Czytaj książkę: «Krieg und Frieden», strona 14

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Zweiter Teil

I

Im Oktober 1805 besetzten russische Truppen nicht wenige Dörfer und Städte des Erzherzogtums Österreich, und immer neue Regimenter langten aus Rußland an und schlugen, die Einwohner durch die Einquartierung arg bedrückend, bei der Festung Braunau ein Lager auf. In Braunau war das Hauptquartier des Oberkommandierenden Kutusow.

Am Morgen des 11. Oktober 1805 war eines der soeben bei Braunau eingetroffenen Infanterieregimenter, in Erwartung der Besichtigung durch den Oberkommandierenden, eine halbe Meile vor der Stadt aufmarschiert. Obgleich das Regiment sich im Ausland befand, wo die Landschaft einen nichtrussischen Charakter trug (Obstgärten, steinerne Einfassungsmauern, Ziegeldächer, ferne Bergzüge) und eine nichtrussische Bevölkerung das fremde Militär neugierig betrachtete, so hatte das Regiment doch genau dasselbe Aussehen wie jedes russische Regiment, welches sich irgendwo im Innern Rußlands zur Besichtigung bereitgemacht hat.

Am vorhergehenden Abend, nach Zurücklegung des letzten Tagemarsches, war eine Order eingegangen, der Oberkommandierende wünsche das Regiment auf dem Marsch zu besichtigen. Obgleich der Wortlaut der Order dem Regimentskommandeur unklar erschienen war und sich die Frage erhoben hatte, wie der betreffende Ausdruck der Order zu verstehen sei, ob marschmäßig oder nicht, so war doch in einer mit den Bataillonskommandeuren abgehaltenen Beratung beschlossen worden, das Regiment parademäßig vorzustellen, aufgrund der Regel, daß es immer besser ist, in Achtungsbezeigungen zu viel als zu wenig zu tun. So hatten denn die Soldaten nach einem Marsch von dreißig Werst die ganze Nacht über kein Auge geschlossen; sie hatten ihre Sachen ausgebessert und gereinigt; die Adjutanten und Kompanieführer hatten ihre Berechnungen für die Aufstellung gemacht und die Leute abgezählt, und am Morgen bildete das Regiment statt eines langgezogenen, unordentlichen Haufens, wie es sich tags zuvor auf dem letzten Marsch präsentiert hatte, eine wohlgeordnete Masse von zweitausend Mann, von denen ein jeder seinen Platz und seine Obliegenheit kannte, und bei denen an dem Anzug eines jeden jeder Knopf und jeder Riemen an seiner Stelle war und vor Sauberkeit glänzte. Und nicht nur die Außenseite der Leute war in guter Ordnung; sondern wenn es dem Oberkommandierenden beliebt hätte, einen Blick auch unter die Uniformen zu tun, so würde er bei jedem Mann ohne Ausnahme ein reines Hemd und in jedem Tornister die vorschriftsmäßige Zahl von Gegenständen, den »ganzen Kommißplunder«, nach soldatischer Bezeichnung, gefunden haben. Es gab nur einen Punkt, in betreff dessen niemand beruhigt sein konnte: das Schuhzeug. Mehr als die Hälfte der Leute hatte zerrissene Stiefel. Aber an diesem Mangel war der Regimentskommandeur schuldlos; denn trotz seiner wiederholten Forderungen hatte ihm die österreichische Intendantur kein Leder geliefert, und das Regiment war tausend Werst marschiert.

Der Regimentskommandeur war ein schon ältlicher General, dessen Augenbrauen und Backenbart bereits zu ergrauen begannen, ein vollblütiger, stämmiger Mann, von der Brust zum Rücken gemessen breiter als von einer Schulter zur andern. Er trug eine nagelneue Uniform, die aber vom Transport Quetschfalten aufwies, und dicke goldene Epauletten, von denen, wie es beinah scheinen konnte, seine fleischigen Schultern nicht sowohl nach unten als vielmehr nach oben gezogen wurden. Das Benehmen des Regimentskommandeurs machte den Eindruck, als ob er ganz glückselig eine der bedeutsamsten Handlungen seines Lebens vollzöge. Er schritt vor der Front auf und ab und zuckte bei jedem Schritt zusammen, indem er den Rücken ein wenig krümmte. Man sah, daß dieser Regimentskommandeur in sein Regiment verliebt war, daß der Anblick desselben ihn glücklich machte, daß zur Zeit seine gesamte Denktätigkeit einzig und allein auf das Regiment gerichtet war; und doch konnte man aus seinem zuckenden Gang entnehmen, daß außer den militärischen Interessen auch das gesellschaftliche Leben und der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht ihm von großer Wichtigkeit waren.

