KHAOS

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Khaos
Touching Soul
Lin Rina

Copyright © 2018 by


Astrid Behrendt

Rheinstraße 60

51371 Leverkusen

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Illustrationen: Lin Rina

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-420-8

Alle Rechte vorbehalten

Having a soft heart

in a cruel world

is courage,

not weakness.

Katherine Henson

Inhalt

1. Seelen

2. Keine Liebe

3. Blut

4. 40 ml

5. Ideenreichtum

6. Gefühle

7. Erwachen

8. Pläne

9. Täuschungen

10. Herzschlag

11. Neunzehn Kapseln

12. In der Falle

13. Das Spiel beginnt

14. Machtverhältnisse

15. Müdigkeit

16. Einschätzungen

17. Übernahme

18. Ängste

19. Lesen und Schreiben

20. Durchsetzungsvermögen

21. Entblößt

22. Veränderung

23. Nähe

24. Gespräche

25. Gedanken

26. Einsicht

27. Konsequenz

28. Nefrot

29. Erpressung

30. Freundlichkeit

31. Schwarzes Wasser

32. Funken

33. Beben

34. Sender

35. Endgültig

36. Morpheus

37. Fehlende Teile

38. Unendlichkeit

39. Verletzte Seele

40. Exit

Danke

Bücher von Lin Rina

1


Seelen

Gerade hatte ich mich in meinen Schlafplatz verkrochen, als ich es plötzlich wie ein dumpfes Pochen in meinem Hinterkopf spürte. Nur dass mir diesmal keine Kopfschmerzen bevorstanden, sondern Schmerzen ganz anderer Art.

In Windeseile schnappte ich mir meine Tasche und kletterte aus dem winzigen Loch in der halb zerfallenen Wand, durch das immer nur ich gepasst und das mir schon so oft Schutz geboten hatte.

Der kleine Hohlraum im Schutt, der eigentlich nur der Überrest eines zerfallenen Nebenzimmers war, stellte so etwas wie meinen Wohnort dar, mein Zimmerchen, mein Bett.

Meine Zuflucht.

Hier drin hatten sie mich nicht erreichen können, weder mit ihren großen, starken Armen noch mit ihren Waffen. Hier drin versteckte ich mich und schlief, ohne die Angst, bestohlen oder gepackt zu werden.

Doch heute war der Tag gekommen, an dem dieses Loch nicht mehr ausreichte.

Der Grund dafür war Krung, eine Abart von einem Schakalianer, eine humanoide Spezies vom Rande der bekannten Welten. Sagte man mir zumindest. Er war groß und protzig, ungehobelt und bösartig. Und zu meinem Glück viel zu dumm für seine Rasse.

Ich eilte durch den großen Raum der Krankenstation, die meinen Arbeitsbereich darstellte, und horchte einen winzigen Moment in mich hinein, um festzustellen, wie viel Zeit ich noch hatte und ob ich noch mehr einpacken konnte.

Doch Krungs Wut, die wie Nadeln in meinen Hinterkopf stach, brodelte wie ein Vulkan und näherte sich mir mit riesigen Schritten.

Keine Zeit!

Ich zog mir den Träger meiner Tasche über den Kopf und rannte zur Tür. Ich musste raus und den Gang hinunter, bevor Krung am anderen Ende um die Ecke fegte.

Ich hatte keine Ahnung, was ihn jetzt wieder so in Rage versetzt hatte. Aber eigentlich war es egal, denn den größten Frust hatte er sowieso meinetwegen und so würde er seinen Ärger auch an mir auslassen wollen.

Ich war auch selbst schuld, hätte besser aufpassen müssen.

Dabei tat ich schon alles dafür, den Schein zu wahren. Ich trug meine Locken kurz und zottelig, zog mir extra weite Sachen an und bemühte mich um eine burschikose Haltung. Alles, damit man mich immer noch als Kind sah und nicht als Frau.

Leider hatte ich mich in den letzten vier Jahren unweigerlich verändert, dabei war ich noch ziemlich spät dran. Meine schmale, schlaksige Gestalt hatte sich gewandelt, war kurviger geworden, und auch mein Gesicht wurde von Tag zu Tag erwachsener, jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel blickte.

Ich hatte Angst davor. Ich wusste, wie Frauen behandelt wurden. Das hier war ein Gefängnisplanet.

