Czytaj książkę: «Tosh - La Famiglia»

Czcionka:

TOSH

La Famiglia

Teil 1 der Dark-Romance-Dilogie »Der Cortone-Clan«

von

Lucia Bolsani

Contentnotes: Diese Dilogie enthält explizite Gewaltdarstellungen, auch sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Kinder und das Thema Suizid.

Lektorat: Andrea Benesch | www.lektorat-federundeselsohr.de

Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von

depositphotos.com: © tomert, © kukumalu80, © yoka66, © sergio34, © stillfx stock.adobe.com: © Viorel Sima

© 2021 Lucia Bolsani |www.evabolsani.de

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,,

herzlich willkommen zur ersten Dark Romance aus meiner Feder!

Was erwartet Dich hier? Du triffst auf sadistische Mafiosi, die Gewalt für die einzig mögliche Form der Problemlösung halten, auf einvernehmlichen Sex, der etwas härter daherkommt, überhaupt nicht einvernehmlichen Sex, Mord, Betrug, Geldwäsche und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nun gut, mit einem Ponyhof hast Du wahrscheinlich auch nicht gerechnet. Was halte ich Dich also mit einem Vorwort auf? Zumal Du vermutlich ganz gut selbst weißt, welche Art von Büchern Du gerne lesen möchtest.

Nun, zwei Warnungen will ich doch noch loswerden: Es gibt keine weichgespülten Mafiosi und kein flauschiges Ende … vi chiedo scusa – es tut mir leid!

Da sind wir gleich beim zweiten Punkt: Leider musste ich feststellen, dass die handelnden Personen über ein umfangreiches Repertoire an italienischen Schimpfwörtern verfügen und sich dessen großzügig bedienen. Solltest Du des italienischen Fluchens nicht mächtig sein, findest Du im Anhang ein Glossar mit der jeweiligen Übersetzung. Wenn Dich Nachschlagen nervt oder im Lesefluss stört, stell Dir bitte an der entsprechenden Stelle ein herzhaftes Scheiße! oder Arschloch! vor, das passt eigentlich immer.

Nachdem das geklärt ist, können wir ja eintauchen in die dunkle Seite Münchens fernab jeglicher Postkartenidylle und Oktoberfest-Romantik. Ich wünsche Dir spannende Stunden!

Deine Lu

Prolog


München-Giesing, 09.07.2001, nachmittags

Ich kanns nicht mehr sehen. Eine halbe Stunde hocken wir jetzt schon in unserem Kleintransporter und starren auf diese bescheuerte Feuerschutztür. Auf die verblassten Buchstaben Achims Kickboxclub und die drübergeschmierten Graffiti. Ein Scheiß ist das, aber der Padre ist nun mal der Boss, und der besteht darauf, dass ich diesem Rotzlöffel einen Denkzettel verpasse. Klar, wenn irgendein dahergelaufener Bengel seinen geliebten Enkel Domenico beklaut, ist das natürlich kein Job für einen x-beliebigen Handlanger, da müssen die Profis ran.

Die Kohle soll ich auch wiederbesorgen. Wobei ich mich schon frage, ob die Sache zwischen den Jungs wirklich so abgelaufen ist, wie Domenico behauptet. Aber ist das etwa mein Problem? Sicher nicht.

Domenico ist erst vor drei Wochen von Italien nach München zu seinem Großvater gezogen, aber das sehe ich gleich: Das ist so ein hinterlistiger, kleiner Scheißer, der Mist baut und ihn dann anderen anhängt. Dummerweise hat der Padre einen Narren an Domenico gefressen, da halte ich besser mein Maul.

Als ich zehn Jahre alt war, habe ich in den Bergen um meine Heimatstadt Padolfi mit einer Neunmillimeter rumgeballert, und wenn mich ein anderer Junge um meine Knete erleichtert hätte, wäre mir zusätzlich eine gehörige Tracht Prügel meines Papàs sicher gewesen. Dem Enkel des Padre wird freilich kein Haar gekrümmt. Schwachsinn! So wird der verweichlichte Schwächling nur weiter Ärger machen und am Ende vielleicht sogar die ganze Famiglia in Schwierigkeiten bringen. Che stronzo!