»Nun, lieber Michail Mitritsch«, wandte er sich an einen Bataillonskommandeur (der Bataillonskommandeur trat lächelnd vor; man konnte beiden ansehen, daß sie sich glücklich fühlten), »heute nacht haben wir ein schweres Stück Arbeit gehabt. Aber es scheint ja leidlich zurechtgekommen zu sein; das Regiment sieht nicht gerade übel aus ... Wie?«

Der Bataillonskommandeur verstand die fröhliche Ironie und lachte.

»Sogar auf dem Petersburger Paradeplatz würde es Ehre einlegen«, erwiderte er.

»Nicht wahr?« sagte der Regimentskommandeur.

In diesem Augenblick erschienen auf dem Weg von der Stadt her, auf welchem in Abständen Signalposten aufgestellt waren, zwei Reiter. Es waren ein Adjutant und ein hinter ihm reitender Kosak.

Der Adjutant war aus dem Hauptquartier hergesandt, um dem Regimentskommandeur einen Punkt besonders einzuschärfen (es war gerade derjenige, der in der gestrigen Order undeutlich ausgedrückt gewesen war!), nämlich daß der Oberkommandierende das Regiment ganz in dem Zustand zu sehen wünsche, in dem es angelangt sei, in Mänteln, mit Tschakoüberzügen und ohne alle Vorbereitungen.

Bei Kutusow war am vorhergehenden Abend ein Mitglied des Hofkriegsrats aus Wien eingetroffen mit der dringenden Aufforderung, möglichst schnell aufzubrechen und sich mit der Armee des Erzherzogs Ferdinand und des Generals Mack zu vereinigen, und Kutusow, der diese Vereinigung nicht für vorteilhaft hielt, beabsichtigte nun, neben anderen Beweisen für die Richtigkeit seiner Anschauung, dem österreichischen General den traurigen Zustand vor Augen zu führen, in welchem die Truppen aus Rußland einträfen. Zu diesem Zweck wollte er jetzt hinauskommen und das Regiment in Empfang nehmen; je übler also der Zustand des Regimentes war, um so angenehmer mußte es dem Oberkommandierenden sein. Diese Einzelheiten waren dem Adjutanten zwar nicht bekannt; aber er überbrachte dem Regimentskommandeur den strikten Befehl des Oberkommandierenden, die Leute sollten in Mänteln und Tschakoüberzügen antreten; andernfalls werde der Oberkommandierende sehr ungehalten sein. Als der Regimentskommandeur diese Weisung hörte, ließ er den Kopf hängen, zog schweigend die Schultern in die Höhe und breitete erregt und beinah verzweifelt die Arme auseinander.

»Na, da haben wir eine schöne Dummheit gemacht!« murmelte er vor sich hin. Dann wandte er sich in vorwurfsvollem Ton an den Bataillonskommandeur: »Sehen Sie wohl, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt: bei einer Besichtigung auf dem Marsch wird in Mänteln angetreten ... Ach du lieber Gott!« fügte er hinzu und trat dann in entschlossener Haltung näher an die Front. »Die Herren Kompanieführer!« rief er mit seiner geübten Kommandostimme. »Die Feldwebel!« ... »Wird Seine Exzellenz bald erscheinen?« fragte er den Adjutanten aus dem Hauptquartier mit einer respektvollen Höflichkeit, die sich augenscheinlich auf die Person bezog, von der er sprach.

»Ich denke, in einer Stunde.«

»Ob wir wohl noch Zeit haben, die Leute sich anders anziehen zu lassen?«

»Das kann ich nicht beurteilen, General ...«

Der Regimentskommandeur trat selbst an die Reihen heran und ordnete an, es sollten die Mäntel wieder angezogen werden. Die Kompanieführer liefen bei ihren Kompanien hin und her, die Feldwebel beeilten sich (die Mäntel waren nicht völlig in Ordnung), und die vorher in regelmäßigen Figuren schweigend dastehenden Karrees gerieten alle in demselben Augenblick in Bewegung, zogen sich auseinander und ließen ein summendes Stimmengeräusch vernehmen. Überall liefen Soldaten zur Seite und dann wieder heran, hoben die eine Schulter nach hinten in die Höhe, zogen die Tornister über den Kopf, machten die Mäntel los und steckten die hoch aufgehobenen Arme in die Ärmel.