Obwohl alle Offiziellen bereits niedergemetzelt worden waren und der Rest der vereinigten Systeme uns wahrscheinlich vergessen hatte, waren wir hier ohne ein Raumschiff immer noch gefangen.

Und die aktuelle Bevölkerung dieses Planeten bestand ausschließlich aus Schwerverbrechern und ihrer verderbten Nachkommenschaft.

Frauen waren spärliches Gut und man konnte sich vorstellen, was mit einem passierte, wenn man mit einem Haufen einsamer, unmoralischer und gewaltbereiter Männer zusammenlebte, unter denen nur das Gesetz des Stärkeren regierte.

Ich atmete schwer, als ich durch die Tür hechtete und auf schlitternden Sohlen am Ende des Flures um die Ecke rannte.

Zu meinem Glück waren mir derartige Übergriffe bisher erspart geblieben, und ich hatte so etwas auch noch nicht mit ansehen müssen.

Doch ganz konnte ich meine Gedanken nie davon lösen, da ich selbst das Produkt einer dieser abstoßenden Handlungsweise war.

Meine Mutter hatte es mich allerdings nie spüren lassen. Sie war liebevoll und geduldig gewesen und hatte mir immer wieder gesagt, dass ich das Einzige wäre, das ihr Leben lebenswert gemacht hatte.

Sie hatte mich viel zu schnell verlassen.

Ich packte die Leiter an den Seiten und rutschte daran hinunter. Die Sprossen einzeln zu nehmen, hätte zu viel Zeit gekostet.

Eilig rannte ich weiter nach unten, immer die abschüssigen Wege entlang, und kam nach einer schieren Unendlichkeit an dem Spalt an, durch den ich mich in den unteren Teil der zerfallenen Station zwängte.

Mein Herz raste, meine Lunge brannte entsetzlich und mir schmerzte jeder einzelne Muskel so sehr, dass ich fürchtete zusammenzubrechen.

Ich krabbelte durch das Geröll, spürte, wie sich die scharfen Kanten in meine Handflächen drückten, rutschte mit der Hand weg und fiel das letzte Stück in den sich dahinter befindenen Gang.

Sicherheit. Zitternd blieb ich liegen und schloss für einen Moment die Augen.

Krung hatte mich in den Waschräumen gesehen.

Für gewöhnlich duschte ich nur nachts, wenn alle schliefen und die abgestellte Patrouille draußen unterwegs war, um nach verfeindeten Clanmitgliedern Ausschau zu halten. Dann, wenn mich niemand dabei beobachten konnte, wie ich meine Kleider ablegte, den Quetschverband von meinen Brüsten wickelte und den erdwarmen Wasserstrahl auf meiner Haut genoss.

Doch an jenem Tag hatte ich operiert. Alex war auf Patrouille von einer Veko-Spinne angegriffen worden und sein Bein hatte so stark geblutet, dass er mir beinahe weggestorben wäre. Ich war von oben bis unten mit dem Blut eines anderen beschmiert gewesen. Meine Haare hatten mir verkrustet vom Kopf abgestanden und in jeder Hautfalte hatte es begonnen zu jucken. Die Vorsicht war mir egal gewesen, da der Ekel alles überschattet hatte.

 

Jetzt bereute ich es. Denn Krung hatte mich gesehen, wie ich war. Eine Frau, alt genug für alle seine widerwärtigen Fantasien. Und jetzt wollte er mich haben!

Bisher hatte ich mich immer gut herausgewunden. Er hatte seine Entdeckung über mich natürlich nicht öffentlich gemacht. Wer teilte schon gerne? Und so sorgte ich immer dafür, dass einer oder mehrere anwesend waren, wenn ich Krung begegnen musste. Doch das letzte Mal, als sein Frust zu groß geworden war, hatte er die Verriegelung an der Tür meiner Krankenstation zerschlagen und ich war nur um Haaresbreite in mein Loch entkommen. Er hatte getobt, hatte mich auf seiner und meiner Sprache beschimpft, mir gedroht, mich auszuräuchern, wenn ich mich das nächste Mal wieder so vor ihm verstecken sollte. Er würde mich kriegen, hatte er geschrien und dass ich auch nur ein Stück Fleisch war, das sich nicht einbilden sollte, etwas Besonderes zu sein.

Aber damit hatte er nur zur Hälfte recht, denn ich war etwas Besonderes. In mehrerer Hinsicht.

