Czytaj książkę: «Das kalte Licht»
© ebook-Ausgabe Die Hanse/CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2017
Umschlagbild und Innenillustrationen: Ludger Bollen
Umschlaggestaltung: Susanne Schmidt, Leipzig
Satz: Susanne Schmidt, Leipzig
Vorderes Vorsatzblatt: Karte von Johannes Mejer, aus der Holsteinischen
Landesbeschreibung von Dankwerth 1651/1652; hinteres Vorsatzblatt:
Ausschnitt aus einer Karte von Petrus Grooten (1690), photolithographisches
Replikat vom Verlag Strumper & Co., 1880; Quelle: http://www.christianterstegge.de/hamburg/karten_hamburg/
Einzelheiten zur Person Hennig Brands und seiner großen Entdeckung wurden entnommen dem Buch „Phosphor – Ein Element auf Leben und Tod“ von John Emsley, (Wiley-VCH, 2001)
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
ISBN 978-3-86393-543-6
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Das Schneetreiben hatte nachgelassen, und bald stapften Ulrich und Meinhardtam Fleet entlang durch den Neuschnee, der alles gut einen Fuß hoch bedeckte.
Luger Bollen studierte Grafik-Design an der Kunsthochschule in Bremen und ist seit vielen Jahren Mitarbeiter des SPIEGEL.
Buchveröffentlichungen: „Der Flug des Archaeopteryx – Auf der Suche nach dem Ursprung der Vögel“, (Quelle & Meyer, 2007)
Für Übersetzungen ins Lateinische, Korrekturen und kundige Anmerkungen zum Manuskript hat der Autor Dr. Johannes Saltzwedel zu danken.
1. Kapitel
In welchem ein Bote das Haus des KaufmannsJohann Albert Hesenius betritt und dessen SohnUlrich ein gar seltsames Schreiben überreicht.
„Haltet sie, haltet sie auf!“
Schon halb außer Atem hastete die füllige Frau an den dick vermummten Gestalten vorbei, die sich zur Mittagsstunde durch die dunkle Schlucht der Springeltwiete schoben: Ein träger, vielgestaltiger Strom von Menschen, der sich zäh in beiderlei Richtung bewegte. Groß und Klein waren eingereiht in diesen Strom, brave Handwerker ebenso wie gut gekleidete Bürger, Amtsträger oder arme Tagelöhner. Frauen führten kleine Kinder an der Hand oder trugen, eingehüllt unter Lagen von Stoff, ihr Jüngstes auf dem Arm. Vierländer Bäuerinnen schleppten auf dem Rücken schwere Körbe, kleinere, meist voll bepackte Wagen rollten knirschend und rumpelnd inmitten des Stroms, und die vorgespannten Zugpferde trotteten so geduldig wie ihre Herren, die mitmarschierten und sie am kurzen Zügel führten. Solcherart bewegte sich der eine Strom zur breiteren Steinstraße hinauf und weiter zu den Märkten der Stadt, während ihm gegenüber eine deutlich schwächere Kolonne den umgekehrten Weg nahm, zum Fleet hinunter und in Richtung des Deichtores strebte. In einigen Stunden würde die Kraft des ersten Stroms nachlassen, der zweite aber dafür anschwellen, weil für zahlreiche Bewohner des Umlands ihr Weg sie meist lange vor Schließung der Tore wieder aus der großen Stadt herausführte. Manchmal kam die Bewegung zum Erliegen, und meist geschah dies, wenn zwei Wagen sich an einer gar zu engen Stelle begegneten und eines der Gespanne ein Stück zurücksetzen musste.
Für drei Knaben, jeder von ihnen alt genug, allein draußen zu sein, waren dies die besten Momente für ihr Spiel. Aller Vorsicht trotzend, welche die Erwachsenen an den Tag legten, stürmten sie das rutschige Pflaster auf und ab und schlitterten dabei über eine lang gestreckte und von Eis bedeckte Senke, welche die Straße ihnen bot – ein Treiben, dem sie sich mit einer Begeisterung hingaben, wie sie nur die Jugend kennt. Umso lauter erschallten ihre gegenseitigen Anfeuerungen, je kühner sie vor den Augen der Großen miteinander wetteiferten, wer den wagemutigsten Rutsch vollbrachte.