Nach einer halben Stunde war alles wieder in die frühere Ordnung gekommen; nur hatten sich die schwarzen Karrees in graue verwandelt. Der Regimentskommandeur ging wieder mit seinem zuckenden Gang vor der Front entlang und musterte das Regiment von weitem.

»Was ist denn das da noch? Was stellt das vor?« schrie er stehenbleibend. »Der Kompaniechef von der dritten Kompanie soll herkommen!«

»Der Kompaniechef von der dritten Kompanie zum General! Der Kompaniechef zum General, von der dritten Kompanie zum Kommandeur!« So schwirrten Stimmen durch die Glieder, und der Regimentsadjutant eilte hin, um den noch nicht erscheinenden Offizier zu suchen.

Als die Rufe der eifrigen Stimmen, die bereits Konfusion verursachten und »Der General zur dritten Kompanie!« riefen, an ihre Bestimmung gelangten, trat der verlangte Offizier aus seiner Kompanie heraus und begab sich, obgleich er schon ein älterer Mann und des Laufens ungewohnt war, im Trab zum General, wobei er ungeschickt mit den Fußspitzen stolperte. Auf dem Gesicht des Hauptmanns malte sich derselbe Ausdruck von Angst wie auf dem eines Schülers, der seine Lektion nicht gelernt hat und sie nun aufsagen soll. Auf seiner offenbar vom Trunk geröteten Nase traten dunkle Flecken hervor, und er vermochte nicht, die Lippen in ruhiger Stellung zu halten. Der Regimentskommandeur sah den Hauptmann, während dieser atemlos herankam, aber, je mehr er sich näherte, seine Schritte immer mehr verlangsamte, vom Kopf bis zu den Füßen an.

»Nächstens werden Sie Ihren Leuten wohl noch Damenkleider anziehen! Was stellt das da vor?« schrie der Regimentskommandeur, indem er den Unterkiefer vorstreckte und in den Reihen der dritten Kompanie auf einen Soldaten zeigte, dessen Mantel durch sein feineres Tuch und durch seine Farbe von den übrigen Mänteln abstach. »Und wo haben Sie selbst denn gesteckt? Der Oberkommandierende wird erwartet, und Sie entfernen sich von Ihrem Platz? He ...? Ich werde Sie lehren, den Leuten zur Besichtigung Phantasiekostüme anzuziehen! He?«

Der Kompanieführer drückte, ohne die Augen von seinem Vorgesetzten wegzuwenden, die beiden Finger immer fester an den Mützenschirm, als ob er in diesem Andrücken jetzt seine einzige Rettung sähe.

»Nun, warum schweigen Sie? Wer ist das da in Ihrer Kompanie, der als Ungar herausgeputzt ist?« spottete der Regimentskommandeur in scharfem Ton.

»Euer Exzellenz ...«

»Was heißt ›Euer Exzellenz‹? ›Euer Exzellenz, Euer Exzellenz!‹ Aber was nun kommen soll, das weiß kein Mensch!«

»Euer Exzellenz, es ist Dolochow, der Degradierte«, sagte der Hauptmann leise.

»Na, ist er zum Feldmarschall degradiert oder zum Gemeinen? Wenn er zum Gemeinen degradiert ist, dann muß er sich auch kleiden wie alle, reglementsmäßig.«

»Euer Exzellenz haben es ihm für die Dauer des Feldzugs selbst gestattet.«

»Ich habe es gestattet? Ich habe es gestattet? Ja, so seid ihr immer, ihr jungen Leute«, erwiderte der Regimentskommandeur, sich ein wenig beruhigend. »Ich habe es gestattet? Wenn man zu euch nur eine Silbe sagt, dann denkt ihr gleich ...« Der Regimentskommandeur schwieg ein Weilchen. »Wenn man zu euch nur eine Silbe sagt, dann denkt ihr gleich ... Was erlauben Sie sich?« fuhr er, wieder zornig werdend, fort. »Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leute anständig angezogen sind ...«

Der Regimentskommandeur blickte sich nach dem Adjutanten aus dem Hauptquartier um und ging dann mit seinem zuckenden Gang näher an das Regiment heran. Es war klar, daß seine Heftigkeit ihm selbst Vergnügen machte, und daß er, am Regiment entlanggehend, noch einen neuen Vorwand zum Zorn suchte. Nachdem er einen Offizier wegen eines nicht blank genug geputzten Ordens und einen andern wegen unordentlicher Aufstellung seiner Leute heruntergemacht hatte, gelangte er zur dritten Kompanie.

