuwehren. Eine eiserne Hand, die mich nie zärtlich und liebevoll berührte, nie den Weg zu meinen Wangen gefunden hatte, um mich zu streicheln oder eine Träne nach einem Sturz wegzuwischen.

Knöcherne Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Oberarme. Ihr saurer Körpergeruch und ihre Fahne stiegen mir in die Nase, während mein Bruder mir mit einem Ruck die Hose von den Beinen zog.

Weinen musste ich. Ich weinte vor Wut und Scham und verlangte, mir das nicht anzutun. Meine Mutter aber hielt mich fest und lachte nur. Sie stieß dabei immer schneller werdende, rhythmische Laute aus, als würde sie keine Luft mehr bekommen und an ihrem eigenen Lachen ersticken.

Als mein Bruder es wagte, mir einen rosafarbenen Rock anzuziehen, trat ich immer wieder nach ihm. In diesem unfairen Kampf pulsierte das Blut in meinen feinen Äderchen, und mein Gesicht verfärbte sich glühend rot. Als ich ihn schmerzhaft in seine kläglichen Eier stieß, schrie er auf und ließ von mir ab. Sein Lachen erstickte. Aber meine Mutter war unerbittlich.

„Tanz für uns! Los, dreh dich und lass deinen Rock schwingen“, wieherte sie und nahm einen gierigen Schluck Wodka aus einer alten Saftflasche. Jeder konnte sehen, dass sie eine Säuferin war, trotzdem glaubte sie, ihre Umwelt mit diesem erbärmlichen Trick täuschen zu können.

Mein Bruder hatte sich schnell gefangen, nahm die Gitarre und sang das Kinderlied aus Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel.“

Warum meine Mutter diese Oper immer und immer wieder hörte, weiß ich nicht. Sie war keine Freundin der Musikkultur oder ein kontemplativer Feingeist. Vielleicht ergötzte sie sich einfach nur daran, wie unbarmherzig dieses Geschwisterpaar von seinen Eltern getäuscht und ausgesetzt wurde.

Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich’ ich dir, einmal hin ...

„Wenn du jetzt nicht tanzt, dann wird dich Gottes Strafe treffen. Ich verkaufe dich! An einen Kinderpornoring oder an den, der am meisten Geld bezahlt!“

Natürlich wusste ich damals nicht, was ein Kinderpornoring war oder dass man Kinder verkaufen konnte, aber ich wusste, dass ich nicht noch mehr von Gott bestraft werden wollte. Meine Kindheit war bereits Leid genug.

Meine bösartige Mutter zwang mich zu hoffen, dass sie mich eines Tages doch lieben könnte, wenn ich mich nur mehr anstrengte! Sie brachte mich dazu zu glauben, es verdient zu haben, im Schatten meines Bruders zu stehen. Sie aber hätte mich lieben müssen. Stattdessen liebte ich den Menschen, der mich demütigte und misshandelte.

Beide Arme nach oben gereckt, führte ich die Fingerspitzen über meinen Kopf wie zu einem Gebet zusammen, drehte mich zu der Musik wie eine Ballerina und tanzte, tanzte, tanzte. Während ich zu Gott betete, nahm meine Zunge den salzigen Geschmack einer herablaufenden Träne auf.

Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich’ ich dir, einmal hin ...

Meine Mutter hatte viele quälende Ideen, mich für meine Existenz zu bestrafen. Wahrscheinlich wäre es für uns alle besser gewesen, sie hätte mich verkauft. Ich aber überlebte diese dunkle Zeit und gelangte zu der Erkenntnis, dass Gott alle Sünden vergeben wird. Aber diese allmächtige Gnade hatte ihren Preis. Für meine göttliche Vergebung lernte ich Opfer zu bringen, aber auch Opfer zu suchen, um jegliche Schuld zu sühnen.

I. Kalenderwoche 49/50 2015

Kapitel 1

Mone

An einem winterlich kalten Hamburger Nikolausabend näherte sich ein Mann mit einer Schirmmütze einer blassgrauen, viergeschossigen Jugendstilvilla, drehte behutsam einen zylinderförmigen Schalldämpfer auf die Mündung seiner schwarzen Pistole und verbarg die Waffe unter seiner Jacke. Er schnippte den Stummel seiner Zigarette auf die unberührte, hauchdünne Schneedecke und richtete seinen Blick auf das Etablissement.