Marthe Reimers aber, die gerade selbst so laut gerufen hatte, fehlte jeglicher Sinn für ihre übermütigen Darbietungen, ja, sie schien überhaupt niemandem um sich herum Beachtung zu schenken, als sie inmitten einer ganzen Traube von Menschen zur gegenüberliegenden Straßenseite strebte, und ihr Blick war irgendwie auf einen mit allerlei Abfällen beladenen Handkarren gerichtet, welcher zwischen einer Schusterwerkstatt und der danebenliegenden Kellerstiege recht nachlässig abgestellt war. Eben dorthin schien auch Marthes rechter Arm zu deuten, den sie in unregelmäßigem Rhythmus hob und wieder von sich streckte, was ihren Lauf durchaus hemmte, da die Hand dabei einen Zipfel ihres langen Rocks fallen ließ und sie den schweren Stoff allein mit der Linken raffen musste.
Da sie nurmehr kaum zwei, drei Schritte vom Karren entfernt angelangt war, geschah es endlich, dass einer der Knaben einmal mehr aufrecht über die vereiste Furche rutschte. Den Blick richtete er dabei, Beifall heischend, nicht etwa nach vorn, sondern nach hinten auf seine Freunde. So aber versetzte er, rücklings gleitend, Marthe einen Stoß gegen ihre Hüfte, der, wenn auch nicht schwer, so doch gänzlich unerwartet erfolgte, und diese verlor nun prompt das Gleichgewicht. Mit einem halb seufzenden, halb klagenden Laut stolperte sie noch einen halben Schritt nach vorne – und fiel.
Sie hatte indes Glück im Unglück. Ihre Halt suchenden Hände umklammerten unwillkürlich die oberen Speichen des großen Holzrades, dem sie entgegen torkelte, und während das Rad, das sie so gepackt hielt, unter ihrem Gewicht eine halbe Drehung beschrieb, senkte sich ihr an die Speichen angehängter, massiger Körper geradezu sanft auf das schneebedeckte Steinpflaster hinab. Jedoch schwenkte zugleich auch, begleitet von einem hässlichen Knarren, der ganze Karren zur Seite, so dass die beiden langen Tragholme des Gefährts unversehens weit in die Straße hinein ragten, zwei stumpfen Lanzen gleich, die tölpelhaft geführt, den Herannahenden Einhalt boten.
Und so kam es, dass ein fülliger Herr im sauberen schwarzen Gehrock, welcher gerade noch munter auf seinen Begleiter eingeredet hatte, sich im nächsten Augenblick bäuchlings auf dieser sperrigen Schranke niederließ. Und um das Unglück endlich voll zu machen, zwang das nicht unerhebliche Gewicht seines Leibes das Gefährt nunmehr in eine Kipplage, die der Ladung nicht zuträglich war: Sie geriet mit einem Schlag ins Rutschen, und neben allerhand Schmutz und vielen aufgehäuften Blättern, fielen einige halbverdorbene Steckrüben herab auf das schneebedeckte Pflaster und streiften dabei den Herrn.
Während sich auf den Gesichtern derjenigen, die den Vorfall aus sicherer Entfernung beobachtet hatten, je nach Charakter mitfühlende Bestürzung oder tumbe Schadenfreude zeigte, während Marthe sich stöhnend aufrichtete und der unglückliche Herr in Schwarz sich vom Karren wälzte, wobei er eine Reihe derber und wenig standesgemäßer Flüche ausstieß, kollerten nicht wenige der rundlichen Rübenköpfe, dem leichten Gefälle folgend, nur immer weiter die Straße hinab. Es schien fast, als wollten sie jene drei Knaben einholen, die, wie auf Kommando, von ihrem Spiel abgelassen hatten und nun in eiliger Flucht davonstoben.
Inmitten des Aufruhrs, welchen die drei hinter sich gelassen, hatte sich aber zugleich etwas, das im ersten Moment einem dicken grauen Klumpen glich, aus der schmutzigen Lawine voller Unrat gelöst: Die zunächst Stehenden erkannten ein prächtiges, schwarzweiß gesprenkeltes Huhn, welches wohl unter der Wagenachse gekauert hatte. Von wilder Angst gepackt, flatterte es fort aus dieser scheinbar toll gewordenen Umgebung, stieg etwa drei Fuß hoch und flog mit gepressten, glucksenden Lauten einige Schritte weit.