»Wi-i-ie stehst du da? Wo ist dein Bein? Wo dein Bein ist?« schrie der Regimentskommandeur in einem Ton, als ob er einen furchtbaren Schmerz empfände, als er noch fünf Mann zwischen sich und Dolochow hatte, der einen bläulichen Mantel trug.

Dolochow streckte das gebogene Bein langsam gerade und schaute mit seinem hellen, frechen Blick dem General unverwandt ins Gesicht.

»Was soll der blaue Mantel? Weg damit ... Feldwebel! Der Mann soll einen andern Mantel bekommen ... So ein nichtswür–« Er kam nicht dazu, das Wort zu Ende zu sprechen.

»General«, fiel ihm Dolochow rasch ins Wort, »ich bin verpflichtet, Befehle zu erfüllen, aber nicht verpflichtet, mir Beleidigungen ...«

»Mund halten im Glied! Mund halten! Mund halten!«

»Nicht verpflichtet, mir Beleidigungen gefallen zu lassen«, vollendete Dolochow seinen Satz mit lauter, klangvoller Stimme.

Die Blicke des Generals und des Gemeinen begegneten einander. Der General schwieg und zog zornig seine straffsitzende Schärpe nach unten.

»Bitte, kleiden Sie sich um«, sagte er dann und ging weiter.

II

»Er kommt!« rief in diesem Augenblick der Signalposten.

Der Regimentskommandeur, dunkelrot im Gesicht, lief zu seinem Pferd, ergriff mit zitternden Händen den Steigbügel, brachte mit einem Schwung seinen Körper auf das Pferd, setzte sich im Sattel zurecht, zog den Degen und machte sich mit glückstrahlender, entschlossener Miene, den Mund auf der einen Seite öffnend, bereit, loszuschreien. Durch das Regiment ging eine schütternde Bewegung, wie wenn ein Vogel sein Gefieder schüttelt; dann stand alles starr und regungslos.

»Still-ll-ll gestanden!« schrie der Regimentskommandeur mit gewaltig schmetternder Stimme, die zugleich seine persönliche Freude, seine Strenge gegen das Regiment und seinen Respekt vor dem sich nähernden Vorgesetzten zum Ausdruck brachte.

Auf der breiten, mit Bäumen eingefaßten, großen, ungepflasterten Landstraße kam, leise in den Federn klirrend, in raschem Trab eine hohe, blaue, vierspännige Wiener Kalesche gefahren. Hinter der Kalesche folgte zu Pferd die Suite und eine aus Kroaten bestehende Eskorte. Neben Kutusow saß ein österreichischer General in weißer Uniform, die von den schwarzen russischen Uniformen sonderbar abstach. Der Wagen hielt bei dem Regiment. Kutusow und der österreichische General redeten flüsternd etwas miteinander, und während Kutusow, schwer auftretend, mit Benutzung des Wagentrittes ausstieg, lächelte er leise vor sich hin, als ob diese zweitausend Soldaten, die mit angehaltenem Atem auf ihn und auf ihren Regimentskommandeur blickten, gar nicht vorhanden wären.

Ein Kommandoruf erscholl; wieder ging ein klirrendes Zucken durch das Regiment: das Regiment präsentierte das Gewehr. In der Totenstille ertönte die schwache Stimme des Oberkommandierenden, der das Regiment begrüßte. Das Regiment brüllte: »Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Euer E-e-enz!« und wieder wurde alles starr und regungslos. Während des Präsentierens und der Begrüßung war Kutusow an einem Fleck stehengeblieben; aber nun begann er an der Seite des weißen Generals, zu Fuß, gefolgt von der Suite, an den Reihen entlangzugehen.

Aus der Art, wie der Regimentskommandeur vor dem Oberkommandierenden salutierte, kein Auge von ihm verwandte, Front machte und zu ihm heranschlich, wie er vornübergebeugt, seine zuckende Bewegung nur mangelhaft unterdrückend, hinter den beiden Generalen an den Reihen entlangging, wie er bei jedem Wort und jeder Bewegung des Oberkommandierenden zusprang, aus alledem ließ sich erkennen, daß er seine Pflichten als Untergebener mit noch größerem Genuß erfüllte als seine Pflichten als Vorgesetzter.