Mit zitternden Fingern tastete ich in meiner Tasche, bis ich das metallene Kästchen zu fassen bekam und es erleichtert herauszog. Ich öffnete es und entnahm ihm drei kleine gräuliche Tabletten, die ich zwischen die Lippen schob und ohne Wasser schluckte.

Jetzt musste ich nur noch warten und hoffen, dass meine Krankheit mich nicht dahinraffte, bevor die Tabletten zu wirken begannen.

Ich durfte gar nicht rennen. Ich durfte nicht springen, nicht hetzen und am besten regte ich mich auch nicht auf. Jede Art von Stress konnte mich umbringen, und es kam einem Wunder gleich, dass das noch nicht passiert war. Nur ein Muskelkrampf, eine Spur zu viel Adrenalin in meinem Blut und mir würde das Herz versagen, die Lunge würde kollabieren und schlussendlich würde mein Körper alle Funktionen einstellen.

Aber ich lebte schon eine ganze Weile damit und auch wenn die ständigen Muskelschmerzen mir das Leben nicht gerade einfacher machten, half mir meine Position als Laienärztin dabei, leicht an Tabletten ranzukommen, die mich zumindest vor dem Schlimmsten bewahrten.

Meine Mutter war Ärztin gewesen, eine studierte. Zumindest bevor sie einen Mann erstochen und dann zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden war. Sie hatte mir schon früh beigebracht, was ich wissen musste, um für meinen Clan wertvoll genug zu sein, damit sie mich nicht kochten und auffraßen.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich ihren Platz am Behandlungstisch eingenommen und schlug mich bisher ganz gut. Mein Drang nach Wissen hatte mir vieles einfacher gemacht.

Doch den größten Vorteil hatte mir immer meine Gabe verschafft.

Außer meiner Mutter hatte ich nie jemandem davon erzählt. Und die hatte sich auch nicht wirklich erklären können, wie so etwas überhaupt möglich war.

»Vielleicht liegt es an deinem Vater«, hatte sie einmal gesagt, auch wenn es ein sehr schwammiges Argument war. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wer mein Vater gewesen war.

Wir hatten die Gabe in Seelen lesen genannt. Anders konnte man es kaum beschreiben. Es war wie ein weiterer Sinn. Sehen mit dem Geist. Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, dann spürte ich all die Seelen, die sich im Umkreis befanden. Je mehr Anstrengung ich hineinsteckte, desto weiter konnte ich sehen.

Alle fühlenden Wesen waren für mich sichtbar und jedes war so einzigartig wie das Gesicht, das dazugehörte. Wenn ich die Personen kannte, dann wusste ich auch anhand der Seelen, wer sie waren. Und umso mehr ich mich mit ihnen auseinandersetzte, desto tiefer konnte ich blicken. Wohlbefinden, Wallungen, Gefühle, selten sogar Gedankenfetzen und aufblitzende Bilder.

Im Laufe der Jahre war ich gut darin geworden, die Empfindungen anderer zu deuten und auf die dazugehörigen Gedanken zu schließen, zu ahnen, wie die daraus folgenden Handlungen aussehen würden. Das sicherte mir das Überleben.

Langsam begann der Wirkstoff in den Tabletten seine Pflicht zu erfüllen und das Atmen fiel mir leichter. Erschöpft holte ich tiefer Luft, genoss den Sauerstoff in der Lunge und setzte mich nach ein paar Minuten sogar auf.

Ich kauerte in einem Gang, der am einen Ende verschüttet war und nur einen schmalen Spalt auf die andere Seite freigab. Als Kind hatte ich dort spielend hindurchgepasst, doch mittlerweile musste ich aufpassen, nicht mit den Hüften stecken zu bleiben. Soweit ich wusste, war ich die Einzige, die sich hier durchzwängen konnte, um an den verlassenen Teil dahinter zu gelangen.

Dies war einmal der eigentliche Teil des Gefängnisses gewesen. Nicht weit von hier befand sich ein Tor, das auf den Ring hinausführte, an dem entlang sich die Zellen befanden. Von einem hüfthohen Geländer aus überblickte man einen runden Platz. Vor langer Zeit hatten dort Tische und Bänke gestanden, an denen sich die Insassen treffen konnten, um zu essen, Karten zu spielen und sich gegenseitig zu massakrieren.