Wenigstens konnte Domenico ein paar Hinweise auf den Bengel geben, der glaubt, er kann sich mit der Famiglia anlegen. Was uns zu diesem versifften Boxclub geführt hat. Wenn unsere Informationen stimmen, sollte der kleine Dieb jetzt trainieren, während ich mit Domenico gelangweilt hier rumhänge. Allerdings wird mein Freund Bruce dafür sorgen, dass der Junge nach der Stunde kurz aufgehalten wird. Schließlich wollen wir ungestört sein, wenn wir uns ein bisschen mit ihm unterhalten.

Klar, wir hätten den Langfinger auch in den Wagen zerren und ihm die fällige Abreibung in irgendeinem dunklen Hinterhof verpassen können. Aber wenn ich schon so einen Kinderkram erledigen muss, dann will ich damit wenigstens ein Zeichen setzen: Carlo Cortone kann sich in diesem Viertel jederzeit an jedem Ort einen Jungen vornehmen, ohne dass ihm deswegen wer ans Bein pisst.

Unter lautem Getöse quellen ein paar Rabauken aus der schäbigen Tür, rempeln sich gegenseitig an und kommen sich offenbar supercool vor. Cretini! Aber endlich piept mein Handy. Das Signal von Bruce. Es kann losgehen.

»Avanti!«, sage ich zu Domenico, wir schwingen uns aus dem Wagen und drücken die Eingangstür zum Boxclub auf. Sofort schlägt uns der unverwechselbare Geruch nach kaltem Schweiß und billigen Deos entgegen. Widerlich!

Wir steigen ein paar abgewetzte Betonstufen hinauf, und ich erläutere Domenico den Plan: »Pass auf, Bruce schnappt sich den Jungen, dann kannst du ihm …«

Domenico schüttelt entsetzt den Kopf. »Bruce soll das machen.«

Porco dio, ein Feigling ist er auch noch. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn Domenico der nächste Padre wird. Hoffentlich legt ihn rechtzeitig irgendein Rivale um, wäre uns allen zu wünschen. Der alte Mann würde ausrasten und Vergeltung fordern, aber leichter das als Domenico an der Spitze der Münchner Famiglia.

Bruce wartet am Eingang zu den Umkleiden auf uns, einem riesigen Raum, der durch mehrere Reihen verbeulter Stahlschränke in kleine Gänge unterteilt wurde. Jetzt herrscht gähnende Leere. Bis auf einen dürren Jungen mit verschwitztem dunkelblonden Haar, der vor einem geöffneten Spind steht und sich ein T-Shirt über den mageren Oberkörper zieht. Was für ein Welpe! Aber das ändert nichts daran, dass er eine diebische Elster ist und gleich die Quittung dafür bekommen wird.

»Domenico, è lui?«, knurre ich leise. Ist er das?

Domenico nickt angespannt, dann versteckt er sich hinter der nächsten Reihe Spinde. Erbärmlich. Ich gebe Bruce mit einem Wink zu verstehen, dass er die Sache ohne ihn durchziehen soll.

Mit zwei Schritten ist mein Mann bei dem Kleinen und knallt ihm die Stahltür des Spindes direkt vor der Nase zu. Der Junge fährt herum, da trifft ihn Bruce’ Faust auch schon in den Magen. Der Bengel stöhnt und krümmt sich zusammen, aber seine Reaktion verrät, dass er heute nicht zum ersten Mal hier trainiert hat. Er taucht nach unten weg und versucht dabei, gegen Bruce’ Schienbein zu treten. So ein simpler Trick entlockt Bruce natürlich nur ein müdes Lächeln, problemlos weicht er aus, wobei sein Stiefel wie zufällig auf einem nackten Fuß des Jungen landet. Ein kurzer Schrei, dann fliegen die Fäuste des Burschen wirkungslos in Richtung seines Gegners. Bruce greift um einiges effektiver an: Ein präziser Faustschlag trifft den Zwerg im Gesicht, seine Lippe platzt auf.

Schon faszinierend. Dank des Adrenalins merkt der kleine Kerl gar nicht, dass er wirklich besser aufgeben sollte. Immer noch versucht er, sich zu wehren, doch seine harmlosen Versuche prallen an Bruce einfach ab. Zufrieden sehe ich, dass der Junge einige sehr schmerzhafte Treffer kassiert. Bruce ist erfahren genug, um den Kleinen nicht gleich k. o. zu schlagen. Die Lektion wird der Bursche so schnell nicht vergessen.

»E basta!«, befehle ich schließlich, und mit einem gezielten Schlag auf den Solarplexus setzt Bruce dem ungleichen Kampf ein Ende.