Das Regiment befand sich dank der Strenge und Sorgfalt seines Kommandeurs, mit anderen zu gleicher Zeit in Braunau anlangenden Regimentern verglichen, in einem ausgezeichneten Zustand. Die Nachzügler und Kranken beliefen sich nur auf zweihundertundsiebzehn Mann. Und alles war in Ordnung, mit Ausnahme des Schuhzeugs.

Während Kutusow an den Reihen entlangging, blieb er ab und zu stehen und sagte ein paar freundliche Worte zu Offizieren, die er vom türkischen Krieg her kannte, mitunter auch zu Gemeinen. Beim Anblick des Schuhwerks schüttelte er einige Male trübe den Kopf und machte den österreichischen General darauf aufmerksam, mit einer Miene, als wolle er niemandem einen Vorwurf daraus machen, müsse aber doch konstatieren, daß das eine recht üble Sache sei. Der Regimentskommandeur lief dabei jedesmal etwas nach vorn, näher an die Generäle heran, aus Furcht, irgendein auf das Regiment bezügliches Wort des Oberkommandierenden zu überhören. Hinter Kutusow, in einem solchen Abstand, daß man jedes auch nur leise gesprochene Wort hören konnte, ging die aus ungefähr zwanzig Personen bestehende Suite. Die Herren von der Suite unterhielten sich miteinander und lachten mitunter. Am nächsten von allen hinter dem Oberkommandierenden ging ein Adjutant von hübschem Äußern. Dies war Fürst Bolkonski. Neben ihm ging sein Kamerad Neswizki, ein hochgewachsener, dicker Stabsoffizier mit einem gutmütig lächelnden, hübschen Gesicht und feuchten Augen; Neswizki konnte kaum das Lachen unterdrücken, zu dem er sich durch einen neben ihm gehenden schwarzhaarigen Husarenoffizier gereizt fühlte. Dieser Husarenoffizier blickte, ohne zu lächeln und ohne den Ausdruck seiner regungslosen Augen zu verändern, mit ernster Miene auf den Rücken des Regimentskommandeurs hin und ahmte jede seiner Bewegungen nach. Jedesmal wenn der Regimentskommandeur zusammenzuckte und sich nach vorn bog, zuckte genau ebenso, aufs Haar ebenso auch der Husarenoffizier zusammen und bog sich nach vorn. Neswizki lachte und stieß die andern an, damit auch sie den Spaßmacher ansähen.

Mit langsamen, müden Schritten ging Kutusow an den Tausenden von Augen vorbei, die fast aus ihren Höhlen springen wollten, während sie auf den hohen Besuch hinblickten. Als er zur dritten Kompanie gekommen war, blieb er auf einmal stehen. Die Suite, die dieses plötzliche Stehenbleiben nicht hatte voraussehen können, geriet unwillkürlich näher an ihn heran.

»Ah, Timochin!« sagte der Oberkommandierende, als er den Hauptmann mit der roten Nase erkannte, dem es wegen des blauen Mantels so schlecht ergangen war.

Man hätte meinen sollen, daß es unmöglich sei, sich noch strammer auszurecken, als es Timochin zu der Zeit getan hatte, wo ihn der Regimentskommandeur tadelte. Aber in diesem Augenblick, wo sich der Oberkommandierende zu ihm wendete, reckte sich der Hauptmann dermaßen gerade, daß es schien, wenn der Oberkommandierende ihn noch eine Weile ansähe, so würde der Hauptmann sich Schaden tun; und deshalb wandte sich Kutusow schnell von ihm ab, da er augenscheinlich die Situation des Hauptmanns begriff und ihm alles Gute wünschte. Über Kutusows volles, durch eine Narbe entstelltes Gesicht flog ein ganz leises Lächeln.

»Noch ein Kamerad von der Erstürmung Ismaïls her«, sagte er. »Ein tapferer Offizier! Bist du mit ihm zufrieden?« fragte Kutusow den Regimentskommandeur.

Der Regimentskommandeur, der, ohne daß er davon eine Ahnung hatte, in dem ihn kopierenden Husarenoffizier sein Spiegelbild fand, zuckte zusammen, trat weiter vor und antwortete: »Sehr zufrieden, Euer hohe Exzellenz!«

»Es hat ja jeder von uns seine Schwächen«, bemerkte Kutusow lächelnd im Weitergehen. Er war selbst ein großer Verehrer des Bacchus.

