Tyrells Rückkehr

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Tyrells Rückkehr
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Logan Kenison

TYRELLS RÜCKKEHR

Ein Spaceaction-Roman.

Plus Bonuserzählungen:

Öl vom Mars

Roberta

Das Buch

Sie sahen in ihm das ideale Opfer für ihre Intrige: Ein Spacer, der nach fünf Jahren im All auf die Erde zurückkehrte. Doch als sie ihn in der Falle hatten, mussten sie feststellen, dass ein Spacer nur kämpfend unterging.

Der Autor

Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spaceaction-Romanen. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.

Inhalt

Impressum

Tyrells Rückkehr (Roman)

Öl vom Mars

Roberta

Weitere Titel von Logan Kenison

Impressum

Copyright „Tyrells Rückkehr“

Originaltitel: „Ein Spacer kehrt zurück“

© 2008 by Frederick S. List

und Logan Kenison

„Öl vom Mars“

© 2019 by Logan Kenison

„Roberta“

© 2004 by Logan Kenison

Neuauflage 10/2021

Lektorat: Carola Lee-Altrichter

Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Autors.

Kontakt: logan.kenison@gmx.de

Coverart: »Green Light« by Jacob Charles Dietz © 2011

TYRELLS RÜCKKEHR

Ein Spaceaction-Roman

1.

Jack Tyrell riss die Biertube auf, schnippte den Verschluss in weitem Bogen über die Köpfe der Gäste hinweg und schrie: »Zum Wohl, Jungs!« Er saugte das Bier aus der Plastiktube und die dreißig oder vierzig Hafenarbeiter, denen er gerade eine Runde schmiss, taten dasselbe. Diese Arbeiter verbrachten hier in Ralstons Kneipe ihren Feierabend, während Tyrell einfach nur seine Rückkehr zur Erde feierte.

Viel zu lange hatte er in der Schwerelosigkeit geschuftet, kübelweise Schweiß vergossen, zahllose Stahlteile montiert, eine Million Schrauben versenkt und kilometerweise Schweißdraht verschmolzen. Die neue Raumstation bestand zu einem gewissen Prozentsatz auch aus seinem Schweiß.

In den arbeitsfreien Stunden hatte er sich einem harten Training unterwerfen müssen, damit seine Muskulatur sich in der Schwerelosigkeit nicht zurückbildete. Die Arbeit im Raumanzug an einer freischwebenden Station war nichts für Schwächlinge. Jack Tyrell hatte ganze fünf Jahre im Raum überstanden.

Vor elf Stunden war er im Raumhafen New Haven aus der Fähre gestiegen. Es tat gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren! Er war ziellos durch die naheliegende Stadt marschiert und hatte ihren Geruch eingesogen – den Duft blühender Bäume und Sträucher, der Gestank der Kloakenöffnungen, die Abgase von Schwebegleitern und Fabriken – ein Wohlgeruch verglichen mit dem sterilen Gemisch der Raumstation, das man gemeinhin Atemluft nannte.

In ein oder zwei Tagen würde er nach New York übersetzen und dort vielleicht zwei Wochen verbringen; er hatte die Silhouette die Stadt vom Ufer aus schon gesehen. Aber zuerst musste seine Ankunft noch gebührend gefeiert werden.

Er warf einen Blick auf die X-Card, die unter anderem auch seinen Kontostand aufzeigte, und lächelte zufrieden. Fünf Jahre, die sich vollauf gelohnt hatten! »Noch ’ne Runde für alle!«, brüllte er und reckte die Faust in die Höhe. Die Meute, die sich um ihn drängte, brach ein weiteres Mal in Jubel aus.

Ralston, der Barkeeper, warf die Biertuben dutzendweise in die Luft, und schwielenbesetzte Hände streckten sich gierig nach ihnen. Ein wüstes Gerangel entstand. Keine einzige Tube schaffte es bis zum Boden; jede einzelne fand ihren Besitzer und musste sich in das ihr angedachte Schicksal ergeben.

Sekunden später regnete es leere Biertuben, und ein Reinigungsrobo zwängte sich auf der Suche nach allem, was auch nur im Entferntesten nach Müll aussah, durch die Menge.

Da wurde die Tür aufgestoßen und vier Männer stürmten herein. Ihre Kleidung bestand aus blau-weiß-rot-gestreiften Nessal-Anzügen, Umhängen und Hüten – ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich in einem politischen Wahlkampf betätigten.