Doch endete sein Flug so abrupt, wie er begonnen hatte, denn schon hatte ein Jüngling mit mittelblondem Haar, der 13 oder 14 Jahre zählen mochte, und gerade forsch ausschreitend die Bahn des Tieres kreuzte, beherzt zugegriffen und hielt nun zwischen seinen Händen das bebende Tier, welches im Nachklang des überstandenen Unheils einige Male den Kopf vor- und zurück streckte, um sich schließlich seiner Gefangenschaft zu ergeben.
Marthe, die eben noch ein Bild des Jammers geboten hatte, strahlte über das ganze Gesicht und beschwor den so unverhofft aufgetauchten jungen Burschen, das Tier nicht wieder entfleuchen zulassen, was durchaus überflüssig war, da er behutsam aber fest die angelegten Flügel umschlossen hielt. Aber der glücklich überstandene Zwischenfall und ihr dankbares Gefühl für den, der ihr als rettender Engel erscheinen musste, vermengten sich umgehend zu einem munteren Redeschwall: „Haltet sie gut fest, junger Mann! Schön festhalten, es ist doch meine beste, … meine wahrhaft beste Legehenne! Nein, wirklich, ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll! Ihr könnt Euch denken, die Straße ist ja so gar kein Ort für ein kleines Huhn.“
Und sie begann sogleich eine ebenso bruchstückhafte wie ungeordnete Schilderung von Ereignissen, welche in ihrer unglücklichen Verkettung die Henne nicht nur irgendwie aus ihrem heimischen Verschlag, sondern gar durch das offene Küchenfenster hinaus auf die Straße getrieben hatte. Indem sie aber allerhand Überflüssiges in die Erzählung verwob und die Geschehnisse nicht in ihrer zeitlichen Reihenfolge erzählte, sondern so, wie sie ihr gerade einfielen, hätte selbst ein aufmerksamerer Zuhörer, als es der junge Vogelfänger war, aus ihrer Rede nur mit Mühe das Wesentliche heraushören können.
Zweifellos hätte sie den Burschen, dessen unbekümmert offene, fast heitere Miene ihr zu gefallen wusste, inmitten des ganzen Trubels auch noch geherzt und umarmt, wenn er ihr nicht in leiser Abwehr das Huhn entgegengestreckt hätte, und so konnte sie nicht umhin, für einen Augenblick innezuhalten und das Tier entgegenzunehmen, um es sogleich zartfühlend an ihre Brust zu drücken.
„All diese nutzlosen Gaffer“, empörte sich Marthe, „die ohnehin nur Maulaffen feilhalten können, und dann kommt Ihr und fangt das Tier so einfach und leicht. Aber sagt, wollt Ihr mich nicht zur anderen Straßenseite begleiten und auf ein Weilchen in meine Stube einkehren? Ihr mögt doch auf die ganze Aufregung hin gewiss einen Becher feinen Kräuterbieres?“
Die Frage verschaffte dem jungen Burschen endlich Gelegenheit, das Wort zu ergreifen, und wiewohl es ihn verlegen machte, wehrte er die wohlmeinende Einladung doch mit Bestimmtheit ab: „Verzeiht mir, gute Frau, aber ich bin wirklich sehr in Eile. Doch wollt ihr mir gefällig sein, so sagt an, wo ich hier das Haus des Kaufmanns Johann Hesenius finde, da ich dort wichtige Dinge auszurichten habe“, und dabei rückte er, wie jemand, der Kostbares zu behüten hat, einen arg verrutschten Ranzen zurecht, welcher ihm mit einem breiten und etwas zu langen Ledergurt von der linken Schulter hinab und zur anderen Seite reichte.
„Da tut Ihr recht daran, mich zu fragen“, entgegnete Marthe. Sie war, obschon ihre Einladung gerade ausgeschlagen wurde, vollkommen glücklich, da sie dem Jungen doch ihrerseits hilfreich antworten konnte, und sie wies ihm den Weg, viel gestenreicher und ausführlicher, als dies nötig gewesen wäre: „Seht nur, Ihr könnt gar nicht fehlgehen. Es ist das vorletzte Haus zur Linken, aber Ihr müsst wissen, dass dort der alte Harm im Kontor nicht mehr recht verständig ist. Auch hört er etwas schwer, drum sprecht nur besonders laut, und das Gescheiteste ist, Ihr fragt nur rundweg nach dem Kaufmann selbst für euer Anliegen!“
Die letzten Worte musste sie ihm hinterherrufen, da er sich schon hastig bedankt hatte und davon eilte.