Der Regimentskommandeur erschrak, da er nicht recht wußte, ob das nicht etwa ein Vorwurf für ihn selbst sein sollte, und antwortete nichts. In diesem Augenblick bemerkte der Husarenoffizier das Gesicht des Hauptmanns mit der roten Nase und dem eingeschnürten Bauch und ahmte seine Miene und Haltung so täuschend ähnlich nach, daß Neswizki das Lachen nicht unterdrücken konnte. Kutusow drehte sich um. Aber hier konnte man von neuem beobachten, daß der Husarenoffizier die Fähigkeit besaß, sein Gesicht so zu gestalten, wie er nur wollte: in dem Augenblick, wo Kutusow sich umdrehte, nahm der Husarenoffizier, der soeben eine solche Grimasse geschnitten hatte, die ernsteste, respektvollste, unschuldigste Miene von der Welt an.

Die dritte Kompanie war die letzte; Kutusow schien etwas zu überlegen und sich auf etwas besinnen zu wollen. Fürst Andrei trat aus der Suite vor und sagte zu ihm leise auf französisch:

»Sie haben befohlen, Sie an den degradierten Dolochow in diesem Regiment zu erinnern.«

»Wo ist hier Dolochow?« fragte Kutusow.

Dolochow, der seinen blauen Mantel bereits mit einem grauen Soldatenmantel vertauscht hatte, wartete nicht erst, bis er vorgerufen wurde. Die schlanke Gestalt des blonden Soldaten mit den hellen, blauen Augen trat vor die Front. Er schritt auf den Oberkommandierenden zu und präsentierte das Gewehr.

»Eine Beschwerde?« fragte Kutusow und runzelte ein wenig die Stirn.

»Es ist Dolochow«, erwiderte Fürst Andrei.

»Ah!« machte Kutusow. »Nun, ich hoffe, daß dich diese Lektion bessern wird; halte dich brav. Der Kaiser ist gnädig. Auch ich werde an dich denken, wenn du dich dessen würdig zeigst.«

Die blauen, hellen Augen blickten den Oberkommandierenden ebenso dreist an wie vorher den Regimentskommandeur, als wenn sie durch ihren Ausdruck die konventionelle Scheidewand durchbrechen wollten, die den Oberkommandierenden vom gemeinen Soldaten so weit trennt.

»Ich habe nur eine Bitte, Euer hohe Exzellenz«, sagte er ohne Eile mit seiner klangreichen, festen Stimme. »Ich bitte, mir Gelegenheit zu geben, mein Vergehen wiedergutzumachen und meine Ergebenheit für Seine Majestät den Kaiser und für Rußland zu beweisen.«

Kutusow wandte sich ab. Über sein Gesicht huschte dasselbe leise Lächeln wie vorher, als er sich von dem Hauptmann Timochin abgewandt hatte. Er wandte sich ab und runzelte die Stirn, als ob er damit ausdrücken wollte, daß er alles, was Dolochow ihm gesagt habe, und alles, was er ihm noch weiter sagen könne, schon längst, längst wisse, daß dies alles ihm bereits bis zum Ekel zuwider sei, und daß dies alles gar nicht das Richtige sei. Er wandte sich ab und ging wieder zu seinem Wagen.

Das Regiment löste sich in Kompanien auf und begab sich nach den ihm angewiesenen Quartieren nicht weit von Braunau, wo es Schuhwerk und Kleidung zu erhalten und sich nach den schweren Märschen zu erholen hoffte.

»Sie haben mir doch nichts übelgenommen, Prochor Ignatjitsch?« sagte der Regimentskommandeur, als er zu Pferde die nach ihrem Bestimmungsort marschierende dritte Kompanie eingeholt hatte und zu dem an ihrer Spitze gehenden Hauptmann Timochin gelangt war. (Das Gesicht des Regimentskommandeurs zeigte den unbezwingbaren Ausdruck seiner Freude über den glücklichen Verlauf der Besichtigung.) »Dienst ist eben Dienst ... Es geht nicht anders ... Man schimpft wohl manchmal vor der Front ... Aber nun bitte ich auch um Entschuldigung; Sie kennen mich ja ... Er hat sich sehr anerkennend geäußert!« Er streckte dem Kompanieführer die Hand entgegen.

»Aber ich bitte Sie, General, wie dürfte ich denn etwas übelnehmen!« antwortete der Hauptmann, dessen Nase noch röter wurde, lächelnd; bei dem Lächeln wurde das Fehlen zweier Vorderzähne sichtbar, die ihm beim Angriff auf Ismaïl mit einem Gewehrkolben ausgeschlagen waren.