Jetzt war hier nur noch ein großer See, der durch ein Leck im Wasseraufbereitungstank gefüllt wurde. Das Wasser, das immer wieder wie leichter Regen von der Decke rieselte, tropfte in den See, wühlte die Oberfläche auf und versickerte weiter unten in kleinen Rissen im Boden.

Als Kind war ich hier oft schwimmen gewesen.

Eine Menge Kreaturen tummelten sich in dem schwarzen Wasser und ich konnte ihre Seelen unter mir spüren, wie sie in stetigen, ruhigen Bewegungen ihr Leben fristeten.

Wenn ich meinen Sinn ausweitete und die unterm Sand verborgenen Sümpfe streifte, fand ich dort ähnliche Seelen.

Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie sie hier reingekommen waren. Doch sie waren da, und obwohl ich wusste, dass sie gefährlich sein mussten, ließen sie mich in Ruhe.

Das taten eigentlich alle Tiere. Selbst die biestigen Veko-Spinnen, die draußen in ihren Löchern im Wüstensand hausten und nur darauf warteten, einem ihre messerscharfen Fangzähne ins Fleisch zu rammen.

Möglicherweise lag es an meiner Gabe. Sicher war ich mir aber nicht.

Ich rappelte mich auf und ließ meinen Geist hinauf in die oberen Stockwerke steigen, dort wo Krung gerade tobte und meine halbe Kranken­station verwüstete. Sein Zorn hatte einen noch höheren Level erreicht, und ich war furchtbar erleichtert, jetzt nicht in der Nähe zu sein.

Andere eilten gerade zu ihm, packten ihn und zogen ihn aus dem Raum. Es waren Alex und Cobal. Sie würden ihn schon wieder zur Vernunft bringen. Für dieses Mal zumindest.

Ich ließ den See zu meiner Linken liegen und trat durch ein anderes Tor, in dem einmal automatische Türen den Zugang versperrt hatten. Doch die Verwüstung, die hier unten herrschte, hatte sie aus den Schienen gerissen und ich stieg über das verbogene Metall hinweg, durch die zerstörte Schleuse und den Flur, in das unentdeckte Labyrinth von dahinterliegenden Gängen.

Viele von ihnen hatte ich bereits beschritten. Doch hier unten zu sein, hatte in mir immer ein mulmiges Gefühl hinterlassen und so war ich bisher nicht exzessiv auf Erkundungstour gegangen.

Ein paar Räume hatte ich durchsucht und nichts Wertvolles entdeckt, was nicht schon vor dem Einsturz von den anderen geplündert worden war. Doch es gab noch etliche Türen, die ich noch nicht durchschritten hatte und die vor den Beben noch verschlossen gewesen waren.

Begonnen hatte es mit einem Meteoritensturm, der in die Oberfläche des Planeten eingeschlagen war. Durch ihn war es zu heftigen Erdbeben und Sandstürmen gekommen, die nach und nach die halbe Station zerstört und es den Insassen des Gefängnisses ermöglicht hatten, die Herrschaft über diesen Planeten an sich zu reißen.

Eine Menge Türen waren aus den Verankerungen gesprungen, als das gesamte Gefängnis in der Mitte durchgebrochen war und die eine Seite sich einige Grad abgesenkt hatte.

Ich spazierte ein Stück den leicht abschüssigen Flur nach unten. Graue Wände, angelaufenes Metall und roter Sand in jeder Ritze. Ohne wirkliches Ziel bog ich wieder rechts ab, in einen Komplex, den ich noch nie betreten hatte, da der durch die ständige Wärme mumifizierte Leichnam eines Offiziellen mitten im Raum an einer Kette baumelte. Ein Haken war durch seine Rippen gejagt worden.

Doch der Körper war bereits so verdörrt, dass er mir keine so große Angst mehr machte wie früher, als überall noch Blut und der Gestank des Todes gewesen waren.

Schnellen Schrittes ging ich an dem Toten vorbei und ignorierte das schmerzhafte Ziehen in meinen Knien, als ich mich unter einem zerquetschten Türstock hindurch bückte und auf der anderen Seite eine schmale Treppe nach unten stieg. Die spärliche Notbeleuchtung, die alle Teile der Station erhellte, flackerte an einigen Stellen und ich biss mir auf die Unterlippe. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt.