Mit einem strengen Blick hingegen brachte sie den Herrn in schwarzem Tuch, welcher in Folge von Marthes Missgeschick gleichfalls gestolpert war, zum Schweigen, gerade als dieser die letzten Rübenreste von seinem Hut gelesen hatte und endlich den Unmut über seine verschmutzte Kleidung kundtun wollte. Nicht nur dass er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, kleiner war als sie: Nun, da sie aufrecht stand und ihre Würde wiedergewonnen hatte, flößte Marthe selbst gestandenen Kaufleuten Respekt ein: eine ebenso stämmige wie selbstbewusste Frau, die eben mit geschickter Hand die Enden ihrer Schürze verknotete, darin das gesprenkelte Huhn nun wie in einer Tasche vor ihrem Bauch untergebracht war. Etwas Unverständliches brummend, gab der Mann sein Vorhaben auf, wandte sich seinem Gefährten zu, und beide setzten endlich ihren Weg fort.
Marthe war nicht für einen Aufenthalt im Freien gekleidet, aber Neugier und ein warmes Gefühl für den Jüngling, dessen Namen sie in der ganzen Aufregung vergessen hatte zu erfragen, bewog sie, weiterhin in der Kälte zu verweilen, während sie ihm hinterher blickte. Eine Spur von Entzücken war in ihr rundliches Gesicht gemalt, als sie sah, wie er sicheren Schritts die Langsameren überholte und es dabei noch geschickt verstand, einem entgegenkommenden Gespann auszuweichen.
„Es ist kein Anstand mehr unter den jungen Leuten!“, ließ sich plötzlich, während sie so dastand, eine Stimme neben ihr vernehmen, oder besser neben und unter ihr, denn Gesche, eine Nachbarin, mit magerem, runzligem Gesicht, war nicht allein von kleiner Gestalt, der obere Teil ihres Rückens war buckelig und so verwachsen, dass gar kein Hals auszumachen war und ihr Kopf wie tief zwischen den Schultern versunken ruhte. So reichte die „Krumme Gesche“, wie sie überall genannt wurde, Marthe nicht einmal bis zur Brust. Sie führte eine Handschaufel und einen Eimer Asche mit sich. Planlos verteilte sie einen weiteren Scheffel auf dem festgetretenem Altschnee, doch war es wohl eher so, dass allein Lärm und Tumult sie auf die Straße gelockt hatten. Etwas Außergewöhnliches musste ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, und begierig hoffte sie darauf, dass Marthe nunmehr ihre Neugierde stillte. So suchte Gesche jedenfalls ein Schwätzchen zu beginnen, und da sie nur eben noch den eiligen Abschied des Jungen vernommen hatte, stimmte sie nun erst recht jenes Klagelied an, das man allzu oft von ihr hörte. „Ei, was gibt so ein junger Bursche unsereins doch für ungehobelte Antworten: keine Zeit, das geben sie vor, aber ich sage dir, Marthe, nicht an Zeit, an Anstand fehlt es ihnen!“
Doch damit hatte sie den falschen Ton angeschlagen. „Sei still, Ge-sche“, wehrte Marthe ab. Mit zustimmendem Nicken begleiteten ihre Augen den Jüngling am fernen Ende der Straße, der nunmehr das von ihr angegebene Haus erspäht hatte, hinüberging, noch einmal kurz innehielt und dann schnurstracks im Eingang verschwand.
„Ein vortrefflicher Junge“, seufzte sie für sich, „mein Jüngster wäre heute wohl in seinem Alter, wenn der Herrgott ihn nicht so früh zu sich gerufen hätte. So flink ist er auf den Beinen und so geschickt mit seinen Händen. Nein, da ist nichts von Überschwang und Unrast, und dann,“ sprach sie und blickte erstmals gänzlich zur Krummen herab, „was wissen du und ich schon, in welchen Angelegenheiten er gerade jetzt unterwegs ist?“
Tatsächlich betrat nunmehr der Jüngling das Kaufmannshaus, dessen schlichte Fassade aus Backstein und hölzernem Fachwerk sich ganz und gar unauffällig in den Straßenzug fügte. Geschnitzte und ursprünglich wohl vergoldete Lettern über dem Eingangsportal nannten den Namen Johann Albert Hesenius nebst einer langen Jahreszahl in römischen Ziffern, die abzulesen er sich aber keine Mühe machte. Eine Türglocke ertönte beim Eintreten und er ließ, der Kälte wegen, die Tür sogleich wieder ins Schloss fallen.