Alle vierzehn Fenster des Hauses waren von außen mit aus grünen Tannenzweigen gesteckten Kränzen, die mit schwungvoll gebundenen, roten Schleifen verziert waren, festlich geschmückt.

Durch die an der Eingangstür angebrachten Leuchtkegel erstrahlte die weihnachtliche Fensterfassade in warmem Licht und erinnerte an die Türchen eines noch unberührten Adventskalenders.

Lediglich das dezente kleine Metallschild mit der Aufschrift Flow Nightclub wies darauf hin, dass in diesem gehobenen Lokal nichts unberührt blieb und keine christlichen Wünsche erfüllt wurden.

Nur ein Mann und eine Frau saßen im schummrigen Licht an der aus Mahagoni gebauten, sechs Meter langen Bar. Direkt bei der Frau lag auf dem Tresen neben ihrem Smartphone und einer Schachtel Zigaretten ein elegantes Damenfeuerzeug, auf dem versteckt auf einer Seite Mone eingraviert war. Im Hintergrund spielte leise Musik. Simone trug einen noblen, schmal geschnittenen, dunkelblauen Hosenanzug, der zu einem verstohlenen Blick in das aufreizende Dekolleté und auf die rote Spitze ihres Bustiers verführte. Sie war blond, annähernd fünfunddreißig Jahre alt, hübsch und hatte himmelblaue Augen. Ihr knallroter Lippenstift setzte einen Akzent in dem sonst dezent geschminkten Gesicht. Interesse vorgebend, fuhr sie sich immer wieder mit ihren rot lackierten, langen Kunstnägeln durchs Haar, während der Mann auf sie einredete und hierbei gelegentlich seinen Oberkörper nach oben streckte.

An der Bar arbeitete Simones langjährige Lebensgefährtin Lotta Kardinal, die gerade den Kühlschrank mit Champagner auffüllte und mit einem Hüftstoß die Tür schwungvoll zuknallte. In einer Stunde würde der Club öffnen, und sie hatte noch einiges vorzubereiten.

„Ich geh nach oben und mache die restlichen Zimmer fertig. Soll ich euch noch eine Flasche Champagner aufmachen? Bin nämlich dann erst mal für eine Weile weg“, fragte Lotta.

„Wir können noch etwas vertragen oder was meinst du?“ Während Simone sprach, drehte sie sich zu ihrem Freier und strahlte ihn an. Sie war geschäftstüchtig, denn für jede georderte Flasche erhielt sie eine beachtliche Provision.

Er nickte, und Lotta stellte eine hochpreisige Flasche Champagner in einem Eiskühler auf den Tresen. Dann verließ sie die Bar.

Simone betrachtete ihren Kunden während seiner zeit­intensiven Erzählung und beobachtete, wie sich in seinem Mundwinkel klumpige Spuckereste bildeten, die sich zu weißen, hüpfenden Ziehfäden entwickelten und ungefähr so aussahen wie die zuletzt gebildete Fischfigur eines Handfadenspiels, mit dem sich Schulkinder in vergangener Zeit während der Pausen gerne die Zeit vertrieben hatten.

Sie hatte sich an ihren Stammkunden gewöhnt, der es vorzog, den Club außerhalb der Geschäftszeiten zu besuchen. Er war schon älter, trug schlecht sitzende Kleidung und saß unbeholfen auf dem für ihn viel zu hohen Barhocker. Das wenige Haar war kunstvoll über seinen Kopf drapiert, ergebnislos bemüht, über seine für jedermann sichtbare Glatze hinwegzutäuschen. Die fettige gelblich-weiße Strähne, die er über die gesamte Glatze gekämmt hatte, klemmte er hinter den Bügel seiner abgeplatzten Hornbrille.

Professionell ignorierte Simone das unansehnliche Äußere und nahm seine erschlaffte, auf seinem Bein ruhende Hand. Während sie ihn vom Barhocker zog, rutschte sein Handy aus der hinteren Hosentasche und fiel, von beiden unbemerkt, geräuschlos auf den Teppich. Mit ihrer zartgliedrigen Hand griff sie elegant nach ihren Rauchutensilien und ihrem Handy und führte ihren Kunden in eines der im Souterrain gelegenen Zimmer des Etablissements.