»Und teilen Sie auch Herrn Dolochow zu seiner Beruhigung mit, daß ich ihn nicht vergessen werde. Sagen Sie mir doch, ich wollte Sie schon immer danach fragen, was ist er denn eigentlich für ein Mensch, wie macht er sich, und überhaupt ...«

»Seinen Dienst tut er durchaus ordnungsmäßig, Euer Exzellenz ... Aber sein Charakter ...«, erwiderte Timochin.

»Nun, was denn? Was ist denn mit seinem Charakter?« fragte der Regimentskommandeur.

»Er hat Tage, an denen ein böser Geist über ihn kommt, Euer Exzellenz«, antwortete der Hauptmann. »Mal ist er klug und verständig und gutmütig, und dann mal wieder wie eine wilde Bestie. In Polen hat er einen Juden beinahe totgeschlagen, wie Sie ja wissen ...«

»Nun ja, nun ja«, sagte der Regimentskommandeur, »aber man muß doch mit so einem jungen Menschen in seinem Unglück Mitleid haben. Er hat ja auch gute Konnexionen ... Also da werden Sie ... hm ...«

»Zu Befehl, Euer Exzellenz«, erwiderte Timochin und gab durch sein Lächeln zu verstehen, daß er die Wünsche seines Vorgesetzten verstanden hatte.

»Nun schön, schön.«

Der Regimentskommandeur hatte in den Reihen Dolochow herausgefunden und hielt sein Pferd bei ihm an.

»Verdienen Sie sich im ersten Gefecht die Epauletten wieder!« sagte er zu ihm.

Dolochow wendete sich nach ihm hin; aber er sagte nichts und änderte auch nicht den Ausdruck seines spöttisch lächelnden Mundes.

»Nun, also abgemacht!« fuhr der Regimentskommandeur fort. »Die Leute sollen jeder ein Glas Branntwein auf meine Kosten bekommen«, fügte er laut hinzu, damit die Soldaten es hörten. »Ich danke euch allen! Es ist ja alles, Gott sei Dank, gutgegangen!« Er ritt an der Kompanie vorbei und zu einer andern hin.

»Das muß man sagen, er ist wirklich ein guter Mensch; man kann ganz gern unter ihm dienen«, meinte Timochin zu einem neben ihm gehenden Leutnant.

»Gewiß! Wie sollte denn auch der Herzenkönig« (dies war der Spitzname des Regimentskommandeurs) »kein gutes Herz haben?« erwiderte der Leutnant lachend.

Die heitere Stimmung, in welcher sich die Vorgesetzten nach der Besichtigung befanden, war auch auf die Gemeinen übergegangen. Die Kompanien marschierten fröhlich einher. Überall hörte man die Soldaten munter untereinander reden.

»Wie konntet ihr bloß sagen, daß Kutusow auf einem Auge nicht sehen kann?«

»Na, ist es etwa nicht so? Er ist einäugig.«

»Nein, Bruder, der kann besser sehen als du. Die Stiefel und die Fußlappen, alles hat er sich beguckt ...«

»Wie der mir auf die Füße sah, Bruder ... na, ich dachte ...«

»Aber der andre, der Österreicher, der mit bei ihm war, der sah doch ganz aus wie mit Kreide beschmiert. Wie weißes Mehl. Ich denke bloß, was mag das für eine Arbeit sein, die Uniform zu reinigen!«

»Hör mal, Fjodor! Hat er gesagt, wann der Kampf losgehen wird? Du standst ja dichter dran. Es heißt ja, der Bunaparte steht selbst in Brunow.«

»Der Bunaparte in Brunow! Schwatz nicht solchen Unsinn, du Narr! Was du nicht alles weißt! Jetzt rebelliert der Preuße. Also da wird ihn der Österreicher zur Räson bringen. Wenn der wird Frieden machen, dann fängt der Krieg mit dem Bunaparte an. Und da redest du, Mensch, der Bunaparte steht in Brunow! Da sieht man mal, wie dumm du bist. Hör besser zu, wenn was gesagt wird.«

»Nein, diese verdammten Quartiermacher! Sieh mal bloß, die fünfte Kompanie schwenkt schon in ein Dorf ein; die kochen nun gleich ihre Grütze, und wir sind noch lange nicht in unserm Quartier.«