Wenn es draußen an Helligkeit mangelte, so war das Innere des Hauses zu dieser Stunde geradezu finster zu nennen. Als sich seine Augen an das matte Licht gewöhnt hatten, das durch zwei übereinander liegende Fensterreihen herein fiel, erblickte der Knabe eine Eingangsdiele, die man stattlich hätte nennen können, doch war sie, wenigstens im hinteren Teil, vollgestellt mit Truhen, Schränken und Regalen sowie dicht an dicht stehenden Fässern, so dass dort kaum mehr als einige Fuß breit der gekalkten Wände dahinter auszumachen waren. Eine sinnverwirrende Fülle von Waren, deren Verteilung wohl nur Eingeweihten begreiflich war, gab es hier zu entdecken. Rollen von Leinwand, Wachs- und Schiefertafeln unterschiedlicher Größe, Federmesser, Tintenhörner, Griffel und Spreizzirkel erblickte er ebenso wie Schüsseln, Töpfe und Humpen aus Steingut, Holzbretter und Gefäße von Zinn. Dazu reihten sich staubbedeckte Flaschen aneinander, deren Inhalt er so wenig erriet, wie er um die Bewandtnis der kleinen abgepackten Säckchen vor ihm wusste, die eine ordnende Hand zu einer stumpfen Pyramide gestapelt hatte. Für gewöhnlich diente der Eingangsbereich eines Kaufmannshauses mehr dem Empfang der kaufwilligen Kundschaft, und wenn man sich handelseinig wurde, so wurde die Ware anschließend aus den weiträumigen Lagerräumen dahinter herbeigeschafft, aber Johann Hesenius hatte die Diele nach seinen Erfahrungen umgestaltet, da er fand, dass der Anblick einer vielfältigen Auslage die Menschen dazu brachte, mehr Dinge zu kaufen, als sie ursprünglich beabsichtigt hatten.
Mancher befreundete Kaufmann spottete mild darüber, und unter der Hand befand man, das altehrwürdige Kontor habe sich darüber in einen gewöhnlichen Kramladen verwandelt, aber solange die Abrechnungen ihm sagten, dass es das Richtige sei, bekümmerte Johann Hesenius solches Gerede nicht weiter.
Ein abgestandener, aber nicht unangenehmer Geruch, gespeist von Harzen, Leinöl und Wachs, wehte den Jungen an, während er einige vorsichtige Schritte tat. Es dauerte noch einige Sekunden, bis seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten und der Blick sich soweit schärfte, dass er weitere Einzelheiten des Raumes aufnahm.
Zwischen Truhen und Fässern reckten sich eckige Tragbalken von Eichenholz empor bis in Höhe des zweiten Stocks und stützten dort eine düstere, unverputzte Balkendecke. Geradeaus führte eine breite Holztreppe in mehreren Kehren nach oben und gewährte auf halber Höhe Zugang zu einer Galerie, welche die ganze linke Seite des Kontors überdeckte. Die Stufen führten noch weiter hinauf, doch verloren sie sich bald im tiefen Dunkel, das oberhalb der Deckenöffnung herrschte.
Die Diele selbst machte einen verlassenen Eindruck, aber Laute verrieten, dass in den Tiefen des Hauses Arbeit verrichtet wurde, denn ein wiederholtes dumpfes Poltern, begleitet von Zurufen, drang von fern herüber.
Nach einigen Sekunden wurde der Jüngling gewahr, dass ihn entgegen seiner ersten Befürchtung doch jemand empfangen wollte, denn ein Greis mit schütterem weißen Haar war rechter Hand aus einer Nische hervorgetreten, in die er sich zuvor so vollkommen eingefügt hatte, als sei er ein fester Bestandteil der Einrichtung.