Als sich die Sternchen, die der Bursche zweifellos sieht, verzogen haben, findet er sich in Bruce’ erbarmungslosem Polizeigriff wieder.

»Lass mich los, Blödmann!«

Aus der aufgeplatzten Lippe tropft Blut auf sein Shirt, die ersten Hämatome zeichnen sich bereits deutlich auf dem Gesicht ab, und Bruce ist nicht gerade zimperlich, wenn er zupackt, trotzdem reißt der Welpe noch die Klappe auf. Der Mut der Verzweiflung, schätze ich. Bruce antwortet nicht, sondern greift sich ein Büschel Haare und zwingt den Kopf des Bengels in den Nacken. Der Wicht hat keine andere Wahl, als mich anzusehen. Seine Augen weiten sich für einen Moment.

Ich weiß, was er sieht: Einen Mann Ende zwanzig, dunkler Teint, blond gefärbte Haare, Sonnenbrille. Heller Anzug mit einem schwarzen Muskelshirt drunter. Ein Kerl wie aus einem Surfermagazin, wäre da nicht die zentimetertiefe Narbe in meinem Gesicht, die vom Kinn bis fast zum Ohr reicht. Allerdings sorgt dieser Makel dafür, dass jeder hier in der Gegend gleich weiß, mit wem er es zu tun hat. Der Welpe offenbar auch.

Ich nehme die Sonnenbrille ab. »Nur, um sicherzugehen«, frage ich betont höflich, »du bist der Idiot, der es gewagt hat, meinen Neffen Domenico zu bestehlen?«

Bruce muss den Burschen erneut an den Haaren reißen, damit ich eine Antwort bekomme.

»Ich … ich wollte doch nicht …«, krächzt der Kleine.

Das reicht schon. Hauptsache, der Junge hat kapiert, worum es geht.

»Brich ihm einen Finger«, befehle ich Bruce.

Das muss ich meinem Handlanger nicht zweimal sagen. Ohne Federlesen schnappt er sich den Mittelfinger der linken Hand des Kleinen und biegt ihn über seinen eigenen Daumen nach hinten. Ein grässliches Knacken ertönt, als träte man im Wald auf einen trockenen Zweig. Der Junge schreit gequält auf. Bruce lässt ihn los, und sofort taumelt der Bub von uns weg, die verletzte Hand schützend an seine Brust gepresst. Ich kann ein paar Tränen sehen, und sein Mund ist schmerzverzerrt, aber wenigstens plärrt er nicht los wie ein Baby.

»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Niemand bestiehlt die Famiglia

»Scheiße Mann! Ich hab dem Typen geholfen!«, jault der Junge und zieht den Rotz hoch. »Ich hab ihn aus der Schlägerei mit den Schlitzaugen rausgeholt und in die Notaufnahme geschleppt.«

Tja, die Welt ist schlecht. Nachdem wir Domenico in einem Krankenhaus wieder eingesammelt hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ihm der Langfinger zunächst zur Hilfe gekommen war, als ihn ein paar andere Typen angegangen sind. Und ohne die Kickboxnummer, die der Bursche da abgezogen hat, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden.

»Deswegen sind auch noch alle Finger dran. Das nächste Mal schneidet Bruce dir einen ab«, erkläre ich lässig. »Frag lieber nicht, wie die Schlitzaugen jetzt aussehen.«

Dann schweigen wir alle. Bruce und ich lehnen dabei unbekümmert am Ausgang, während die Blicke des Jungen unruhig hin und her huschen. Schließlich hält er es nicht mehr aus. »Ihr habt ja jetzt, was ihr wolltet. Warum haut ihr nicht ab?«

»Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen? Die Kohle, die Domenico dabei hatte, zum Beispiel?«

»Den … den Geldbeutel habe ich im Fundbüro abgegeben«, presst der Welpe hervor.

»Mit der Knete?«, frage ich höhnisch. »Du solltest mich besser nicht verarschen, sonst erledigen wir das mit dem Fingerabschneiden gleich hier und jetzt.«

»Das Geld habe ich ausgegeben«, schleudert mir der Kleine entgegen, und in seine Stimme mischen sich Panik und Triumph. »Für eine Jahreskarte. Für dieses Studio.«

»Bruce, such den Besitzer von dem Drecksloch hier und hol das Geld zurück«, befehle ich. »Nimm Domenico mit.«

Domenico krabbelt hinter dem Spind hervor, von wo aus er die ganze Szene mit offenem Mund beobachtet hat, und verschwindet mit Bruce. Ich bin allein mit dem Zwerg.

»Du hast wirklich alles für das hier ausgegeben?«, frage ich und sehe mich abschätzig um.

Der Welpe hält immer noch so viel Abstand wie möglich zu mir, außerdem kämpft er schon wieder mit den Tränen. Diesmal gewinnt er. Stattdessen schreit er mich plötzlich an: »Ja! Damit mir in Zukunft nicht jeder dahergelaufene Ganove einen Finger brechen kann! Damit nicht jeder Stecher meiner Mutter meine Kohle klauen kann! Damit meine bescheuerte Schwester nicht einfach meinen Hund vergiften kann! Aber vor allem …«, hier kippt seine Stimme, »… damit nicht jeder Depp meinen Opa überfahren und ungeschoren davonkommen kann! Und jetzt schneiden Sie mir halt meinen gottverdammten Finger ab, was soll ich schon dagegen machen!«

Das ist ja interessant.

Ich sehe den Jungen an, erkenne die Verzweiflung und die Wut in ihm und den Wunsch, endlich kein Opfer mehr zu sein. Dieses brennende Verlangen in die richtigen Bahnen zu lenken, könnte ihn zu einem perfekten Gefolgsmann machen. »Komm mal her«, sage ich sanft und winke ihn heran.

Er kommt tatsächlich näher. Mutig ist er. Trotzdem ist sein Blick wachsam, blöd ist er also nicht.

»Nur so eine Idee«, schmeichle ich. »Wer zu meinen Jungs gehört, muss sicher nicht in so einem abgefuckten Studio trainieren, um sich Respekt zu verschaffen. Das ist es doch, was du willst. Respekt. Oder Macht? Rache?«

Beim letzten Wort glimmt eine Gier in seinen Augen auf, die ich nur allzu gut kenne.

»Rache also«, locke ich. »Ich kann dir dazu verhelfen.«

»Aber … warum sollten Sie das tun?«, fragt er misstrauisch.

Kluges Kerlchen.

»Die Sache hat natürlich einen Haken. Alle wirklich guten Angebote haben einen winzigen Haken. Ich erwarte von meinen Leuten bedingungslose Ergebenheit.«

Der Kleine runzelt die Stirn, darunter kann er sich offenbar nichts vorstellen.

»Das heißt, wenn ich dein Geld will, wenn ich deinen Hund töten will, wenn ich deine Familie überfahren oder dir einen Finger brechen will, wirst du das klaglos akzeptieren.«

Er sieht mich immer noch argwöhnisch an, als wäre er nicht sicher, wer von diesem Handel mehr profitiert.

»Okay«, sagt er schließlich.

»Gut«, entgegne ich und strecke auffordernd eine Hand aus.

»Äh …«, macht er verdutzt.

»Beweise mir, dass du es ernst meinst. Geld hast du keins, ein Opa oder ein Hund sind gerade nicht am Start … aber neun Finger sind noch übrig, eh?«

Er starrt auf seine Hände. Überlegt er, welche er mir geben soll, oder wie er aus der Nummer wieder rauskommt? Schließlich reicht er mir klugerweise die bereits ramponierte Pfote. Wirklich nicht blöd der Kleine.

Ich lasse mir Zeit. Betrachte in aller Ruhe sein zerschlagenes Gesicht mit den ängstlich geweiteten Augen. Umschließe sein Handgelenk nur leicht – ein Ruck, und er könnte sich befreien. Wir sehen einander an. Seine Lider flattern, aber er rührt sich nicht vom Fleck. Ich nehme seinen Zeigefinger zwischen Daumen und Mittelfinger und biege ihn aufreizend langsam um. Ein Schweißtropfen rinnt seine Schläfe hinunter und er presst die aufgerissenen Lippen zusammen. Offenbar bemüht er sich, ruhig zu atmen, aber die bebenden Nasenflügel verraten ihn. Seine Hand zittert, doch er macht keine Anstalten, sie wegzuziehen. Ich koste den Moment aus, genieße seine Furcht. Er ist zäher, als ich dachte. Obwohl sein Atem schneller und schneller geht und sein Mund nun nicht mehr als ein schmaler Strich ist, steht er immer noch vor mir.

Molto bene! Ein kräftiger Ruck, ein unschönes Knacken, er schreit auf, bevor er stöhnend auf den Boden sackt.

»Scheiße«, jammert er, und umklammert die verletzte Hand mit der gesunden. Aber schon kurz darauf rappelt er sich auf. Doch, der Kleine gefällt mir.

»Was wird jetzt aus dem Training?« Seine Stimme bebt nur ganz leicht. Gut, da kann er gleich was lernen.

»Unwichtig. Es geht nicht darum, dass du stärker als alle anderen bist. Pass auf: Du hast jetzt zwei gebrochene Finger, eh? Welcher, denkst du, bedeutet mir mehr – der, den Bruce dir mit Gewalt gebrochen hat, oder der, den du mir freiwillig gegeben hast?« Ich lasse ihm einen Augenblick, um das zu verdauen, dann fahre ich fort: »Du kannst in unserem Dojo trainieren. Aber vor allem: Lerne, deinen Kopf zu benutzen. Dann wirst du erreichen, was auch immer du willst.«

Genau in dem Moment taucht Bruce auf, ein Bündel Scheine in der Hand.

»Bring den Jungen hier zum Doc«, sage ich zu ihm. »Er gehört jetzt zu uns, ich will nicht, dass er steife Finger kriegt.« Dann wende ich mich an den Kleinen: »Ich bin Carlo. Aber du darfst Boss zu mir sagen.«

»Tosh«, sagt der Junge und nickt ernst. »Ich bin Tosh Silvers, Boss!«

Kapitel 1


München-Giesing, 23. Mai 2019, nachmittags

»Porca miseria, Chef, Minnie ist kurz vor dem Heckenstallertunnel einfach aus der Karre gesprungen.«

Ich gönne meinem Fahrer keinen Blick, sondern studiere weiterhin die Börsencharts auf meinem Laptop.

»Wer macht denn auch so was, auf dem Mittleren Ring auf die Straße rennen?«, fährt Hugo fort.

»Eine Nutte auf Crystal?«, schlage ich sarkastisch vor, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

Hugos sonst so gelassene Stimme klingt um einiges gehetzter, als er mir umständlich zu erklären versucht, weshalb er überhaupt so weit runterbremsen musste, dass Minnie türmen konnte, ohne sich dabei sämtliche Knochen zu brechen. Als er jedoch zu einer Entschuldigung ansetzt, unterbreche ich ihn. »Wladimir liegt mir eh schon ständig in den Ohren, dass Minnie nicht genug Freier schafft. Und dann noch diese überflüssige Aktion heute …« Erst jetzt wende ich mich von den Börsenkursen ab, lehne mich zurück und mustere Hugo kühl.

Der drahtige Mann steht immer noch direkt vor der Tür meines weitläufigen Büros, als könnte ihn der räumliche Abstand zu mir irgendwie vor den Konsequenzen seines Fehlers bewahren. Hugo hält meinem Blick nicht stand. Seine Gesichtsfarbe hat inzwischen einen bläulich-ungesunden Ton angenommen. Der könnte allerdings auch daher rühren, dass der Schein der Neonleuchtschrift des Restaurants Blue Parrot genau in das Fenster meines Büros fällt. Ist im Grunde aber egal. Hugo hat Mist gebaut und das weiß er auch.

»Du hast mich da in eine dumme Lage gebracht. Wo bekomme ich denn jetzt auf die schnelle eine neue Hure für Wladimirs abgewrackten Puff her? Ich habe gerade kein Mädel an der Hand, du vielleicht?«

Hugos Gesichtszüge entgleisen kurz. Hektisch fährt er sich mit einer Hand durch das dunkle Haar. Sehr gut. Ich muss gar nicht darauf hinweisen, dass ich sehr wohl weiß, dass er etwas mit dieser schnuckeligen Küchenhilfe am Laufen hat. Mein Fahrer ist sich dessen ebenso bewusst wie der Tatsache, dass ich nicht zögern würde, sie für seinen Ausrutscher büßen zu lassen.

»Chef … ich klär das mit Wladimir. Er hat doch Kontakte zu den Tschechen, die haben sicher ein neues Mädel für ihn. Ich zahl das auch!«

Ich lasse Hugo ein wenig zappeln. Wladimirs Geschmack ist nicht besonders erlesen, natürlich nicht, sonst würde Minnie wohl kaum bei ihm anschaffen. Hugo käme also ziemlich günstig weg. Ganz abgesehen davon würde ich dem Russen lieber die Fresse polieren, als ihn auch noch dafür zu belohnen, dass Minnie ihm entwischt ist. Aber Hugo ist normalerweise sehr zuverlässig, und Wladimir schuldet mir keine Rechenschaft, da er nicht zu meinen Leuten gehört. Daher entschließe ich mich dazu, meinen Chauffeur damit durchkommen zu lassen. Wenn ich Minnie allerdings nicht wieder in die Finger bekomme, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich bin noch lange nicht fertig mit ihr.

»Also gut. Aber ich will die Schlampe zurück. Sieh zu, dass du sie wieder auftreibst.«

»Natürlich, Herr Silvers. Ich kümmere mich sofort darum.«

Ich kann Hugos Erleichterung förmlich riechen. Mein Kopf ruckt kurz in Richtung Tür. Er versteht und verschwindet ohne ein weiteres Wort.

»Maledetto!«, fluche ich, kaum dass ich allein bin. Minnie hat gefälligst in diesem verlotterten Puff die Beine für jeden breit zu machen, der sich nicht zu schade ist, seinen Schwanz in ihre Fotze zu stecken. Was der Boss davon hält, dass uns die Nutte abhandengekommen ist, will ich lieber gar nicht wissen. Falls Minnie nicht längst mit einer Nadel im Arm auf irgendeinem versifften Klo liegt.

Was mich auf eine Idee bringt. Wenn irgendwer in Nullkommanichts rauskriegt, ob es in dieser Stadt eine frische Drogentote oder eine plattgefahrene Hure gibt, dann Georg. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Zwar hätte ich noch einiges zu tun, aber ein kurzer Abstecher in den Keller sollte vor dem Treffen mit dem Boss trotzdem drin sein.

Das hätte ich mir ja früher nicht träumen lassen, dass man als Carlo Cortones Finanzmanager mehr schuften muss als diese aufgeblasenen CEOs, die immer so ernst in die Fernsehkameras gucken, wenn sie erklären, warum sie leider die Kohle der Anleger verzockt haben, bevor sie sich dann mit ihrer Millionenabfindung davonmachen. Das sollte ich mal versuchen!

Wobei die Kerle natürlich unter erschwerten Bedingungen arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die mal eben einem Angestellten damit drohen könnten, seine Freundin in einen Puff zu stecken, ohne dass es ein Riesentheater gibt. Bei mir taucht auch kein Betriebsrat auf, um mich darauf hinzuweisen, dass es unzulässig ist, einem Mitarbeiter die Nase zu brechen, nur weil er fünf Minuten zu spät kommt. Alles in allem fällt es mir also wesentlich leichter, mir Respekt zu verschaffen. Obwohl selbst seriöse Geschäftsleute in den Hinterzimmern des Blue Parrot gerne mal mit fragwürdigen Praktiken liebäugeln, um die Konkurrenz auszuschalten. Vielleicht unterscheiden sich unsere Jobs also doch gar nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint.

Georgs Reich liegt im Keller direkt neben den Räumen, die ich für entlaufene Huren und ähnliches Gesocks reserviert habe, und die lieber niemand von innen sehen will. Aber für Georg zählt nur, dass es seine Babys schön kühl haben. So bezeichnet er eine ganze Armada von Servern, die meine Stromrechnung in unermessliche Höhen treiben. Aber was tut man nicht alles für einen Weltklassehacker?

Ich trete ein und lasse den Blick über die blinkenden Computer schweifen, als auch schon der Meister der Technik zwischen den Regalen auftaucht.

»Tosh, du bist es«, begrüßt er mich fröhlich lächelnd.

Für jeden anderen meiner Angestellten bin ich Herr Silvers oder Chef. Aber selbst ich muss zugeben, dass zu einem Menschen, den man kennengelernt hat, als er mit einem Strick um den Hals auf dem Geländer der Praterwehrbrücke saß und fest entschlossen war, sich in den Tod zu stürzen, eine besondere Beziehung besteht. Weshalb Georg bei mir eine gewisse Narrenfreiheit genießt.

»Wen hast du erwartet, eine heiße Braut etwa?«, frage ich grinsend zurück, dabei bin ich der Einzige außer ihm, der den Code zum Öffnen der Tür kennt. »Wäre ja nicht schlecht, wenn dir jemand in diesem Kühlschrank mal einheizt.«

Er wird rot. Wie ein Mädchen.

»Habe ich ins Schwarze getroffen?«, foppe ich ihn weiter. »Wie heißt sie denn?«

»Anna.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen und kann mir kaum in die Augen sehen. »Sie ist Synchronsprecherin. Und natürlich würde ich sie nie hier hereinlassen.«

»Na, Hauptsache, sie lässt dich rein. Überhaupt, Synchronsprecherin? Das hört sich doch nach geilen Lippen an. Also, was hängst du hier herum, anstatt dir von dem Mädel den Schwanz lutschen zu lassen?«

»Lass den Scheiß, Tosh!«, krächzt Georg.

»Dann bedanke dich erst mal dafür, dass ich dich dazu gebracht habe, diese alberne Pilotenbrille gegen Kontaktlinsen zu tauschen. Schon klappts mit den Mädels.«

Georg ist fast zehn Jahre älter als ich, aber das ist doch kein Grund, nicht hin und wieder eine Frau abzuschleppen. Auch heute bin ich mir nicht sicher, ob er mir nicht einen Bären aufbindet, damit ich nicht frage, wann zum Teufel er das letzte Mal gevögelt hat. Klar, er ist ein Nerd, und er sieht auch so aus, aber seit er sich den Bart stehen lässt, wirkt er viel cooler. Die Narbe von der Hasenscharten-OP erkennt man auch kaum noch. War ebenfalls ein Rat von mir, der Bart.

Georg schätzt seine Privatsphäre und würde jedem anderen nach so einem Vorschlag wahrscheinlich einen Computervirus anhängen. Allerdings genieße ich ebenfalls eine gewisse Narrenfreiheit bei ihm. Wenn das Bewerbungsgespräch so aussah, dass der künftige Chef einem die Selbstmordabsichten ausredet, ist das eben kein normales Arbeitsverhältnis mehr.

Vielleicht sind wir im Laufe Zeit sogar so etwas wie Freunde geworden. Sicher kann ich das nicht sagen, ich habe keine Erfahrung mit Freunden. Und Georg auch nicht.

»Ich dachte, ich schau mir das noch mal genauer an mit den EU-Subventionen«, versucht der nun, das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken.

Ich winke ab. »Lass mal, ich muss den Deal eh erst mit Carlo besprechen, bevor wir loslegen. Aber ich könnte deine Hilfe in einer anderen Sache brauchen.«

»Dann kannst du dich ja jetzt bedanken, dass ich immer noch hier bin, anstatt mir den Schwanz lutschen zu lassen.«

Sieh an, Georg kann ja richtig frech werden. Anderseits ist mir gerade nicht nach weiteren Scherzen zumute. »Minnie ist weg«, sage ich düster.

»Wie, weg?« Georg guckt mich verblüfft an.

»Sie ist Wladimir abgehauen. Keine Ahnung, wie die Schlampe das geschafft hat. Und ihr Timing ist natürlich wieder einmal perfekt. Gerade heute konnte ich es echt nicht brauchen, dass diese blöde Nutte hier den Aufstand probt - das Treffen mit dem Gieseke stand an und es musste reibungslos über die Bühne gehen.«

»Soll das heißen, sie war hier, im Blue Parrot? Aber die Türsteher haben doch klare Anweisungen, was Minnie angeht?«

Ich frage mich, ob Georg sich heute vielleicht doch schon das Hirn rausgevögelt hat, so begriffsstutzig, wie er ist. »So schlau war die Bitch selber. Deswegen ist sie hintenrum rein.«

Es gab schließlich eine Zeit, da ist Minnie hier ein- und ausgegangen. Nicht alle unsere Besucher möchten beim Betreten des Blue Parrot gesehen werden. Weswegen sowohl ein diskreter Hintereingang als auch eine verborgene Kellertreppe existieren. Daran hatte sich ihr drogenumnebeltes Gehirn wohl noch erinnern können.

»Zum Glück ist sie direkt Hugo in die Arme gelaufen. Der sollte sie eigentlich hübsch verschnürt wieder an Wladimir übergeben und es dem überlassen, ihr Manieren beizubringen. Stattdessen haut sie Hugo ebenfalls ab und rennt im dichtesten Feierabendverkehr quer über den Mittleren Ring davon.«

Was man halt so macht, wenn sich das letzte bisschen Verstand längst verabschiedet hat.

»Jedenfalls dachte ich, du könntest mal nachsehen, ob die Bullen was über ein Unfallopfer oder eine Drogentote haben.«

Denn wenn sie den Sprint über die stark befahrene Straße überstanden hat, wird Minnie bald einen Schuss wollen. Und wenn da kein Wladimir ist, der aufpasst, was und wie viel sie sich spritzt, kann das schnell schiefgehen.

»Klar, das haben wir gleich«, sagt Georg zuversichtlich.

Seit Neuestem setzt er sich gar nicht mehr an einen Computer, sondern erledigt solche Anfragen mit seinem Tablet, auf dem er auch diesmal eifrig herumwischt und tippt, während seine Blicke über den kleinen Bildschirm huschen.

Solange Georg beschäftigt ist, denke ich an das letzte Mal, als Minnie Zicken gemacht hat. Da durften ein paar Jungs ihre versauten Fantasien an ihr ausleben. Dann war für eine Weile Ruhe, bis jetzt. Was muss ich mir eigentlich noch einfallen lassen, damit sie endlich spurt?

»In den Krankenhäusern ist sie nicht«, gibt Georg den Zwischenstand seiner Suche bekannt.

Ich nicke. Minnie sieht ziemlich auffällig aus und ist deshalb leicht aufzuspüren. Georg hämmert weiter auf sein Tablet ein, während ich gedankenverloren den breiten Silberring an meinem linken Zeigefinger drehe und mir vorstelle, was dieser in Minnies Gesicht anrichten würde.

»Sie ist bei der Polizei«, meldet sich Georg wieder.

»Wie bitte?«

Nicht, dass Minnie irgendetwas weiß, was mir oder dem Boss schaden könnte, aber gerade jetzt kann ich keine Bullen brauchen, die hier herumschnüffeln.

»In Polizeigewahrsam«, erklärt Georg. »Sie hat offenbar am Gärtnerplatz Theaterbesucher belästigt …«

Angeschnorrt, vermute ich.

»Die Beamten haben ihr einen Platzverweis erteilt. Als sie dem nicht nachkommen wollte, wurde sie in Gewahrsam genommen. Polizeistation 11. Ausweisen konnte sie sich nicht, allerdings hat sie ihren Namen genannt und die Beschreibung passt auch.«

»Sehr gut!« Ich klopfe Georg auf die Schulter, was ihn zusammenzucken lässt. »Jetzt aber raus hier und lass es dir von deiner Anna ordentlich besorgen!«

»Was?« Er sieht mich an, als spräche ich chinesisch. »Ach so, ja, klar, mach ich.«

Kopfschüttelnd verlasse ich den kühlen Raum, mein Handy bereits in der Hand. »Hugo? Minnie ist in Polizeigewahrsam, Altstadtrevier. Sieh zu, dass du sie da schleunigst rausholst, bevor sie anfängt, Unsinn zu reden. Nimm den Hinrich mit.«

Alexander Hinrich ist der Anwalt, der sowohl für Carlo als auch für mich tätig ist.

»Ich treffe mich später noch mit dem Boss. Steck sie so lange irgendwo in den Keller, und sperr in Gottes Namen die Tür ab!«

Ich warte nicht auf Hugos Antwort, sondern lege auf und mache mich auf die Suche nach Marco, damit der mich nachher zum Treffen mit Carlo fährt. Seit ich das Blue Parrot übernommen habe, finden die monatlichen Zusammenkünfte nicht mehr in dessen Hinterzimmern statt. Carlo schätzt es, wenn wir zu ihm kommen und nicht umgekehrt.

Natürlich könnte ich selber fahren, aber als Contabile des Bosses darf ich nicht den Eindruck erwecken, ich hielte mich für zu unbedeutend, um nicht mindestens einen Leibwächter zu benötigen.

Wenigstens kann ich die Fahrt dazu nutzen, um mit dem in Padolfi aufgewachsenen Marco an meinem Akzent zu feilen. Carlo zieht mich ständig damit auf, dass mein Italienisch immer noch so klingt, als spräche ich durch ein schepperndes Megafon. Seine wenig schmeichelhafte Art, mich hin und wieder daran zu erinnern, dass ich mich zwar um die Finanzen kümmern darf, aber nie ein vollwertiges Mitglied der Famiglia sein werde, da ich nicht in sie hineingeboren wurde.

Doch als ich eine Stunde später im Wagen sitze, kommt es nicht mehr zum Sprachunterricht, denn ein Anruf von Hugo lässt mich meinen mangelhaften Akzent sofort vergessen.

»Was soll das heißen, dir ist jemand bei Minnie zuvorgekommen? Willst du mich verarschen?«

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