Der Mann mit der Schirmmütze hatte die Bar über die bereits geöffnete Hintertür betreten. Sein muskulöser Oberkörper steckte in einer zu kleinen grünen Bomberjacke, was seiner stattlichen Erscheinung etwas Lächerliches gab. Die zu eng stehenden, seegrünen Augen und das kurz rasierte braune Haar fügten sich stimmig in die Gesamt­erscheinung.

Im Souterrain waren alle Wände des Zimmers in einem dunkelroten Farbton getüncht, und der an der Wand hängende in Gold gerahmte Spiegel hatte schon üppige Fantasien sichtbar gemacht. Auf dem mit weißer Bettwäsche ausgestatteten Doppelbett hatte Lotta dekorativ zwei Badehandtücher mit Duschproben hingelegt.

Mit einem Handtuch in der Hand betrat Simone das angrenzende Badezimmer, während ihr Kunde sich vollständig auszog und seine Bekleidung sorgfältig über einen Stuhl neben dem Bett hängte. Die gekühlte Champagnerflasche auf dem Eckrand des Whirlpools unweit des Bettes war bereits geöffnet, und zwei gefüllte Gläser luden zu einem weiteren Drink ein. Wohlig ächzend glitt er in den mit dampfendem Wasser gefüllten Pool. Er führte das Glas an seine Lippen und ließ einen kühlen Schluck die Kehle hinuntergleiten. Entspannt schloss er die Augen.

Der Mann mit der Schirmmütze öffnete langsam und unbemerkt die Tür des süßlich duftenden Zimmers. Er schien sich auszukennen, trat geräuschlos an den im Whirlpool dösenden Kunden heran, hob routiniert den Arm, zielte auf die Schläfen des seitlich zu ihm sitzenden nackten Mannes und betätigte den Abzug. Durch die Wucht des kaum hörbaren Schusses schlug der Kopf zur Seite und zog den gesamten Oberkörper mit, der sanft und fast geräuschlos ins Wasser sank. Das Projektil traf zentral ins Stammhirn, und der Freier war sofort tot. Ohne Zeit zu verlieren, breitete der Mann auf dem roten Teppichboden eine große, blaue Plastikfolie aus, zog den toten Kunden mühelos aus dem fast randvollen Wasserbecken und bettete ihn auf die vorbereitete Unterlage.

Als Simone den Raum betrat, hatte sie das weiße Badehandtuch um den noch feuchten Körper gewickelt und unterbrach – ohne die maßgebliche Veränderung im Zimmer anfangs bemerkt zu haben – die Stille. „Schatz, jetzt werden wir es uns richtig schön machen. Was darf ich denn heute für dein Wohlbefinden ...?“

Zuerst fiel ihr Blick auf die Champagnerflasche, die im zartrosa gefärbten Wasser schwamm, und dann sah sie den Toten auf dem Boden liegen. Sofort brach sie ihr geschäftsmäßiges Geplauder ab und starrte Schirmmütze an, der damit beschäftigt war, ihren toten Kunden einzuwickeln.

„Wat haste jetan? Icke hab’ euch doch allet erzählt!“

Mit greller Stimme fiel sie in ihren Berliner Dialekt, was immer geschah, wenn sie aufgeregt war.

Sie unterbrach sich und starrte erneut in den Whirlpool.

„Wieso knallst’e denn meenen Stammkunden ab? Der hat mir doch aus der Hand jefressen und allet erzählt, wat ihr hören wolltet ... Mir brummt noch der Schädel von seinem Jesabbel heute über den Riesenskandal.“

Sie legte ihre Hand dramatisch an die Stirn, als habe sie stechende Kopfschmerzen.

Unbeirrt wickelte der Mann die Leiche ein und sammelte die Hülse am Fuß des Beckenrandes auf, als wäre Simone gar nicht anwesend. Mit einem konspirativen Kopfnicken deutete sie in Richtung Pool und flüsterte: „Der quatschte was von einer Konzerthalle, einem richtigen dicken Jeschäft, und nun ballerst du den ab, wie räudig. Oh Mann, mir is’ echt übel ...“

Sie ließ sich aufs Bett fallen und fingerte eine Zigarette aus der Schachtel. Mit zittrigen Händen zog sie den Rauch tief in ihre Lunge, als wäre es ihre letzte Zigarette, und atmete den Qualm langsam aus.

Und dann beging sie einen gravierenden Fehler.

„Und wat von ’nem wichtigen Unternehmer von hier, Melzer oder so, den er fett inne Hand hat wejen Schmierjeld, wat weeß icke. Alter, der hat so viel erzählt, von

Politikern, Bürgermeister, det kreest allet in meenem Kopp.“

Als der Mann mit der schwarzen Schirmmütze den Namen Melzer hörte, hielt er inne. Er hob den Kopf, kniff kaum sichtbar die Augen zusammen und schien zu überlegen.

Simone stand auf und ging zum Pool. Sie zog an der Zigarette und starrte auf die eingewickelte Leiche.

„Wie willste den Kollejen eijentlich hier raus­schaffen?“

Die Schirmmütze antwortete nicht und schoss der überraschten Simone direkt zwischen die Augen.

Seine grüne Bomberjacke hatte er für die Aufräumarbeiten ausgezogen und auf das unberührte Bett geworfen. Er steckte die zweite Patronenhülse in seine Hosentasche, sammelte sämtliche restliche Kleidungsstücke auf und warf diese auf Simones leblosen Körper.

Endlich war die Scheißnutte still. Ihre schrille Stimme hatte er eh nie leiden können. Verdammt, er hatte doch so aufgepasst, aber ihr Blut, das an die rote Wand gespritzt war, musste er noch entfernen. Das Badewasser hatte er bereits abgelassen und den Pool im Anschluss gereinigt. Nach getaner Arbeit war auch das Blut an der Wand nicht mehr zu sehen. Er war zufrieden.

Die in Plastik fest verschnürten Leichen trug er einzeln über einige wenige Treppen nach oben und verließ das Etablissement unauffällig über einen versteckten Hintereingang, der prominenter Kundschaft vorbehalten war. Er lud die beiden Körper gekonnt in den Laderaum seines Kastenwagens und fuhr über die unbefahrene Seitenstraße in die kalte Nacht.

Die Lichtkegel der Straßenlaternen verschwammen während der Autofahrt vor seinen Augen, und er bemerkte, dass eine seiner Kontaktlinsen fehlte.

Kapitel 2

Aller guten Dinge sind drei

In München schien an demselben Nikolaussonntag die späte Nachmittagssonne auf die Kupferkuppel der Gökhan-Moschee und ließ die hellgrüne Patina in einem besonderen Glanz erstrahlen.

„Wie weit bist du?“, dröhnte es in Nora Kardinals Ohr, an das ihr Smartphone unter einem Tschador geklemmt war. Reflexartig hielt sie sich die Hand an ihre Ohrmuschel und friemelte mit dem Daumen ihr Handy zum Mund.

„Ich bin jetzt bei der Moschee und treffe mich gleich mit dem Imam. Ich glaube, wir sind nah dran“, wisperte Kriminaloberkommissarin Kardinal ihrem Einsatzleiter zu. Inzwischen war sie fünfunddreißig Jahre alt und sollte heute die Früchte der Saat ernten, die sie in den letzten sechs Jahren Ermittlungsarbeit in die Erde der Münchener Salafistenszene gesetzt hatte. Optisch fügte sie sich perfekt ein in diese fast undurchdringbare Parallelwelt von Anhängern, die unter dem Schutzschirm der Religionsfreiheit gefährliche und überstanden geglaubte patriarchalische Lebensweisen der vorangegangenen Jahrhunderte zu etablieren versuchten.

Ihr eigenes nordafrikanisches Aussehen half ihr bei ihrer verdeckten Tätigkeit. Die neuen Glaubensbrüder und -schwestern nannten sie Yasemine, und in Noras langen, dunklen Gewändern, ihrer Arbeitskleidung quasi, verschwand ihre sportliche Gestalt trotz ihrer 1,76 Meter Größe und ließ sie kleiner erscheinen. Hinter ihrer runden Hornbrille blitzten tiefbraune, kluge Augen, die von dichten schwarzen Wimpern eingerahmt waren. Unter ihrem Hidschab oder wahlweise dem Tschador verbarg sie dunkelbraunes, gewelltes, schulterlanges Haar, welches sie meistens zum Zopf zusammengebunden hatte.

Nora hatte sechs Jahre darauf hingearbeitet, in diese Szene einzudringen und aufzusteigen, um über die wichtigen Schaltzentralen geplante Attentate aufzuspüren. Ihre tunesischstämmige Mutter hatte mit ihr als Kind nur Arabisch gesprochen, was ihr ermöglichte, einen Fuß in das Tor der islamistischen Welt zu setzen und das Vertrauen eines entscheidenden Wissensträgers zu gewinnen.

Vor wenigen Minuten hatte sie das Treffen mit ihm in der Gökhan-Moschee beendet, die, eingefriedet von einer niedrigen grauen Betonmauer, hinter der wild und ungeordnet immergrüne Sträucher wuchsen, welche einen idealen Sichtschutz boten, als beliebter Treffpunkt für den islamistischen Austausch genutzt wurde. Die Betonmauer mit dem überdimensionierten Strauchbewuchs wirkte wie eine Aneinanderreihung von lang gestreckten Blumenkästen, die für die hochgewachsenen Pflanzen viel zu klein geraten waren.

Nora verließ das Moscheegelände, nahm ihr Handy in die Hand und tippte Sieberts Nummer auswendig auf das Display, während der Imam erschien, mit dem sie sich vor wenigen Minuten getroffen hatte.

Sie sprach beiläufig in ihr Handy: „Kontaktperson verlässt die Moschee und wird sich jetzt auf dem Weihnachtsmarkt mit einem Ahmed treffen!“

„Jetzt?“

„Ja, jetzt sofort.“

„Scheiße, die Observationstruppe steht noch nicht!“

Stille. Angestrengt überlegte Siebert, was zu tun war.

„Nora, zieh dich trotzdem zurück, mit Glück kriegen wir es hin!“

„Nein, das mach ich nicht. Zu riskant, so lange zu warten. Wir verpassen ihn sonst. Ich folge ihm bis zum Weihnachtsmarkt und übergebe dort an euch.“

Noras Stimme zitterte, ohne dass sie ahnte, aus welchem Grund sie ihr wegzubrechen drohte. Selbst wenn ihr in diesem Moment jemand zugeflüstert hätte, dass in wenigen Minuten ein nie da gewesener, zu einer tödlichen Wende in ihrem Leben führender Kontrollverlust über sie hereinbrechen würde, hätte sie ihren Einsatz zu Ende gebracht. Für Nora war es nie eine Frage, für welchen Weg sie sich bei einer Gabelung entscheiden würde. Es war immer der regelkonforme Pfad, den sie ihr gesamtes Leben beschritten hatte und bis zum Ende gegangen war und der ihr die tiefe Gewissheit verschaffte, das Richtige zu tun. Dass sie einmal über geplante gemeingefährliche Gesetzesbrüche unendliche Dankbarkeit empfinden könnte, war in der gesetzestreuen Welt, in der sie lebte, unvorstellbar.

„Nora, auf keinen Fall wirst du ihn verfolgen! Gib die Beschreibung durch. Vielleicht können wir ihn mit einer kleineren Einheit finden und aufnehmen!“, befahl ihr die Stimme am anderen Ende.

Als ihr jetziger Einsatzleiter und VE*-Führer(*VE = Verdeckter Ermittler) Max Siebert ihr vor sechs Jahren die Verwendung als verdeckte Ermittlerin näherzubringen versucht hatte, war sie zunächst skeptisch gewesen, denn sie war mit ihrem Job in Hamburg zufrieden – wie man so sagt. Die überraschende Offenbarung ihres damaligen Freundes jedoch, unter keinen Umständen in Beziehungslangeweile erstarren zu wollen und sie nicht mehr zu lieben, bildete eine Zäsur in ihrem Leben und gab den entscheidenden Impuls, nach München zu ziehen, um als neugeborener Single das Leben einer anderen zu leben. Ihr Freund hatte noch beiläufig mitgeteilt, schon länger eine neue Partnerin zu haben und lange nicht mehr so glücklich gewesen zu sein. Dabei hatte er seinen Kopf geneigt und sie mitfühlend angeschaut. Das war es. Vorbei. Nora hatte es damals noch verwirrt, dass er geweint hatte, was ihr naheging und Hoffnung in ihr aufkeimen ließ. Erst später verstand sie, dass er nur um seiner selbst willen getrauert hatte. Als ihr Freund sie zum Abschied gütig in den Arm nehmen wollte, wies sie ihn zurück. Ein Wiedersehen gab es nicht mehr. Nora sprang kopfüber in ein polizeilich überwachtes Abenteuer.

In München hatte sie sich schnell eingelebt und erkannte in der Veränderung auch den Vorteil, ihre in der Nähe von München lebende Mutter und ihren urbayrischen Vater häufiger sehen zu können, die ihr bei einem der ersten Besuche Isa geschenkt hatten, ein entzückendes schwarzes Hundewelpenknäuel.

Entgegen aller Regeln verfolgte Nora den Imam. Auf keinen Fall wollte sie es darauf ankommen lassen, ob Siebert seine Leute zusammenbekam. Keiner hatte diesen Ahmed bisher zu Gesicht bekommen. Das Risiko einzugehen, dass er außer Kontrolle geriet, war keine Option. Sie musste handeln. In einem geschützten, unbeobachteten Bereich entledigte sich Nora eilig ihres Tschadors und stopfte den Ganzkörperschleier in ihren handlichen Rucksack, während sie die Kontaktperson zu Fuß verfolgte. Ihr Handy hielt sie dabei in der Hand und hörte, wie Siebert von ferne fluchte.

Bevor sie den an diesem Abend mit all seinen Bretterbuden im warmen Licht erstrahlenden Christkindlmarkt sehen konnte, stieg ihr bereits der Duft nach gebrannten Mandeln, Glühwein und Zimt in die Nase. Trotz der frostigen Winterzeit wurde Nora während der Verfolgung heiß.

Dichte Menschenmassen in Weihnachtsstimmung bevölkerten den Markt und wärmten ihre Hände an den heißen Punschbechern, während in dem Fahrgeschäft an der Ecke der besonders beliebte Feuerwehrwagen, das Polizeiauto und die in Rosa lackierte Feenkutsche mit ihren kleinen Fahrgästen im Kreis getrieben wurden. Nora stieß während ihrer Verfolgung gegen unbekannte Schultern und schob sich durch die sich amüsierende Menschenmenge, während die wohlbekannten Angstwellen durch ihren Bauch tobten und die Panikattacke übermächtig wurde. Sie hyperventilierte, und die Musik um sie herum wurde dumpf.

Immer mehr fürchtete sie sich vor Menschenansammlungen. Immer häufiger musste sie bei diesen Beklemmungen ihre Zahlen und Verse aufsagen. Immer verzweifelter versuchte sie, diese sinnlosen Gedanken und die tiefe Furcht mit ausgedachten Versen zu vertreiben und zu neutralisieren. Gerade jagte wieder so ein Scheißgedanke durch ihren Kopf. Sie stellte sich vor, wie ihre Labradorhündin Isa auf ihrer Hundedecke selig schlief. Oh Gott, was, wenn ein Einbrecher kommt? Was ist mit Isa? Was wird er tun? Sie wird bellen. Er hat eine Waffe! Was wäre wenn ...

Die Zwangsgedanken entwickelten sich übermächtig zu einem Hemmnis und verlangsamten Noras Schritt. Der Abstand zwischen ihr und der Zielperson wurde größer, aber noch konnte sie sie sehen.

„Nora, wo bist du? Gib deine Standortdaten durch. Ich habe eine einsatzbereite kleine Einheit um den Christ­kindlmarkt aufstellen können. Wir übernehmen jetzt.“

Schweigen am anderen Ende des Handys.

„Ey, antworte doch ...! Verdammt, du gefährdest den Einsatz!“

Nora war in ihrer dunklen Welt angekommen und begann, die sie beruhigenden Verse leise vor sich hin zu murmeln:

„Aller guten Dinge sind drei,

sagten drei kleine Dreikäsehoch

und kauften drei Brote,

Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot,

bevor sie sich dreimal bekreuzigten.“

Sie bekreuzigte sich dreimal.

Jetzt muss ich nur noch dreimal bis dreißig zählen, und dann wird alles gut, dachte sie. Alles wird gut. Alles wird gut. Aber sie wurde durch die Stimme aus ihrem Handy unterbrochen.

„Nora, du kommst sofort zu mir. Ich breche den Einsatz ab ... Scheiße, Mann!“

In ihrem tragischen Drang, das Ritual zu Ende bringen zu müssen, drückte sie auf den roten Hörer ihres Displays und beendete den Kontakt zu Siebert.

Sie begann von Neuem und konnte endlich ungestört ihren zwanghaften Vers zu Ende bringen. Das war jetzt alles, was zählte. Nora wiederholte den Reim wie ein Mantra und zählte im Anschluss dreimal bis dreißig und spürte, wie ihre Anspannung von ihr abließ und sie etwas ruhiger wurde. Sie fühlte sich besser, und die Angst wich von ihr. Die Zielperson hatte sie allerdings verloren. Sofort schoss erneut Adrenalin durch ihren Körper, und Verzweiflung ergriff Besitz von ihr. Sie hatte einen sehr wichtigen Einsatz, für den sie sechs Jahre operativ gearbeitet hatte, in nur wenigen Minuten vollständig zerstört. Erst hatte sie sich Sieberts Anweisung widersetzt, und nun hatte sie den Imam und damit auch Ahmed verloren. Ein riesenhafter Scheißärger rollte auf sie zu, das wusste sie.

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schickte sie sich an, den Christkindlmarkt zu verlassen, da stellte sich ihr unerwartet jemand in den Weg. Bedrohlich baute sich der Imam auf und feindete sie an.

„Wieso verfolgst du mich?“, fragte er sie auf Arabisch.

Seine Stimme klang spitz und beängstigend, und er schaute sie von oben bis unten an. Es entging ihm nicht, dass sie ihren Tschador nicht mehr trug.

„Das tue ich nicht. Ich ... ich bin hier verabredet mit einer Freundin.“ Mit fester Stimme versuchte sie, zu überzeugen. Dabei führte sie ihre Hand, in der sie immer noch ihr Handy hielt, heimlich hinter ihren Rücken, um es in der Hosentasche verbergen zu können, aber es war zu spät.

„Und wofür benötigst du das Handy?“, fragte er wütend, packte ihren Arm, riss ihn nach vorne und entwand ihr das Gerät.

Ihr wurde heiß, sie spürte, wie etwas Warmes von ihrem Magen in ihre Kehle hochschoss und ihr Herz so stark im Hals zu schlagen begann, dass sie das Gefühl hatte, an ihrem eigenen Herzen zu ersticken. Sie sprach kein Wort.

Bevor der Imam sie packen konnte, drehte sie sich jedoch blitzartig um und rannte durch die Seitenstraßen, weg von der Musik und den Lichtern, bis ihre Lunge zu platzen schien.

Sie konnte ihren Verfolger abhängen, aber er hatte ihr Handy. Die nächste Katastrophe. Sie war am Boden zerstört. Nora wischte sich erst eine Haarsträhne und dann eine Träne aus dem Gesicht.

Mutlos war sie und ohne Idee, wie sie Siebert diesen Misserfolg erklären könnte, aber sie hatte eine schreckliche Ahnung, was auf sie zukommen würde.

Nora hetzte mit ihrem Mountainbike, welches sie am Präsidium abgestellt hatte, nach Hause und betrat ihre Dachgeschosswohnung. Vom Klappern der Schlüssel geweckt, hob Isa kurz den Kopf und klopfte vor Freude mit dem Schwanz gegen ihre Hundedecke. Als Erstes legte Nora den Wohnungsschlüssel so auf den Flurtisch, dass das Bild des Anhängers nach oben zeigte und über dem Schlüssel zum Liegen kam. Dann kontrollierte sie, ob ihre aufgehängten Jacken im richtigen Abstand an der Garderobe hingen. Erst danach wandte sie sich ihrer Labradorhündin zu, die ungeduldig während Noras Ordnungsphase schwanzwedelnd um ihre Beine herumstrich und ihr mehrfach mit der noch vom Schlaf warmen Schnauze gegen das Bein stupste.

„Warte, Isa, noch einen Moment.“

Nora kramte ihr privates Handy aus der untersten Schublade ihres Schreibtisches hervor und schrieb per WhatsApp an Siebert:

Scheiße, Imam hat mein Handy. Ahmed verloren. Morgen um 10, wie immer.

Sieberts vielfache Versuche, Nora auch auf ihrem privaten Handy zu erreichen, blieben erfolglos. Sie hatte es ausgestellt.

Nora beugte sich zu Isa herab, und die Hundedame ließ sich zufrieden auf dem Rücken liegend kraulen. In diesem Moment war Nora erleichtert und vergaß für einen kurzen Augenblick die eben erlebte Katastrophe. Sie fuhr immer wieder mit der Hand durch Isas glänzendes Fell und genoss die beruhigende Wirkung. Nora legte sich zu ihr, vergrub ihren Kopf in ihr Fell und genoss den Hundegeruch, der Isa umgab, wenn sie geschlafen hatte. Am scheensten is’, wenns schee is’, dachte sie.

***

Der Duft von frisch gebackenen Franzbrötchen stieg Nora am nächsten Morgen in die Nase, als sie die Lieblingsfrühstückskneipe von Max Siebert betrat. Das einzige Lokal in München, welches selbst gebackene Franzbrötchen anbot. Siebert saß auf einem knallroten Sessel und wartete auf sie. Als er Nora entdeckt hatte, winkte er ihr zu.

Sie grüßte zurück und passierte einen an der Wand hängenden Spiegel. Ganz nah trat sie heran, kontrollierte ihr in Mantel, Mütze und dicken Schal eingehülltes Äußeres und strich dreimal über ihre im scharfen Bogen geschwungenen dichten Augenbrauen. Sie setzte sich an Sieberts Tisch und bestellte sich einen Cappuccino.

Sieberts Miene war so finster, dass sie kein Wort herausbrachte.

Max Siebert hatte rötliche Haare, eine sportliche Figur und bei anderen Anlässen freundliche Augen. Überdies trug er einen Dreitagebart, den Nora sexy fand. Heute trug er allerdings einen grauen Anzug, was sie irritierte. Auch fand sie ihn in dieser Sekunde ganz und gar nicht sexy. Er unterbrach das Schweigen.

„Nora, ich musste noch nie einen Einsatz abbrechen, weil mein Ermittler verrücktspielt. Hast du denn gar nichts gelernt? Und wieso hast du den Kontakt abgebrochen?“

Natürlich kannte Nora den Grund. Aber konnte sie ihn verraten? Würde es nicht heißen, du musst etwas unternehmen, und sie wäre am Ende des Tages womöglich dienstunfähig? Das wollte sie auf keinen Fall und verbarg daher ihre Erkrankung und den daraus resultierenden Misserfolg erneut mit einer Lüge. Einen Fehler durch eine Lüge zu verbergen, heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen, hatte einmal ein einflussreicher griechischer Philosoph gesagt. Der Spruch stand in Noras WhatsApp-­Status. Aber die Wahrheit wollte Nora nicht sagen, und sie nahm in Kauf, dass alles noch schlimmer kommen könnte.

„Ich kann es dir nicht erklären, Max, vielleicht kein Netz?“ Sie zuckte mit den Schultern.

Ungläubig sah er sie an.

„Wie konnte der Imam dein Handy kriegen? Mann, was für ’ne Aktion. Echt, Nora!“

Siebert war misstrauisch und strich sich während der Befragung durch seinen rötlichen Bart.

Nora schilderte ihm kleinlaut, dass der Imam sie während der Verfolgung entdeckt und direkt angesprochen hatte.

„Ich bin verbrannt!“, stellte sie fest.

Er sah sie fassungslos an und konnte seine Wut kaum zügeln. Nora zuckte zusammen, als er mit der Hand auf den Tisch schlug.

„Du bist raus. Ich zieh dich ab!“

Sie starrte auf ihren unberührten Cappuccino und trank einen Schluck. Er war kalt.

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