Es war der von Marthe erwähnte alte Harm, der mit bedächtigen, schlurfenden Schritten auf ihn zuging, ein dürres Männlein, das dem Augenschein nach wenigstens im siebten Lebensjahrzehnt stehen musste. Die Jüngeren sprachen unbeschwert und ohne Respekt nurmehr von dem „Alten“; für alle anderen, auch für die, die ihn gut kannten, war er einfach nur Harm. Niemand wusste ihn anders zu heißen, und es schien fast, als habe das fortschreitende Alter irgendwann seinen ursprünglich vertrauten Familiennamen getilgt. Wer seit Längerem um die Geschicke des Hauses Hesenius wusste, konnte Geschichten beisteuern, nach denen er schon vor der Zeit des großen Krieges im Kontor der Kaufmannsfamilie zu arbeiten angefangen habe. Er galt als gänzlich anspruchslos, war stets pünktlich und zuverlässig in den alltäglichen Verrichtungen, die man ihm auftrug, und so wusste man ihn an seinem Platz im Hause Hesenius, Tag für Tag und Jahr für Jahr, und wenn er eines Morgens nicht zur gewohnten Stunde erscheinen sollte, so würde es für jedermann gewiss sein, dass er gestorben sei.
So wachte er über die Eingangsdiele, und sein einziger Begleiter auch zu dieser Stunde war Ambrosius, ein großer, launenhafter Kater, der aber bei jedem im Haus in hohem Ansehen stand, da er doch ebenso ein zuverlässiger Mäusejäger war.
Wie Harm den jungen Gast wahrgenommen hatte, war er aufgestanden und begrüßte ihn nun, und den suchenden Blick des anderen deutete er dabei als die übliche Ungewissheit eines Menschen, der nicht recht weiß, ob er die Ware finden werde, wegen der er hergekommen war. Mit seiner brüchig-heiseren Stimme fragte er, nach seinem Begehr.
Ohne Umschweife nahm der Jüngling einen Brief aus seinem Ranzen, hielt diesen in Brusthöhe und stellte sich vor: „Eilert Keye, zu Diensten. Ich entbiete Grüße von meinem Herrn, dem ehrenwerten Kaufmanne Hermann Lengsdorp, und habe dies eilige Schreiben zu übergeben dem Herrn Ulrich Hesenius, Sohn des Kaufmanns Johann Hesenius.“
Die Worte, die er, Marthes Rat befolgend, überaus klar und deutlich gesprochen hatte, waren dazu angetan, den Alten ein wenig zu verunsichern. So streckte er recht zögerlich die Hand in Richtung des Briefes aus und sprach halb zum jungen Boten, halb zu sich selbst: „Es schickt sich wohl eher, unseren Herrn Kaufmann selbst zu benachrichtigen, meint Ihr nicht?“ Doch der Junge machte keine Anstalten das Schreiben an den Alten zu übergeben, und seine Entgegnung sprach er ebenso höflich wie deutlich: „Wenn ihr mir bitte verzeihen wollt, aber es ist mir ausdrücklich aufgetragen, dies Schreiben allein dem jungen Herrn Hesenius zu übereignen, doch sollte er nicht hier sein, so bitte ich Euch, mir zu sagen, wo ich ihn finde.“
Nun, da Jüngling und Greis sich uneins gegenüberstanden, zeigte es sich, dass das Kontor keineswegs allein der Obhut des alten Harm anvertraut war. Über ihren Häuptern, dort wo die Galerie sich erstreckte, wurde eine Tür geöffnet, und jemand rief mit fester Stimme an die Adresse des Alten einen einfachen Satz, der kürzer kaum hätte sein können: „Es ist gut, Harm.“ Dies genügte dem Alten zur Weisung, derweil sich der Urheber des Gesprochenen, ein Mann mittleren Alters, zur Treppe begab und die Stufen herab schritt, um seinerseits den jungen Gast zu begrüßen.
Obgleich Johann Albert Hesenius, denn um diesen handelte es sich, von seiner Schreibstube aus das Kontor nicht zu überblicken vermochte, hatte er doch ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wann immer es angeraten sei, dass, anstelle des alten Harm, er sich selbst um die Belange der Besucher kümmere. Als der Kaufmann unten angelangt war, sah Eilert seine stattliche Erscheinung: Er war wohl Mitte vierzig, wenigstens fünfeinhalb Fuß groß und dabei doch ohne jene Fülle an Bauch und Hüften, die man bei Männern von Stand sonst so häufig antraf, wenn sie erst ein gewisses Alter erreicht hatten. Nichts an seiner Kleidung hätte man auffallend und erinnernswert gefunden, und doch sah er darin vorteilhaft und würdevoll aus. Über dem weithin üblichen schwarzen Oberrock mit den nach holländischem Muster aufgereihten Knöpfen schwebte ein tadelloser eckiger Hemdkragen, der, blendend weiß gebleicht, zum Rande hin in eine feine Klöppelarbeit auslief.