»Gib mir ein Stück Zwieback, du Kerl, du.«

»Aber hast du mir gestern von deinem Tabak abgegeben? Siehst du wohl, Bruder! Na, da hast du, in Gottes Namen.«

»Hätten sie uns doch wenigstens Rast machen lassen; aber so können wir noch fünf Werst laufen, ehe wir was zu essen kriegen.«

»Das wäre eine schöne Sache, wenn uns die Deutschen Kutschen anspannen ließen. Dann könntest du großpreislich fahren!«

»Aber hier sind wir doch zu einem ganz närrischen Volk gekommen, Bruder. Vorher, das waren lauter Polen, die gehörten wenigstens noch zum russischen Reich; aber hier, Bruder, hier sind überall bloß Deutsche, nichts als Deutsche.«

»Die Sänger nach vorn!« ertönte das Kommando des Hauptmanns.

Aus den einzelnen Gliedern traten im ganzen etwa zwanzig Mann heraus und liefen an die Spitze der Kompanie. Der Vorsänger, ein Trommler, wendete sich mit dem Gesicht zu den Sängern zurück, schwenkte den Arm und stimmte die getragene Melodie des Soldatenliedes an, welches anfängt: »Brüder, wenn die Sonne morgens rot und goldig sich erhebt« und mit den Worten schließt: »Und mit Väterchen Kamenski wird uns hoher Ruhm zuteil.« Dieses Lied war ehemals in der Türkei gedichtet und wurde nun jetzt in Österreich gesungen, nur mit der Änderung, daß statt der Worte »Väterchen Kamenski« eingesetzt wurde: »Väterchen Kutusow«.

Indem der Trommler, ein hagerer, hübscher Mensch von ungefähr vierzig Jahren, bei diesen letzten Worten in soldatischer Manier kurz abbrach, bewegte er die Arme, als ob er etwas auf die Erde schleuderte, warf den andern Sängern einen strengen Blick zu und kniff die Augen zusammen. Dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren, machte er eine Gebärde, als ob er vorsichtig mit beiden Händen einen unsichtbaren, wertvollen Gegenstand über seinen Kopf in die Höhe höbe, ihn einige Sekunden lang so hielte und auf einmal mit Energie auf die Erde würfe:

»Ach, du mein Häuschen klein«, sang er.

»Mein neues Häuschen ...«, fielen zwanzig Stimmen ein, und der Löffelmacher sprang trotz seines schweren Gepäcks ausgelassen nach vorn, ging vor der Kompanie rückwärts, bewegte die Schultern hin und her und drohte dem einen und dem andern mit seinen Löffeln. Die Soldaten schlenkerten nach dem Takt des Liedes mit den Armen und gingen, unwillkürlich Takt haltend, mit weit ausgreifenden Schritten. Da wurde hinter der Kompanie Räderrollen, das Knistern von Wagenfedern und Pferdegetrappel hörbar. Kutusow kehrte mit seiner Suite nach der Stadt zurück. Der Oberkommandierende gab ein Zeichen, daß die Leute ohne Honneur weitermarschieren möchten, und ihm und seiner gesamten Suite war an den Gesichtern deutlich anzusehen, wieviel Vergnügen ihnen die Klänge des Liedes und der Anblick des tanzenden Soldaten und der frisch und fröhlich dahinmarschierenden Kompanie machte. Im zweiten Glied, auf der rechten Flanke, wo die Kutsche die Kompanie überholte, fiel einem jeden unwillkürlich der blauäugige Gemeine Dolochow auf, der besonders flott und munter nach dem Takt des Gesanges marschierte und den Vorbeifahrenden und Vorbeireitenden mit einer solchen Miene ins Gesicht sah, als ob er alle bedauerte, die in diesem Augenblick nicht mit der Kompanie marschierten. Der Husarenkornett in Kutusows Suite, der dem Regimentskommandeur nachgeäfft hatte, blieb hinter der Kutsche zurück und ritt zu Dolochow heran.

Der Husarenkornett Scherkow hatte eine Zeitlang in Petersburg zu der wilden, tollen Gesellschaft gehört, deren Matador Dolochow war. Im Ausland war Scherkow dem zum Gemeinen degradierten Dolochow wiederbegegnet, hatte aber nicht für nötig befunden, ihn zu erkennen. Jetzt nun, nachdem Kutusow mit dem Degradierten gesprochen hatte, wandte er sich mit der erfreuten Miene eines alten Freundes zu ihm:

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2410 str.
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9783754188620
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