»Wählt John Dox!«, proklamierten sie und rasselten mit ihren Spendendosen. »John Dox zum Präsidenten!«

Der Wirt sprang wütend vor und trieb sie aus seiner Kneipe.

»Raus hier, ihr Schwachköpfe! Dies ist eine Craig-Bar!« Brummend kehrte er an den Tresen zurück. »Die haben mir gerade noch gefehlt.«

Tyrell ließ sich die gute Laune nicht trüben. Er stürmte an einen nahestehenden Tisch und warf sich auf einen Stuhl. Ein Hundertdollarschein fiel vor ihm auf die Tischplatte; er rammte seinen Ellbogen auf die Tischplatte und rief: »Wer tritt gegen mich an?«

Einer der Werftarbeiter glitt Tyrell gegenüber auf den Stuhl. Er legte seinen Hunderter auf Tyrells.

»Den Spaß lasse ich mir nicht entgehen!«, rief er.

Blanke Arme glänzten im Licht, Hände klatschten aufeinander. Der Wettkampf begann. Sie drückten, die Arme erzitterten, doch sonst war nichts zu bemerken. Keiner der Kontrahenten verzog auch nur seine Miene.

Nach kurzer Zeit allerdings standen Schweißperlen auf der Stirn des Werftarbeiters. Sein Lächeln wirkte versteinert, und bald war es völlig verschwunden.

Dann ging alles blitzschnell.

Der Werftarbeiter musste mit zusammengekniffenem Mund erleben, wie Jack Tyrell ihm den Arm auf die Tischplatte schmetterte. Mit einem Krachen schlug sein Handrücken auf die Styroplastit-Oberfläche.

Die Menge jubelte auf, und der besiegte Werftarbeiter erhob sich mit hochrotem Kopf, rieb sich den Arm. Seine Jungs wagten es nicht, ihn auszulachen, denn er war einer ihrer Vorarbeiter, und viele Male hatte er sie schon im Armdrücken besiegt. Dennoch entdeckte Tyrell auf den Lippen eines manchen Arbeiters ein spöttisches Lächeln.

Jack steckte einen der beiden Hunderter ein, den anderen ließ er liegen.

»Noch jemand?«, rief er.

»Tusker! Tusker! Tusker!«, schrien die Werftarbeiter.

Nicht, dass sie Tyrell besiegt sehen wollten, sie wollten nur das bestmögliche Schauspiel geboten bekommen. Nachdem er ihnen zur Feier seiner Rückkehr zur Erde eine Runde nach der anderen geschmissen hatte, gab es im Raum wohl niemanden, der Tyrell nicht gut leiden konnte – auf die herbe Art, wie Arbeiter einander zugetan waren.

Vom Chor umjubelt drängte sich – knurrend wie ein Tiger – ein Riese durch die Menge: ein glatzköpfiger Bursche, bestimmt einen Kopf größer als Tyrell und mindestens doppelt so breit! Er nahm dem Herausforderer gegenüber Platz, ein Hunderter flog auf den anderen, eine narbige Hand schloss sich um die Tyrells. Tyrell glaubte, ein Schraubstock schlösse sich um seine Finger.

Langsam legte er Druck in seinen Arm, der mühelos erwidert wurde. Dieser Tusker war wahrhaft ein Gegner für ihn! Tyrell verstärkte den Druck, Muskeln spannten sich, der Bizeps begann sich bedrohlich zu wölben. Als Antwort lachte ihm Tusker nur laut ins Gesicht. Tyrell sah auf faulige Zahnstummel, stinkender Bieratem wehte ihm entgegen.

Tyrell lachte zurück, doch es klang leicht gepresst.

»Tusker! Tusker!«, schrien die Werftarbeiter.

Sie drückten eine geschlagene Minute, ohne dass ihre ineinander gekrampften Hände sich auch nur um einen Millimeter bewegten. Inzwischen standen Tyrell die Schweißperlen auf der Stirn, wie zuvor dem Vorarbeiter. Doch auch an Tusker ging die Anstrengung nicht spurlos vorüber. Die Unterlippe des Riesen zitterte, Speichel troff von ihr, und seine Glatze glänzte im Licht der Deckenstrahler.

So saßen sie eine weitere Minute, und noch eine, und noch eine. Die Werftarbeiter waren längst verstummt und starrten gebannt auf den stummen Zweikampf. Keiner der beiden Kontrahenten erweckte den Anschein, dass er dem anderen unterliegen würde. Doch ebenfalls wirkte keiner von ihnen wie ein künftiger Sieger.

Da begannen ihre Arme zu zittern. Beide Männer durchlief ein Beben, beide gleichzeitig, und beide in gleicher Stärke. Als wenn der eine den anderen ansteckte. Doch dann ebbte das Beben wieder ab, und sie saßen sich gegenüber wie zuvor, mit verbissenen Gesichtern, reglos wie Statuen.

Irgendwann presste Tyrell hervor: »Ich habe einen Krampf im Arm.«

In den Augen des Riesen leuchtete es auf. Man sah, dass er seine Anstrengung verstärkte; Tyrells Arm gab um einen Zentimeter nach. Aber da ging es plötzlich nicht mehr weiter. Tusker schaffte es nicht, Tyrells Arm weiter zu bewegen.

Dann heulte der Riese plötzlich auf.

Tyrell lächelte gequält. »Das sind Schmerzen, nicht wahr?«

Tusker nickte widerwillig. Ein Strom von Schweiß lief ihm von der Stirn auf die Nasenwurzel, auf den Nasenrücken, und tropfte von der Nasenspitze auf die Tischplatte.

»Gibst du auf?«

»Nöö!«, brummte der Riese.

»Ich auch nicht«, sagte Tyrell, um Gleichmut bemüht.

Sie verharrten eine weitere Minute.

»Sollen wir aufhören?«, fragte Tyrell.

Der Riese nickte, und Tyrell nahm vorsichtig Druck aus seinem Arm. Als er spürte, dass der Riese ebenfalls zurücknahm, löste er die Anspannung völlig. Tusker war kein Schweinehund, der die Situation ausgenützt hätte. Er sah Jack offen in die Augen und ihre Hände lösten sich voneinander.

 

Sie blieben einen Moment in der Stellung, wie sie viele Minuten lang gedrückt und sich verkrampft hatten. Tyrell bog mit der Linken die Finger seiner rechten Hand gerade.

Der Riese nickte anerkennend. »Du bist ein Bursche nach meinem Geschmack«, sagte er mit tiefer Stimme.

»Du bist auch nicht ohne, du Riese!«, erwiderte Tyrell und schob Tusker die zwei Hunderter zu. »Da, nimm!«

Tusker sah auf die Scheine, doch er zögerte.

»Nimm ruhig, du kannst sie gebrauchen. Ich habe genug davon.«

Sie standen auf und schüttelten sich die Hände. Es gab keinen Sieger, sie waren sich ebenbürtig. Und trotz dieses Ausgangs fühlte sich keiner der Zuschauer des Wettkampfes um eine Attraktion betrogen, denn dass jemand Tusker widerstanden hatte, war an sich schon eine Sensation.

»Ich glaube, es ist Zeit für ein weiteres Bier!«, schrie Tyrell.

Die Männer johlten.

Tyrell trat an den Tresen, massierte seinen Bizeps und beäugte seinen Nachbarn, einen jungen Burschen, der noch alle Finger besaß und nicht die üblichen Kratzer und Narben an Händen, Unterarmen und im Gesicht aufwies. Nach ein paar Jahren in den Docks würde auch er aussehen wie die anderen. Diese Arbeit ging nicht spurlos an einem vorüber.

Der Bursche strich sich das lange, glatte Blondhaar aus dem Gesicht und lachte Tyrell an. Er warf Tyrell eine Biertube zu, nickte, und zog eine weitere aus seiner Jackentasche, die er selbst öffnete. Es war der Abend des Feierns und Wettsaufens, und wer nicht mithalten konnte, blieb besser Zuhause.

Während Tyrell den Verschluss abriss und die Tube zum Mund führte, lachte der Bursche.

Als Tyrell trank, lachte der Bursche.

Er besaß eine breite Nase, aber schmale Lippen. Lippen, wie Messerschnitte. Mit ihnen lachte der Bursche.

2.

Etwas schrecklich Hartes drückte Tyrell gegen die rechte Wange, drückte auf seinen Unterkiefer und auf seine rechte Zahnreihe. Es war so unangenehm, dass Tyrell seinen Kopf rasch abwenden wollte, doch er schaffte es nicht, ihn überhaupt zu bewegen.

Die Kälte saß in seinem Genick wie ein aufgeschraubter, unverrückbarer Eisblock.

Und er spürte Nässe, die wie Pisse stank.

Tyrell blinzelte, schlug die Augen auf. In der Dunkelheit fand er sich nicht zurecht. Nur eine Winzigkeit Licht fiel von der Laterne heran, die über fünfzig Meter entfernt stand und eigentlich einen anderen Straßenzug beleuchtete. In dieser minimalen Beleuchtung glaubte er zu erkennen, dass er auf steinigem Boden lag. Er wollte fortgehen, doch er bekam keine Kontrolle über seine Beine. Er versuchte sich wegzudrücken, doch er schaffte es nicht, die Arme zu heben.

Die Schwerkraft trieb ihr Spiel mit ihm. Übelkeit tobte in seinem Innern und fraß sich durch seinen Leib. Als er sich erbrach, blieb der Auswurf halb in seinem Mund hängen. Er öffnete den Mund weit und schob die Brocken mit der Zunge hinaus. Er hustete.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange er so dalag … so dagelegen hatte. Als er es endlich schaffte, seine Hände zu heben, spürte er eine klebrige Masse an ihnen. Er hielt die Finger ins diffuse Licht und sah nur ihre schwarzen Silhouetten.

Über eine Viertelstunde brauchte er, bis er seinen Oberkörper in eine aufrechte Position geschoben und gedrückt hatte, und es schien ihm eine ebenso lange Zeit zu verstreichen, bevor er seine Nackenmuskeln kontrollieren und den Kopf drehen konnte.

Unendlich langsam nahm er das Bild auf, das sich ihm bot, während hinter seiner Stirn ein irrsinniger Schmerz pochte und auf seine Augen drückte, und er heilfroh war, dass es beinahe stockdunkel war.

Etwas längliches, rundes lag ein, zwei Meter neben ihm, zu weit weg, als dass er es ertasten konnte, und doch nahe genug, um sein Interesse zu wecken. Doch in der Dunkelheit war es schwer, etwas auszumachen, und andere Fragen drängten sich in den Vordergrund.

Wie, zum Teufel, war er hier her gekommen? Woran erinnerte er sich überhaupt? Die zahllosen Runden, die er in Ralston’s Bar schmiss. Die Kerle, die sich bei ihm eingehakt, mit ihm gesungen, gegrölt, gebrüllt hatten. Gerechter Strohsack, hatte er so über die Stränge geschlagen? Nach fünf Jahren sein erster Abend auf der Erde, und er erwachte nicht etwa in einem weichen Bett mit einer Frau im Arm, sondern frierend auf einem eisigen Straßenpflaster!

Die Erkenntnis entlockte ihm einen Fluch, der von einer Welle heftigen Schmerzes begleitet wurde. Er sandte gleich einen zweiten Fluch hinterher und merkte mit Genugtuung, dass die Schmerzwelle diesmal weniger stark ausfiel. Sein Körper begann anscheinend wieder in Wallung zu geraten, das Blut zu zirkulieren, die Steifheit zu weichen.

Er tastete nach seiner Gesäßtasche und erschrak, als er den länglichen Umriss seiner X-Card nicht spürte. War er in eine Nebenstraße gezerrt, überfallen und ausgeraubt worden? Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Doch so sehr er sich auch anstrengte, es war nichts zu machen.

Ächzend kämpfte er sich auf die Knie, dann auf die Beine. Er dehnte seinen schmerzdurchfluteten Körper und stöhnte. Doch er spürte, wie ihm das Dehnen guttat.

Er versuchte, den Boden nach seiner X-Card abzusuchen, doch das war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es war einfach viel zu dunkel.

Der längliche Gegenstand fiel ihm ein … er trat neben ihn und ging in die Hocke. Tyrell hatte immer noch leichte Kopfschmerzen, als er sich über das längliche Paket beugte und es abtastete. Seine Hände versanken in Stoff, und er spürte Weichheit und noch eine gewisse Wärme.

Ein Sekunde später jagte ein eisiger Schauer über seinen Rücken, und jedes einzelne Härchen an ihm stellte sich auf. Ihm wurde schlagartig klar, was da lag.

Der Körper eines Menschen!

Oder besser gesagt: Der tote Körper eines Menschen.

3.

Er hatte jetzt eine ganze Wagenladung Probleme am Hals, und Tyrell schien der Gedanke, dass ihm jemand eine Falle gestellt hatte, überhaupt nicht mehr abwegig. Als er darüber nachdachte, was eigentlich los war, kam er nicht umhin, demjenigen, der ihm das angetan hatte, Achtung zu zollen.

Der blonde Bursche in Ralstons Bar – er hatte ihm natürlich K.O.-Tropfen untergejubelt. Dann hatte man ihn hierhergeschafft, hatte das eigentliche Verbrechen, nämlich den Mord, begangen, und ihn mit dem Blut des Opfers besudelt. Anschließend nahm man seine X-Card und … ja, was? Drückte sie dem Opfer in die Hand? Damit er, selbst wenn er noch vor dem Eintreffen der Polizei fliehen konnte, als Verdächtiger Nummer Eins galt?

So oder ähnlich musste es gewesen sein. Denn die andere Variante – die schrecklichere – war völlig inakzeptabel. Die andere Variante nämlich würde besagen, dass nicht ein obskurer Täter, sondern er diese Person getötet hatte.

Tyrell hatte schon etliche Male beim Kartenspiel betrogen. Er hatte sogar schon einmal versucht, Wettausgänge zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Miniaturkriminalität. Betrug auf Dollar- und Cent-Niveau. Aber einen Mord? Himmel, so gut kannte er sich selbst, dass er niemals einen Mord begehen würde!

Er rieb sich die Augen und versuchte fieberhaft, eine Lösung für das Dilemma zu finden. Für einen Moment schoben sich wieder die Schmerzen in sein Bewusstsein, doch sie mussten verdrängt werden.

Welche Optionen standen überhaupt zur Disposition?

Die Polizei rufen. – Doch würden sie ihm auch nur ein Wort glauben?

Die Dunkelheit war Freund und Feind zugleich. Noch verbarg sie ihn vor neugierigen Blicken. Andererseits verhinderte sie, dass er seine X-Card suchte und vielleicht fand. Andererseits könnten die Täter sie auch mitgenommen haben. Vielleicht waren sie scharf auf die Millionen, die auf seinem Konto nur darauf wartete, abgerufen und verpulvert zu werden. Ja, vielleicht war der Tote sogar einer der Räuber, den er angegriffen und überwältigt hatte, als man ihn überfiel.

Wenn er sich nur an mehr Details erinnern könnte!

Doch seit diesem letzten Bier in der Bar klaffte in seinem Gedächtnis ein schwarzes Loch.

Er könnte zurück zu Bill Ralston gehen und ihn fragen, was geschehen war, nachdem er das Bier des blonden Burschen getrunken hatte. Der Barkeeper würde sich sicher an ihn erinnern, schließlich war er der spendabelste Gast an diesem Abend gewesen. Doch wenn er dort so auftauchte, blutverschmiert und mit zerfetzter Kleidung, wäre an eine normale Befragung sicher nicht zu denken.

Tyrell wunderte sich, wie analytisch er seine Situation durchdachte … durchdenken konnte. Vielleicht kamen ihm jetzt die vergangenen Jahre konzentrierten Arbeitens zugute.

Einerlei – er steckte in Schwierigkeiten und musste etwas riskieren!

Er versuchte, sich zu orientieren. Wo lag diese verdammte Kneipe?

Er torkelte bis zur Hauptstraße vor, folgte dann dem ausgeleuchteten Weg, wobei er darauf achtete, nicht im vollen Licht zu gehen. Er drängte sich an den Fassaden entlang, vorwärts, schattige Stellen suchend.

Doch diesmal war ihm das Glück hold – er begegnete niemandem. Kein Wunder, denn als er an einer öffentlichen Uhr vorbei kam, las er die Zeit ab: kurz nach halb fünf Uhr morgens. Noch etwa eineinhalb Stunden bis zum Sonnenaufgang.

Die Bar lag verlassen in einer schmalen Seitenstraße, in der sich zahlreiche Häuser dicht aneinander drängten. Sämtliche Lichter waren gelöscht, die Türen verschlossen, alle Fenster fest verriegelt. Tyrell verschwendete keine Energie auf Fluchen. Er überlegte fieberhaft, wie er hineinkommen könnte.

Er entschied sich für den einfachsten Weg.

Er trat an die Hintertür und klingelte Sturm.

Als jemand schlaftrunken die Tür einen Spaltbreit öffnete, fackelte er nicht lange. Er trat mit voller Wucht gegen das Türblatt. Er hörte ein Poltern und einen unterdrückten Fluch, und schon drängte Tyrell in den engen Flur hinein.

Ein dumpfes Stöhnen erscholl. Tyrell schlug die Tür hinter sich zu und tastete nach einem Schalter. Als das Licht den Raum durchflutete, kniff er schmerzerfüllt die Augen zusammen.

»Du verdammter …« Der Wirt sah die Blutflecke auf Tyrells Kleidung und verstummte auf der Stelle. Er wurde weiß wie eine getünchte Wand. Tyrell hatte nicht die geringste Ahnung, wie er aussah, aber als er nun im Licht des Flurs an sich hinabblickte, erschrak er ebenso. Er sah aus, als hätte er eine Schlachtorgie gefeiert.

»Was immer du denkst«, presste er hervor, »ich war’s nicht!«

»Woher willst du wissen, was ich denke, he?«, stieß Bill Ralston hervor. Sein Unterkiefer mahlte, seine Stirn, gegen die das Türblatt geprallt war, hatte sich in ein glühendes Rot verfärbt. Die Haut begann sich über einer entstehenden Beule zu spannen.

»Weil du bist, wie alle sind. Ihr seht nur meinen Kopf, aber nicht meine Gedanken. Ihr seht nur das Äußere – und das ist im Moment blutbefleckt. Aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wie es dazu gekommen ist, Ralston. Zum Henker, ich bin ein paar Straßen weiter aufgewacht, da lag sie neben mir, die verdammte Leiche!«

»L-L-Leiche? Du h-hast …«

»He, ich sag’ doch: Ich war’s nicht. Kapiert? Jemand hat mich reingeritten! Der Blondschopf, der neben mir an der Bar gestanden hat, bot mir ein Bier an, das er aus seiner Jacke zog. Ich vermute, da waren Drogen oder so’n Zeug drin. Wegen dem Blondling bin ich hier. Kennst du ihn, Ralston? Kannst du mir sagen, wer das war?«

Der Wirt schwieg.

»Hab keine Zeit für Spielchen«, knurrte Tyrell und ballte die Hände.

Ralstons Augen ruhten auf der drohend über ihm schwebenden Faust. Er wiegte seinen Kopf. »Weiß nicht, Mister. Es könnte Paul gewesen sein. Paul Sheban vielleicht.«

»Beschreib’ mir den Kerl.«

»Mitte zwanzig, langes, glattes, blondes Haar, schmale Lippen und Augen wie der Uranus. Hat für sein Alter ziemlich viel Falten in seinem flachen Gesicht.«

»Keine Narben an den Händen, und alle Finger sind noch dran?«

»Genau, Mister.«

»Kommt das daher, dass er vielleicht gar nicht auf den Docks arbeitet?«

»Der? Der hat nie auch nur einen Finger krumm gemacht.«

Tyrell nickte. So etwas Ähnliches dachte er sich schon seit einiger Zeit. Doch der Bursche war adrett gekleidet gewesen, und er hatte eine Goldkette mit einem Sternauge um den Hals getragen.

»Reiche Familie?«

»Nicht unbedingt«, räumte Ralston ein. »Ich hab, ehrlich gesagt, keinen blassen Schimmer, womit der Bursche sein Geld verdient. ’S werden wohl irgendwelche krummen Dinger sein, denn von ehrlicher Arbeit scheint er nicht viel zu halten.«

 

Ralston verstummte.

»Wo kann ich ihn finden?«

Ralston nannte eine Adresse, die Tyrell sich gut einprägte.

»Was ist mit mir passiert, nachdem ich sein Bier getrunken hatte?«

»Na, was wohl? Du bist umgekippt, Mann. Wir dachten, du hättest genug, und ein paar von den Jungs schleiften dich hinaus. Was danach geschah« – er zuckte mit den Achseln – »keine Ahnung.«

»Eins noch. Hast du eine Taschenlampe für mich?«

»Eine Taschenlampe?« Auf Ralstons Stirn bildeten sich Falten.

»Eine Taschenlampe«, wiederholte Tyrell. »Ich muss zu der Leiche zurück und sie untersuchen, bevor sie gefunden wird. Vielleicht kann ich herausfinden, wie die Täter vorgegangen sind.«

Der Wirt erhob sich, trat in den Schankraum und kramte in einer Schublade herum. Als er sich Tyrell wieder zuwandte, hielt er eine Taschenlampe in der Hand. »Hier. Brauchst sie mir auch nicht wiederzubringen.«

»Danke.«

»Und keine Angst, ich werde die Polizei nicht benachrichtigen.«

»Davor habe ich keine Angst, Ralston. Ich werde dich jetzt fesseln, dann habe ich genug Zeit für meine Nachforschungen. Bis die Polizei kommt, bin ich längst weg.«

Der Wirt hob die Schultern. Dann seufzte er und ergab sich in sein Schicksal.

4.

Als Tyrell die Straße mit der Leiche erreichte, war gerade ein Räumrobo mit Säuberungsarbeiten beschäftigt. Er schnurrte am Randstein entlang und seine Borsten rauschten über die Ecken und Winkel und Flächen und Kanten. Ein kleiner Scheinwerfer leuchtete den Weg etwa eine Schrittlänge vor ihm aus. Es fehlte nicht mehr viel, und er erreichte die Leiche.

Tyrell sprang herzu und hämmerte dem Robo auf die Rückwand.

Unbeirrbar setzte der Robo seinen Weg fort. Er erreichte jeden Moment die Beine der Leiche, seine Borsten fegten bereits über blutbefleckte Bodenplatten.

Tyrell stemmte sich seitlich gegen den Robo. Eine kurze Kraftanstrengung, und die Maschine fiel um. Scheppernd schlug das Gehäuse zu Boden. Die Rollen, die sie nicht mehr vorwärtstrieben, bewegten sich rasselnd weiter, und auch die Reinigungsborsten drehten sich noch sinnlos in der Luft. Der Scheinwerfer warf genügend Licht auf die Leiche, damit Tyrell sie untersuchen konnte.

Im gelben Schein sah Tyrell, dass es sich bei dem verdreht daliegenden Leichnam um eine junge Frau handelte, vielleicht zwanzig Jahre alt. Sie trug ein gelbes Kleid mit schwarzem Spitzenbesatz, wahrscheinlich Importware aus Paris. Zwei hochhackige gelbe Schuhe, in denen sie den Abend verbracht haben mochte, lagen in Fußnähe; jetzt war sie barfuß. Ihr Füße waren wunderschön, stellte Tyrell fest. Schöne Füße, und am anderen Ende ein hübsches, totes Gesicht.

Die Nase besaß einen leichten Aufwärtsschwung, die Lippen glänzten sinnlich, golden und voll. Das eine Auge stand halb offen, das andere war geschlossen. Die Farbe ihrer Iris war fast schwarz, ebenso wie ihr langes, wallendes Haar. Der Körper – zumindest das, was Tyrell von ihm zu sehen bekam – war feminin und makellos.

Mit einem Lasermesser waren ihr mehrere tiefe Schnitte in der Brust zugefügt worden. Blut war aus den Wunden gedrungen und hatte dem Kleid große, hässliche Flecke zugefügt.

Das Messer lag etwas abseits, gerade dort, wo der Lichtschein des Robos endete und der Schatten der Nacht anfing. Das Messer besaß im Moment keine Klinge; das grüne Blinklicht, das normalerweise Betriebsbereitschaft signalisierte, war inaktiv. Ein Modell CX-3, dessen Batterie offensichtlich erschöpft war. Tyrell war sich sicher, dass seine Fingerabdrücke sowieso auf dem Messer zu finden waren, also nahm er es vorsichtig an sich und steckte es ein. Es ging ihm nicht darum, Spuren zu verwischen. Es ging ihm darum, den Leuten auf die Spur zu kommen, die ihn reingelegt hatten, und dazu konnte das Messer vielleicht später beitragen.

Er nahm die Taschenlampe und leuchtete der Toten direkt ins Gesicht. Der Lichtkegel fiel auf erstarrte Züge. Es war ein Gesicht, das er schon einmal irgendwo gesehen hatte. Und im lebendigen Zustand. Verdammt, wo nur?

Ein Partyluder? Eine gewerbliche Hure?

Ihr Kleid wirkte ziemlich teuer. Zumindest war sie keine billige Hure.

Was sollte er nun tun?

Seine einzigen Anhaltspunkte waren das Lasermesser und dieser Paul Sheban. Gottlob kannte er nun dessen Adresse. Er würde ihm einen Besuch abstatten.

Tyrell trat von der Leiche zurück, die vom Scheinwerfer des umgekippten Reinigungsrobos angestrahlt dalag.

Was für eine Verschwendung!, dachte er. So ein junges, hübsches Leben!

Mit diesem Gedanken verließ er den Tatort. Mit langen Schritten eilte er durch die nächtlichen Straßen.

5.

Bei der Adresse, die Ralston ihm angegeben hatte, handelte es sich um ein alleinstehendes Haus, das von einer hohen Mauer umgeben war. Von einer Anhöhe in der Nähe sah Tyrell in den Hof hinein und auf das Gebäude. Yeah, dieser Bursche arbeitete gewiss nicht auf den Docks. Tyrell hoffte nur, dass der Wirt ihn nicht angelogen hatte, was die Adresse und den Namen des Blonden betraf. Er trat an das Eingangstor, und mit der Taschenlampe leuchtete er auf das Namensschild.

Jede Menge Sheban las er: P. Sheban, E. Sheban und V. Sheban.

Es machte keinen Sinn, bei P. Sheban zu klingeln. Der Bursche würde durch das Videoskop sehen, erkennen, wer am Eingang auf ihn wartete, einen Schreck bekommen, seinen Auftraggeber anrufen und Tyrell ein paar Schlägertypen auf den Hals hetzen. Aber eines würde er mit Sicherheit nicht tun: Brav das Tor öffnen.

Tyrell lief die Mauer entlang, umrundete fast das gesamte Grundstück, bis er eine altehrwürdige Rosskastanie entdeckte, die nahe genug stand, um von ihren Ästen auf die Mauer zu gelangen. Er zögerte keine Sekunde, sondern schwang sich auf den untersten Ast. Er turne mehrere Meter in die Höhe, bis er die Oberseite der Mauer vor Augen hatte.

Der Sprung von dem starken Ast auf die Mauer war ein kritischer Moment. Nahm er zu viel Schwung, fiel er auf der anderen Seite hinunter wie ein nasser Sack. Nahm er zu wenig, geschähe dasselbe auf der Außenseite der Mauer. Er taxierte die Entfernung genau, dann sprang er.

Mit rudernden Armen gelang es ihm, die Balance auf der Mauer zu erlangen. Nachdem er sich beruhigt hatte, sah er auf den Hof hinab. Allem Anschein nach gab es hier keine Hunde und keine Selbstschuss-Anlagen.

Ein Glück!

Drei schmale Fensterbahnen waren von innen beleuchtet. Tyrell entdeckte zwei stehende Personen, die sich stritten. Einer von ihnen – war jener Paul Sheban. Der Bursche war ziemlich blass um die Nase, und seine Gesten waren fahrig. Sein Gesprächspartner, ein großer, breiter Mann in einem langen, schwarzen Mantel mit einem zerknautschten Hut, machte einen eisigen Eindruck. Er gestikulierte nicht, sondern sprach, ohne dass sich sein Körper bewegte. Er redete pausenlos auf Sheban ein, ohne auf dessen Einwände einzugehen – diesen Eindruck hatte jedenfalls Tyrell.

Hatte Sheban Gewissensbisse bekommen? Hatte man ihn ebenso hereingelegt wie Tyrell? Tja, dachte Tyrell ohne Mitleid, denn der Mann hatte ihm schließlich Drogen untergeschoben, man sollte sich seine Geschäftspartner eben genau ansehen.

Wie konnte er dort hineingelangen?

Er glitt auf der Mauerinnenseite in den Hof und lief zur Eingangstür, wo die Namensschilder leuchteten. Die Tür war massiv und kaum zu knacken. An einer der Fassaden war ein dünnes Metallgitter befestigt, an dem sich eine gelb-violette Juniper-Züchtung hochschlängelte. Tyrell hoffte, dass das Gitter gut genug befestigt war, um ihn zu tragen.

Er stieg auf das Gitter, machte sich innerlich jedoch auf einen Sturz gefasst. Als er mit seinem ganzen Körpergewicht an dem Gitter hing, geschah – nichts. Erleichtert erklomm er eine weitere Strebe. Das Gitter hielt immer noch. So gelangte er Schritt für Schritt höher. Schließlich sah er rechter Hand über den Rand eines Balkons. Er schob sich nach rechts, bis er mit der einen Hand bereits die Brüstung greifen konnte. Dann löste er sich auch mit der anderen vom Juniper-Gitter und zog sich über die Brüstung.

Ächzend stand er auf dem Balkon und äugte über den Raumteiler auf die andere Seite, wo sich die beleuchteten Fenster befanden. Er schwang sich noch einmal auf die Außenseite der Brüstung und hangelte sich auf den Nachbarbalkon hinüber. Nun duckte er sich tief und spähte nur über den unteren Fensterrand in das beleuchtete Zimmer.

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