Des Kaufmanns Haupthaar hatte sich nur oberhalb der Schläfen ein wenig gelichtet. Er trug es sorgsam nach hinten gekämmt aber nicht übermäßig kurz oder streng geschnitten. Der Bart war gleichmäßig mit Messer und Schere gestutzt, nur von der Oberlippe spross er ausladender in zwei kräftigen Strähnen, die beiderseits leicht nach unten wiesen, als gelte es, die ernste Nachdenklichkeit, die von dem Mann ausging, noch zu unterstreichen. Die Nase war nicht übermäßig lang, doch mit kräftigem, breitem Bein, darüber vertiefte sich eine einzelne senkrechte Falte und teilte die Stirn genau in der Mitte. Die Konturen des Schädels, die sich an den Wangen und über den Augen durch die Haut hindurch mitteilten, verrieten den kräftigen Knochenbau, doch war keine rohe, überschießende Kraft in den Bewegungen des Mannes, jede Regung von ihm wirkte maßvoll und zurückhaltend.
Wache, dunkelblaue Augen hatten Eilert schon von der Treppe aus gemustert, und da sie einander nun gegenüber standen und der Junge neuerlich die Grüße seines Herrn entbot und seine Ansage wiederholte, war da zunächst keine Regung, kein unverbindliches und freundlich hingeworfenes Lächeln in seinem Gesicht. Nur ein leichtes Nicken verriet, dass die Botschaft verstanden sei. Wenn Hesenius von der Ankündigung des Jungen überrascht war, so zeigte er es nicht. Er unterließ es, die Fragen, die er wohl hatte, in Worte zu fassen, und des Kaufmanns Stimme war sanft und höflich, als er antwortete.
„Wohl befindet sich Ulrich hier, doch hat er seine eigene Schreibstube und sie liegt nun allerdings weit oben unterm Dach. Ich werde ihn für Euch rufen lassen“, beschied er, begab sich zur hinteren Wand des Kontors und rief, nunmehr mit kräftigem Bass, in den Gang hinein, welcher in die Tiefen des Hauses führte.
Die monotonen Zähllaute, die in ruhigen Momenten von dort zu vernehmen waren, hörten auf, und es erklang eine unbestimmte Antwort, die im Kontor nicht mehr zu verstehen war, doch das Quietschen einer Türangel und anhaltende Schritte mochte man dahingehend deuten, dass der vom Kaufmann gegebene Auftrag ausgeführt wurde.
Während der alte Harm, da seine Dienste hier nicht weiter vonnöten waren, wieder seinen angestammten Platz in der Kontornische eingenommen hatte, begann Johann Hesenius eine oberflächliche Unterhaltung mit dem Jungen, denn die Höflichkeit gebot es, jedem Gast, mochte er auch nur ein Sendbote und so jung an Jahren sein wie Eilert Keye, ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Als sich die üblichen Fragen zum Wohlbefinden seines Herrn und zum Stand der Geschäfte erschöpft hatten, vernahm man hoch oben eine zuschlagende Tür und gleich darauf Schritte, die sich den in der Diele Wartenden näherten.
Das geschah so geschwind, als würde ihr Urheber jede zweite Stufe auslassen, und das gleichmäßige Klacken der Schuhe auf Holz wurde dabei unvermeidlich begleitet vom vermehrten Knarren der Dielen und Balken, als missbilligten diese solch einen schwungvollen Abstieg.