Ich war ein schwaches Gemüt. Auch wenn man behaupten könnte, dass ich nach all der Zeit unter Verbrechern und Mördern, nach all den Fleischwunden und gebrochenen Knochen, die ich behandelt hatte, langsam mal ein bisschen abgehärtet sein müsste, war ich es nicht. Ich war klein, mit hochgezogenen Schultern, einem schüchternen Blick und erschreckte mich sogar häufig vor meinem eigenen Schatten.

Im dämmrigen Schein der Notbeleuchtung machte ich eine farblose Metalltür aus, die sich nur schwach von den Wänden des Ganges abhob. Sie war zwar unverschlossen, doch die Schienenführungen waren verrostet und verbogen, und sie quietschte herzzerreißend, als ich sie öffnete, wie ein Schmerzensschrei in der sonst vollkommenen Stille.

Vorsichtig betrat ich den Bereich, der sich dahinter befand. Meine Schritte wirbelten Staub und Sand auf, der mir in der Nase kitzelte.

Vor mir lag eine Art Lagerraum. Kisten in verschiedenen Größen standen herum, aus Holz, Metall – sogar Pappe. Ich öffnete eine davon, lugte hinein und fand zu meiner Überraschung einige Konservendosen, die ich mit spitzen Fingern herauszog.

Obwohl ich mich über meinen Fund freute, fühlte ich mich unwohl. Irgendwas war hier nicht richtig. Ich konnte es spüren. Als ob etwas im Hinterhalt lauerte, das ich nicht ausmachen konnte.

Über mir war ein leichtes Pochen zu hören und ich schreckte zusammen. Ich stieß mit dem Arm an die Kiste voller Konserven und sie rutschte auf dem gewölbten Untergrund nach hinten. Schnell versuchte ich sie noch zu erwischen, doch sie hatte bereits Überhang bekommen und fiel mit lautem Scheppern zu Boden.

Mein Herz schlug mir hart gegen die Rippen, stach mich bei jedem neuen Pumpen und ich fragte mich, warum ich mich heute unbedingt selbst umbringen wollte.

Ich lehnte mich an die seltsame längliche Metalltruhe mit dem gewölbten Deckel und atmete tief die staubige, abgestandene Luft ein. Dann schloss ich für einen kleinen Moment die Augen und lauschte auf meinen zusätzlichen Sinn. Es dauerte keine Sekunde, da tauchten zwei Personen direkt über mir auf. Es waren starke Seelen, die beide sehr markant waren.

Tigris und Vento, zwei Männer, ein ZentralMensch und ein Tolaner, die man besser fürchtete. Sie ließen sich gegenseitig nur in Ruhe, weil sie noch nicht auf die Idee gekommen waren, den anderen als Gefahr zu betrachten.

Aus Furcht vor unserem Clanchef hielten sie ihm die Treue. Doch sollte sie jemals jemand drauf aufmerksam machen, dass sie selbst die Stärke besaßen, es mit Boz aufzunehmen, würden sie erst ihn umbringen und sich dann gegenseitig in Stücke reißen.

Das Gefüge der Machtverhältnisse war zu diesen Zeiten sehr wackelig, da es uns an einem gemeinsamen Feindbild mangelte. Die Clans im Norden hatten sich immer weiter zurückgezogen oder waren den Veko-Spinnen zum Opfer gefallen. Wir besaßen die einzige bewohnbare Station auf dem ganzen Planeten und niemand traute sich mehr an uns ran, weil Boz ein brutaler Mann ohne Gewissen und ohne Gnade war.

Es beruhigte mich ein bisschen, zu wissen, woher das Klopfen gekommen war und ich hoffte, dass sie ihrerseits das Krachen der Konserven nicht gehört hatten. Auf keinen Fall wollte ich meinen letzten sicheren Ort hier unten verlieren. Denn zumindest von Vento wusste ich, dass seine Blicke schon mehr als einmal an mir hängen geblieben waren.

Er war nicht dumm. Schlauer als Krung zumindest. Er konnte sich ausrechnen, dass ich keine zehn oder elf mehr war.

 

Ich konzentrierte mich, versuchte die Feinheiten der Seelen zu erspüren, um festzustellen, ob sie mich gehört hatten, als plötzlich am Rande meiner Aufmerksamkeit eine ganze Armee winziger Seelenfunken aufblitzte.

Erschrocken öffnete ich die Augen und fuhr herum. Doch da war niemand. Kein Mensch und auch kein Tier. Zumindest keines, das groß genug für eine Seele wäre.

Hatte ich mir das Flimmern nur eingebildet? Fast widerwillig schloss ich die Augen erneut und sah absolut nichts. Kein Schimmer, kein Glimmen. Vielleicht hatten mir meine Sinne einen Streich gespielt. Es war sicher einfach zu viel Aufregung für mich gewesen.

Ich horchte in mich hinein, beruhigte meinen Atem, konzentrierte mich auf meine Umgebung. Über mir waren die Männer zu spüren, keine fünfhundert Meter von hier tummelten sich die Wasserwesen im See, und dann war da plötzlich wieder dieses Glimmen.

Diesmal erschrak ich nur halb so stark und klammerte mich an meine Konzentration. Ich blendete die Tiere im See aus, ebenso wie die beiden Männer über mir, und blieb mit meinem Bewusstsein nur in diesem Raum voller Kisten.

Das Glimmen wurde stärker, als ich es zu fassen bekam, und verwandelte sich in sicher zwei Dutzend Seelen. Sie waren so schwach, dass ich nicht ausmachen konnte, was sie waren. Menschen, Spezies anderer Planeten, Tiere? Es waren keine Gefühle darin, keine Gedanken, keine Wellen im stetigen Bestehen.

Langsam ging ich von einer zur anderen und zog abrupt die Hände weg, als ich eine direkt vor mir bemerkte. Ich öffnete die Augen und starrte auf die längliche Truhe, die plötzlich große Ähnlichkeit mit einem Sarg aufwies. Ein ungutes Gefühl rieselte mir die Wirbelsäule nach unten und brachte mich dazu, mich zu schütteln.

Ich kämpfte mit mir, knetete meine rissige Unterlippe mit den Fingern und gab mir schlussendlich einen Ruck. Es waren nur wenige Schritte ans andere Ende der Truhe und ich hob einen weiteren Pappkarton, der darauf abgestellt war, zur Seite. Darunter kam ein schmales Fenster zum Vorschein, blind von Staub.

Etwas umständlich kletterte ich auf die Truhe, zog mir den Ärmel über den Handballen und wischte in einer beherzten Bewegung über das Glas.

Mein Puls war beschleunigt, ich redete mir selbst gut zu und gruselte mich trotzdem vor dem, was ich wohl zu sehen bekommen würde. Meine Fantasie spielte verrückt, erschuf Monster und Wesen, die das Glas sprengen und mich zerfleischen würden.

Doch noch während ich meine Ängste niederkämpfte, erhaschte ich einen Blick in das Innere der Truhe und blieb an den Zügen eines Gesichtes hängen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Beinahe ehrfürchtig beugte ich mich über das Fenster, das mir Einblick gewährte, und sah in das Gesicht eines Mannes.

Ich hatte schon viele Männer gesehen, von den verschiedensten Spezies. Die meisten waren grob und vernarbt und weckten allesamt Abscheu in mir.

Aber dieser hier war anders. Sein Gesicht war ebenmäßig, die Haut blass wie Kalk. Die hohen Wangenknochen traten scharf hervor und verliehen seinem Gesicht einen gewissen Stolz. Die Augen, wenn auch geschlossen, zeigten katzenhafte Schlauheit, die Nase war gerade und die Lippen so markant, als hätte man sie gezeichnet. Eine dunkle Locke lag erstarrt auf seiner hohen Stirn.

Zuerst hielt ich ihn für tot, eine Leiche. Doch ich erinnerte mich selbst daran, seine Seele gesehen zu haben, und da wurde mir auch schon klar, was das alles bedeutete.

Dieser Mann war eingefroren worden.

Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick von seinem Gesicht lösen und sah mich nach weiteren Truhen um, von denen ich jetzt wusste, dass es sich dabei um Kryokapseln handelte. Ich zählte auf Anhieb etwa sieben, die allesamt mit Kisten zugestellt waren, und wandte mich dann wieder dem Mann unter mir zu.

Mit der Zunge fuhr ich mir über die trockenen Lippen und beugte mich weiter nach vorne, bis ich bäuchlings auf dem Deckel lag, die Unterarme vor dem Glas abgestützt.

Ich konnte nicht umhin, zuzugeben, dass ich in meinem ganzen Leben noch niemals einen so schönen Mann gesehen hatte.