Vor der letzten Treppenkehre verlangsamte Ulrich Hesenius seinen Lauf, blickte in die vor ihm liegende Halle und erfasste die vertraute Gestalt des Vaters ebenso wie den ihm unbekannten jungen Burschen. Er war erst Anfang zwanzig und groß gewachsen, dabei aber von so schlankem Wuchs, dass seine Gestalt fast schmächtig wirkte und wohlmeinende Verwandte sich unentwegt bemüßigt fühlten, seinen Appetit bei Tisch zu hinterfragen, wiewohl er hierfür eigentlich keinen Grund lieferte. Wenig erinnerte in dem schmalen, blassen Gesicht an die kraftvoll energischen Züge des Vaters. Vertraute der Familie aber entdeckten umso mehr Ähnlichkeiten mit der so früh verstorbenen Mutter: die Blässe seiner Haut, unter der stellenweise feine blaue Äderchen hervor schimmerten, die schmale, mit einigen Sommersprossen bedeckte Nase, die zudem etwas spitz zulief, und ganz gewiss die großen blauen Augen, überwölbt von deutlich hervortretenden Lidern, in denen die hellen Wimpern wie unsichtbar standen. All das verlieh seinem Blick diesen seltsamen, leicht verträumt und melancholisch wirkenden Ausdruck, so als hinge er gern Gedanken nach, die in weite Ferne reichten, und als seien diese zudem im Übermaß trüb und schwer.
Er war glatt rasiert, aber auch ein Bart hätte wohl nicht vermocht, ihn älter wirken zu lassen als er nach Jahren zählte. Das in der Mitte gescheitelte, hellblonde Haar reichte ihm, wie es weithin üblich war, bis über die Schulter herab. Als einzige Besonderheit hatte Ulrich es sich zur Gewohnheit gemacht, von den Schläfen ausgehend zwei kleine Strähnen zu schmalen Zöpfen zu flechten, und diese unsichtbar am Hinterhaupt zusammenzubinden. Aber weder Eitelkeit noch eine der vielen Modetorheiten, die sich auch seiner Generation bemächtigt hatte, waren der Grund hierfür, sondern einzig das Gefühl, es sei allzu lästig, sich beim Schreiben fortwährend das ungebändigte Haar aus den Augen streichen zu müssen. Auch schwor er, es habe ihn ein ums andere Mal davor bewahrt, die noch feuchte Tinte auf halb geschriebenen Briefen zu verschmieren.
Seine dunkle Kleidung war von so gewöhnlicher Art, als wolle er damit noch unterstreichen, dass sein Platz im Haus eine recht abgelegene Schreibstube war, fern der Diele, wo sich alle begegneten. Einzig die feinen, fingerlosen Wollhandschuhe, die er zur Arbeit übergestreift hatte, hätte man auffällig nennen können: Tatsächlich schätzte er sie als überaus nützlich, da sie ihm beim Schreiben in der kalten Stube doch die Hände wärmten.
Eilert betrachtete den Empfänger seines Briefs mit leiser Verwunderung, da er nunmehr gewahr wurde, wie jung dieser war. Es machte ihn in seinen Augen zu etwas Besonderem, da er es gewohnt war, Nachrichten zu überbringen an Männer, die reif und welterfahren wirkten und die nach Jahren nicht selten seinem Großvater gleich kamen.
„Eilert hier hat dir einen wichtigen Brief zu übergeben“, stellte Johann Hesenius den Jungen vor.
Während dieser nunmehr zum dritten Mal die Grüße seines Auftraggebers, des ehrenwerten Kaufmanns Hermann Lengsdorp, entbot, nahm Ulrich recht zögerlich den Brief an sich, als sei er etwas, das in Wahrheit nicht nach dem Willen des Absenders, sondern durch eine zufällige Laune des Schicksals ausgerechnet in seine Hände gelangt sei. Er betrachtete ihn sorgfältig, doch war es unübersehbar sein Name, welcher auf der Deckseite des gefalteten Blatts prangte. So verdrängte er alle Fragen, die ihn bestürmten, erbrach das Siegel von dunkelrotem Wachs und entfaltete den Bogen.
Ambrosius, der auf leisen Pfoten herbeigeeilt war, kaum dass er Ulrichs Schritte auf der Treppe gehört hatte, strich um dessen Schuhe und Strümpfe herum, was ihm für gewöhnlich mit anhaltendem Fellkraulen gelohnt wurde, doch diesmal warb er vergeblich, und da ihn auch sonst niemand beachtete, leckte er nur planlos eine Vorderpfote und zog mit beleidigter Miene ab, während Ulrichs Blick auf dem Papier ruhte und er die darin geschriebene Botschaft las. Es waren nur wenige Zeilen, die da lauteten: