Die weiße Möwe

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Die weiße Möwe
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Lena Klassen

Die weiße Möwe

Band 1 der Trilogie „Sehnsucht nach Rinland“

Roman


Zu diesem Buch

„Ich bin nicht wie deine Männer“, sagte Blitz leise. „Du hast sie aus dem Gefängnis geholt und von der Straße ... Aber mich hast du aus der Luft gegriffen wie eine Möwe auf ihrem Flug. Ich werde nie im Staub zu deinen Füßen sitzen und auf deine Anweisungen warten wie auf Futter. In meinem Herzen sind das Meer und die Wellen, die gegen die Küste schlagen, und die Schiffe, die zum Horizont segeln. In mir ist der Traum von den Glücklichen Inseln.“ Er wusste nicht, ob Zukata ihn noch hörte. „In mir ist die Sehnsucht nach Rinland. Was du auch tust, um mich an dich zu binden, ich bin frei.“

Das 16-jährige Albinomädchen Mino und der dunkelhaarige Blitz haben immer davon geträumt, gemeinsam durchs Kaiserreich zu reisen. Doch dann hindert Mino ihren besten Freund daran, seinem größten Traum zu folgen und das sagenhafte Rinland zu suchen. Wütend macht Blitz sich auf die Suche nach einem anderen Abenteuer und fällt prompt unter die Räuber. Die Begegnung mit Zukata, dem abtrünnigen Riesenprinzen, verändert sein Leben für immer. Und auch für Mino bleibt nichts mehr, wie es war, als sie in ein heftiges Unwetter gerät und von der Klippe stürzt. Ohne etwas voneinander zu ahnen, kämpfen sie bald für dieselbe Sache – dem großen Kaiser sein Glück zurückzubringen ...

Fesselnd bis zur letzten Seite – Die weiße Möwe bildet den Auftakt der packenden Trilogie Sehnsucht nach Rinland.

Leserstimmen zu den ersten Bänden

„Sprachlich wunderschön.“ Titus Müller

„Ein Fantasy-Schinken der außergewöhnlich guten Art!“

„Wunderbar fesselnd geschrieben.“

„Die Story ist absolut filmreif, nie vorhersehbar, super interessante Charaktere und unglaublich spannend bis zur letzten Seite.“

„Mit dieser weißen Möwe fliegt man direkt ins Land der Fantasie und möchte nie mehr weg von diesem Ort.“

Über die Autorin

Lena Klassen lebt leider nicht auf einer Insel, braucht aber das Meer. Oder wenigstens einen Sturm und ein gutes Buch. Sie hat Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie studiert und über phantastische Literatur promoviert. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kleinen Haus mit großem Garten im ländlichen Westfalen.

Lena Klassen hat bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Im Neufeld Verlag erschien neben der Rinland-Trilogie auch der Roman Caros Lächeln.

www.lenaklassen.de

Impressum

Dieses Buch als E-Book:

ISBN 978-3-86256-745-4, Bestell-Nummer 588 658E

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-937896-58-8, Bestell-Nummer 588 658

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbild: © ShutterStock® Satz: Neufeld Verlag

© 2008 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

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Inhalt

Zu diesem Buch

Leserstimmen zu den ersten Bänden

Über die Autorin

Prolog: Der Anfang

1. Die Kinder der Inseln

2. Blindlings

3. Das Glück des Kaisers

4. Möwe

5. Das Ziehende Volk

6. Unter Räubern

7. Gefesselt

8. Für dich

9. Die Geisel

10. Verbündete

11. Der andere

12. Kaisergänger

13. Die wilden Riesen

14. Mein Mädchen

15. Frei

16. Das Fest der Brücke

17. Durch Salien

18. Ilinias

19. Hoffnung

20. Die Falle

21. Die Rückkehr

22. Blitz

23. Der weiße Vogel

Über den Verlag

Prolog
Der Anfang

V O RD E MA N F A N Gwar nur Rin.

Am Anfang machte Rin Welten aus dem Stoff seiner Gedanken und Sterne aus Gold und Licht, und er formte eine Kugel und gab ihr einen Platz im Tanz seiner Sterne. Er machte Wesen, darauf zu wohnen: die Riesen aus dem Feuer der Sterne, die Menschen aus der braunen Erde, die Tiere aus dem salzigen Wasser, und aus der Luft schuf er Worte und Gesang, Stille und Lachen und Tanz. Er gab ihnen das Geschenk der Freude und die Fähigkeit zur Liebe und errichtete ihnen einen Ort, um darauf zu wohnen, einen Hügel, bewachsen von Wäldern, grün und dunkel, eingehüllt in duftende Wiesen, überschattet von schneebedeckten Bergen. Sie badeten dort in den Seen und in den Bächen, die zu Tale stürzten, sie wanderten durch die Wälder und erklommen die Gipfel und pflegten die Gärten, reich an köstlichen Früchten. Er selbst, Rin, wohnte dort bei ihnen, bei Riesen, Menschen und Tieren, im Gesang. Die Tiere spielten mit den Worten, die wuchsen und gediehen, die Menschen hüteten die Tiere, die vor Vergnügen schnurrten, und die Riesen wachten über den Menschen, die zu ihnen aufblickten, und über ihnen war der Tanz der Sterne und die Größe und Weite aller Welten. Und Rin ging unter ihnen umher und lachte, und sie antworteten ihm mit glockenhellem Lachen.

Dann kam eine Zeit, in der Rin sich zu anderen Ländern in anderen Welten begab. Er vertraute seinen Geschöpfen alles an: den Riesen die Menschen, den Menschen die Tiere, den Tieren die Worte, und ihnen allen zusammen das Land, das er für sie gemacht hatte.

Rin wird nicht zurückkommen, sagten die Riesen. Jetzt sind wir allein. Und sie, in denen das Feuer der Sterne brannte, begannen Herrschaft auszuüben über die Menschen, und die Menschen sahen herab auf die zutraulichen Tiere, und da, gepeinigt, verloren die Tiere die Worte. Ihr Lachen verstummte, der Gesang wurde ihnen zu schwer, und der Tanz stahl sich fort aus ihren Füßen.

Hörten nun die Menschen die Blätter über sich rauschen, wenn der Wind hindurchfuhr, fürchteten sie sich. Und obwohl sie die Wohltat der Nacht kannten, die sich wolkenweich über das Land legte, erschraken sie vor der Dunkelheit.

Was werden wir tun, wenn der Wind stärker wird und die Nacht länger?, fragten sie. Denn nun sind wir allein.

Die Tiere aber versteckten sich zwischen den Bäumen, stumm.

Die Riesen sagten: Wir werden in die Berge hinaufsteigen und dort leben, damit ihr wisst, dass wir über euch stehen. Und dort lebten sie und ihre Herzen wurden kalt wie der Schnee auf den Gipfeln und hart wie der Stein, auf dem sie schliefen.

Die Menschen bauten sich Hütten aus den Stämmen der Bäume, um sicher zu sein in der Nacht und sicher vor den Riesen und sicher vor den Tieren. Ihre Angst wurde so groß, dass sie ihre Liebe zu den Tieren und zu den Gärten vergaßen; sie vernachlässigten die Obstbäume und hatten bald nichts mehr zu essen und mussten die Tiere töten, um an ihr Fleisch zu gelangen. Die Tiere wurden scheu und wachsam und gefährlich, sie griffen ihre Hüter an und fielen übereinander her, und alles, was in ihnen froh gewesen war und vertrauensvoll, war fort. Kein Lachen wurde mehr gehört und niemand tanzte mehr. Die Angst, die sie geschaffen hatten, breitete sich aus und wurde übermächtig, bis es nichts anderes mehr gab als die Angst.

 

Dann kam Rin zurück, und es war still. Und Rin sah das zerstörte Land und die gefällten Bäume und die toten Tiere und die Angst über allem, und er weinte über das, was er sah. Da rief er die Menschen aus den Hütten, in denen sie sich verborgen hatten, und die Riesen herunter von den Bergen und sagte zu ihnen: Was habt ihr getan! Warum habt ihr die Furcht erschaffen, obwohl ich euch Liebe und Freude gab?

Die Menschen sagten: Die Riesen wollten über uns herrschen, darum fürchteten wir uns.

Die Tiere schwiegen, denn sie hatten keine Worte mehr.

Und die Riesen bissen die Zähne zusammen und machten sich dasselbe Schweigen zu eigen und beugten sich nicht.

Warum habt ihr mir nicht vertraut?, fragte Rin die Menschen. Die Riesen hatten keine Macht, euch etwas anzutun. Aber nun, da ihr ihnen die Macht dazu gegeben habt, werden sie niemals aufhören, über euch zu herrschen. Jetzt wird über euch kommen, was ihr gefürchtet habt, und wovor ihr euch versteckt habt, das wird euch einholen. Stürme werden über euch gehen, über die Länder und durch eure Reihen und durch eure Herzen, und die Nächte werden länger werden und kälter und sie werden euch nicht Wohltat sein, sondern euch Grauen und Albträume bringen. Baut euch aus dem Holz, das ihr geschlagen habt, obwohl ihr doch Wärme und Schutz und Nahrung hattet, Flöße und Boote und verlasst dieses Land.

Als Rin die Menschen verbannte, da fragten sie: Wohin schickst du uns?, und auch sie weinten, denn nun erkannten sie, was sie verspielt hatten.

Dorthin, sagte er, ans andere Ende der Welt.

Dürfen wir zurückkommen?, fragten sie. Irgendwann, jetzt oder bald oder am Ende der Zeiten?

Da gab er denen, die die Gabe der Liebe und das Geschenk der Freude verachtet hatten, die Gabe der Sehnsucht, als Schmerz und als Hoffnung.

Allein diese Sehnsucht, sagte Rin, wird euch mit Rinland verbinden. Und wenn sie stark genug ist, wird sie euch hierhin zurückbringen. Wenn eure Hoffnung größer ist als die Angst und größer als der Zweifel, der kommen wird, wenn die Erinnerung verblasst, dann wird die Sehnsucht euch über die Brücke führen können, die ich bauen werde. Denn das verspreche ich euch: Ich werde eine Brücke errichten, die über das große Meer führen wird. Aber es wird eine schmale Brücke sein, hoch über dem tiefen Wasser, und wer nicht genug vertraut und wankt, der wird hinabstürzen und ertrinken.

Zu den Tieren sagte er: Geht mit ihnen, als Erinnerung an das, was war, als Verheißung an das, was einmal sein wird. Dies sei euer Trost: Ich habe euch aus Wasser gemacht, und so seid ihr immer verbunden mit mir und den Tränen, die ich geweint habe und weinen werde.

Zu den Riesen sagte er: Ich schicke euch fort, übers Meer.

Da ist kein Meer, widersprachen sie, und in ihren Augen funkelte das Licht der Sterne.

Ich schicke euch fort, übers Meer, wiederholte Rin, mit der ganzen Kraft, die ich euch gegeben habe, und der großen Macht, die ihr euch genommen habt, die ihr die Hüter sein solltet über alles. Nur wer sich beugt vor meiner Kraft und vor meiner Macht, die größer sind als euer Verstand, darf diesen Ort je wieder betreten.

Das wird niemals geschehen, sagten die Riesen voller Stolz, aber Rin lächelte traurig und sagte nichts mehr.

Und Rin weinte, und seine Tränen heilten die zerstörten Gärten und Wälder. Bäche flossen durch die Täler und schwollen an und trugen die Verbannten mit ihren Schiffen fort, zu einem anderen, blasseren Land am Ende der Welt. Rins Tränen flossen weiter, und ein Meer überflutete die Erde und wurde sehr groß und sehr tief, so dass niemand zu der Insel gelangen konnte, wo Rin wohnte. Er machte Riffe und gefährliche Strömungen, und diejenigen, die eigenmächtig zurückkehren wollten, zerschellten mitsamt ihren Schiffen.

Die Riesen dagegen schwammen und vertrauten sich dem Wasser an, mit nichts als ihrer übermenschlichen Kraft, und durchmaßen die Wellen, ohne müde zu werden, und gingen dort, am Ende der Welt, an Land, wo sie ihre Herrschaft errichteten, ohne je zurückzublicken.

Die weiße Möwe

1. Die Kinder der Inseln

M I N OS A HB E W E G U N G S L O Szu, wie Lexan packte. Sie saß auf dem Bett und schaute abwechselnd aus dem Fenster und auf ihren älteren Bruder, der sich zu seiner Kiste bückte und sich dann wieder zu seinem Schrank erhob und in die oberen Fächer langte; ein schwindelerregender Tanz aus Bücken und Strecken und Drehen, zu einer Musik, die sie beide von draußen hören konnten.

Das Meer rief.

Wenn Mino ihre Augen von dem seltsamen Schauspiel vor sich losriss und zum Fenster hin blickte, konnte sie die weiße Gischt sehen, wo sich die Wellen an den vorgelagerten Klippen brachen. Der Hafen war nur wenige hundert Meter entfernt, und obwohl sie es von hier aus nicht erkennen konnte, war das Schiff ständig gegenwärtig, dieses wunderbare kleine Schiff mit den weißen Segeln. Ein Boot. Eigentlich ist es nur ein Boot, dachte Mino, es verdient den Namen Schiff nicht. Es verdient den Namen nicht, den Lexan mit schwungvollen Buchstaben an die Bordwand geschrieben hat: Weiße Möwe. Denn fliegen kann es nicht, dachte sie. Dieses mickrige Boot kommt niemals über den großen Ozean. Mutter hat recht. Der hohen See kann diese Nussschale nicht standhalten.

Und trotzdem konnte sie nicht anders, als es zu lieben, immer noch und jetzt vielleicht noch mehr denn je, dieses kleine Segelschiff, mit dem sie im Sommer die Inseln umrundet hatten.

Es war einer der heißesten Sommer der letzten Jahre gewesen, und sie hatten eine Flaute nach der anderen hinnehmen müssen, ohne sich davon die Stimmung verderben zu lassen. Sie waren ins Wasser gesprungen und hatten getaucht und nach Muscheln gesucht, und abends hatten sie am Strand gesessen und am Feuer Fisch gebraten. Jußait und Bajad und Blitz hatten am Ufer geschlafen, im warmen Sand, aber sie wollte das Schiff nachts nicht allein lassen. Sie konnte es nicht verlassen, es war, als würde es ihr in den Knochen stecken. Lexan war bei ihr geblieben. Vielleicht, hatte sie damals gedacht, fürchtet er, dass Blitz oder Bajad mich nachts besuchen. Aber sie wusste, dass keiner von den beiden das jemals tun würde, Blitz nicht, weil er in ihr nur die gute Freundin sah, Bajad nicht, weil er stets Abstand wahrte. Aber es war ihr recht, mit ihrem Bruder zusammen zu sein. An diesen Abenden gehörte er nur ihr und sie konnten bis zum Einschlafen reden. Sie ließen sich von den sanften Wellen schaukeln, wenn sie an Deck schliefen und den Sternen neue Namen gaben und neue Sternbilder erfanden. Sie hatten sich unterhalten, bis der Mond aufging, groß und rund, und seinen silbernen Schein über die Weiße Möwe warf, und wenn sie die Augen schlossen, konnten sie das Licht auf ihren Lidern fühlen, nicht heiß wie die aufdringlichen Sonnenstrahlen, sondern sanft und verlockend.

»Als wäre es das Auge Rins«, sagte Lexan leise, als Mino schon fast eingeschlafen war, »das auf uns herabblickt.«

»Und die Sonne?«, fragte sie träge zurück. Lexan war immer derjenige, der die passenden Worte fand. Stundenlang konnte er dasitzen und nach Worten suchen, bis ihre Mutter ihn aufjagte und an die Arbeit schickte.

»Die Sonne«, meinte Lexan verträumt, »ist wie Rins anderes Auge.«

»Ja«, stimmte Mino zu, schläfrig und zufrieden. Sie war mit allem zufrieden, was Lexan sagte, selbst wenn es sich zuerst verrückt anhörte. Lexans Verrücktheiten erwiesen sich meist als gut durchdacht.

»Ich werde ihm folgen«, sagte Lexan.

»Wem?« Sie war schon auf dem halben Weg in den Schlaf. Ihr war, als wäre die Hälfte ihres Körpers bereits in die Matte eingesunken, und ihr Kopf verschwand schon halb im Kissen. Nur noch ein paar Augenblicke, und nicht einmal mehr ihre Nasenspitze würde zu sehen sein. Sie atmete tief ein und sank noch ein Stückchen tiefer in den ersten ihrer lebhaften Träume.

»Vater. Ich werde ihm nachsegeln, Mino. Ich hätte es schon damals tun sollen, als er sich von uns verabschiedete. Ich wusste, dass ich zu ihm gehöre, auf sein Schiff, selbst wenn ich nur Schiffsjunge geworden wäre. Es war falsch, dass ich mich von Mutter zurückhalten ließ.« Lexan hielt sein Gesicht ins Mondlicht. »Ich kann bald an nichts anderes mehr denken. Wenn der Sommer vorbei ist, werde ich fahren.«

In diesem Moment schlug der Schlaf über ihr zusammen und sie konnte nichts mehr fragen, sich nicht empören oder versuchen, ihrem Bruder die Sache auszureden. Das Letzte, was ihr über die Lippen glitt, bevor ihre Zunge ihr zu schwer wurde, waren die Worte: »Ich auch.«

Erst gegen Mittag des nächsten Tages hatte Mino sich wieder an ihr Gespräch vor dem Einschlafen erinnert. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht einen Teil davon geträumt hatte, aber es war Lexan, der als Erster wieder davon anfing.

»Du kommst also mit?«

Es war doch kein Traum gewesen. Stattdessen wuchs sich die Sache zu einem Albtraum aus. Bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte, wusste Mino, dass es schwierig sein würde, Lexan diesen Wahnsinn auszureden.

»Mit der Weißen Möwe? Du spinnst. Wir sind Obstbauern. Wir sind nicht einmal Fischer und erst recht keine Seefahrer.«

In Lexans Augen glühte sein Entschluss. Er würde es tun. Es gab nichts, das so sicher war wie das; es gab nichts, was ihn zurückhalten konnte. Fast nichts.

»Du wirst Mutter das Herz brechen«, sagte Mino und vielleicht war dies der einzige Satz, mit dem sie Lexan wirklich wehtun konnte. Sie bereute es schon, sobald sie es ausgesprochen hatte, aber nun konnte sie die Worte nicht mehr zurücknehmen.

Lexan schwieg eine ganze Weile und Mino wartete bang auf seine Antwort. Dann soll sie doch mitkommen, würde er sagen, dann soll sie doch mit aufs Boot steigen, verdammt noch mal, wenn ihr so viel an mir liegt.

Aber Lexan sagte etwas anderes. »Es tut mir leid«, sagte er nur. Und da wusste Mino, wenn sie es nicht schon längst gewusst hätte, dass sein Entschluss endgültig war.

Die große Holzkiste füllte sich allmählich mit Kleidungsstücken und Andenken aus ihrer Kindheit. Einen Gegenstand nach dem anderen holte Lexan aus den Tiefen des Schranks heraus und bettete ihn zwischen seine Hemden. Auf einmal drehte er sich zu Mino um, auf seiner Hand saß ein Vogel, geschnitzt aus hellem Holz.

»Den hat Vater gemacht«, sagte er langsam.

»Ich weiß.« Mino blickte an ihrem Bruder vorbei zum Fenster. »Ich kann mich noch daran erinnern.«

Lexan zögerte. »Ich werde ihn hierlassen. Für dich.« Er legte die kleine Figur in die Hand seiner Schwester. Mino zwang sich dazu, sie anzusehen. Es war eine Möwe, die Flügel ausgebreitet, die Struktur ihrer Federn so lebensecht ins Holz geritzt, dass man, bevor man sie berührte, fast erwarten konnte, dass die Figur so weich wie ein echter Vogel sein würde. Aber das war sie nicht. Hart war sie und schwer, zum Fliegen absolut untauglich.

»Danke«, sagte sie und biss sich auf die Lippen, bevor sie sich dazu hinreißen ließ, noch mehr zu sagen, Worte, die sie später mit Sicherheit bereuen würde.

»Willst du nicht doch mit?«, fragte Lexan leise. »Wir könnten ihn gemeinsam suchen.«

Mino sah auf. »Vater ist seit zehn Jahren fort«, sagte sie schroff, »er ist tot.«

»Ich weiß, dass Mutter das glaubt«, sagte Lexan. »Aber du? Denkst du das wirklich? Wir haben beide gesehen, wie er fortgesegelt ist. Weißt du noch, wie wir geweint haben, du sechs Jahre alt, ich vierzehn? Damals habe ich gewusst, dass er Rinland finden würde.«

»Aber geweint hast du trotzdem«, erinnerte Mino ihn.

»Weil er uns verlassen hat, ja.«

»Und jetzt willst du uns verlassen? Wie kannst du uns das antun? Wie kannst du das Mutter antun?« Sie hatte sich so fest vorgenommen, nicht zu betteln. Wie konnte man jemanden festhalten, der fortwollte? Aber der Abschied rückte immer näher und in ihr wuchs die Panik. Ich verliere ihn, dachte sie, es geschieht jetzt, ich verliere ihn.

Lexan setzte sich neben Mino aufs Bett. »Du meinst, wie kann ich dir das antun, nicht wahr?«

 

Mino drehte das Gesicht fort.

»Du bist meine Schwester. Du wirst es immer sein. Aber ...«

»Früher gab es kein Aber für dich.«

»Dann komm mit! Wir können gemeinsam auf die Reise gehen! Ich möchte dich so gerne dabeihaben. Stell dir vor, unser gemeinsames Abenteuer. Wir segeln der untergehenden Sonne hinterher, wir folgen ihr bis hinter den Horizont. Mino! Wie kannst du hierbleiben? Es wird sein wie damals, als Vater abfuhr. Willst du wirklich am Ufer stehen bleiben und winken? Ich wollte schon damals mit dabei sein. Ich hätte es tun sollen, weißt du? Vater wollte, dass ich es tue. Aber Mutter ... Nun ja, du weißt ja, wie sie ist.«

»Sie ist jedenfalls keine Träumerin«, sagte Mino, plötzlich heftig. »Sie steht mit beiden Beinen auf dieser Erde. Und anders hätte sie es wohl auch kaum geschafft, die Familie durchzubringen, als Vater uns einfach im Stich gelassen hat.«

Lexan stand abrupt auf. »Ich werde diese Diskussion nicht weiterführen.« Zornig warf er den Deckel seiner Kiste zu.

»Ach nein?«, fragte Mino. »Warum nicht? Weil du vielleicht irgendwann zugeben müsstest, dass sie recht hat? Dass unser geliebter Vater doch nicht so vollkommen war, wie du gerne glauben möchtest?«

Sie starrten sich an. Mino war genauso überrascht über die Wut in Lexans Augen wie über ihre eigene Wut, die so unvermittelt aus ihr herausbrach. Lexan war der Sanfte, der Träumer und Denker, nicht derjenige, der im Haus herumschrie, so dass die Nachbarn es hören konnten. Und sie selber, obwohl sie ihre Gefühle lang nicht so gut beherrschen konnte, war niemals wütend auf Lexan gewesen, auf ihren wunderbaren älteren Bruder. Es zu spüren, dieses köstliche, eigenständige Gefühl gerechten Zorns, war zugleich erregend und niederschmetternd.

Lexan schüttelte den Kopf und wandte sich ab, und das war vielleicht das Allerschlimmste. Dass sie so auseinandergingen, im Streit, obwohl sie doch zusammen hätten losziehen müssen. Lexan nahm den Strick des Rollbretts auf, auf dem seine Kiste stand, und zog sein Gepäck aus dem Zimmer, und Mino starrte ihm nach und spürte, wie ihr der Schmerz und die Wut die Kehle zuschnürten.

Später ging sie zum Hafen. Jußait rollte gerade ein kleines Fass über die Rampe. Als sie Mino sah, lächelte sie und strich sich das Haar aus der Stirn. Es war so schwarz wie ihre Augen. Früher hatte Mino geglaubt, dass sie eines Tages Jußaits Brautjungfer sein würde, wenn ihre Freundin Lexan heiratete. Sie hatte immer daran geglaubt, dass die beiden eines Tages heiraten würden; Blitz war der Einzige, der nichts davon hören wollte. Nun gut, manchmal schienen nicht einmal Lexan und Jußait zu wissen, wie es um sie stand. Manchmal sah es wirklich so aus, als wären sie nur gute Freunde. Doch nun würde sie mit Lexan und Bajad übers Meer segeln.

Jußaits Lächeln verblasste, als sie Minos grimmiges Gesicht sah.

»Du solltest nicht so wütend auf uns sein, Mino.«

»Ich frage mich immer wieder, wie Lexan es geschafft hat, dich dazu zu überreden«, sagte Mino. »Es ist nicht einmal dein Vater, den ihr sucht.«

»Nein«, gab Jußait zu, »aber immerhin waren zwei meiner Onkel Seeleute auf Res Schiff.« Sie gab ihrem Fass einen Stoß und wuchtete es über die Kante. Mino rührte keinen Finger, um ihr zu helfen.

An Bord der Weißen Möwe richtete Jußait sich auf und blickte auf Mino hinunter. »Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass es gar nicht nur um deinen Vater geht? Und auch nicht um unsere anderen Verwandten? Weder für mich noch für Bajad oder Blitz oder Lexan?«

»Lexan geht es darum, Vater zu folgen.« Sie fügte hinzu: »So ein mörderischer Wahnsinn.«

Jußait schüttelte den Kopf. »Nein, Mino. Wenn es nur darum gehen würde, einen verschwundenen Fischer zu suchen, glaubst du, ich würde mich darauf einlassen?«

Sie wollte es nicht hören, nicht das, was Jußait jetzt sagte. »Rinland«, sagte sie. »Nur deswegen bin ich hier.«

»Das glaubst du doch selbst nicht. Du fährst nur mit, weil du total in Lexan verschossen bist!« Mino drehte sich um und ging zurück.

»Es ist auch deine Reise!«, rief Jußait ihr nach. »Und du weißt es!«

Mino hielt ihr Gesicht in den Wind. Sie wusste, dass Lexan auf diesen Wind gewartet hatte, auf den nahenden Herbst, dessen Stürme ihn weit hinaus aufs Meer tragen sollten. Er wird untergehen. Er wird sterben und ich werde ihn nie wiedersehen, so wie Vater. Ich sollte dabei sein, ich sollte bei ihm sein, wenn es geschieht, wenn er einsieht, dass er einen Fehler gemacht hat. Vielleicht könnte ich ihn dazu überreden, umzukehren – falls wir den ersten Sturm überleben.

Wir.

Mino biss die Zähne zusammen. Es gab kein Wir. Sie würde nicht dabei sein auf der Weißen Möwe, wenn sie den Hafen verließ. Sie nicht und – was hatte Jußait gesagt? Sie und Bajad und Blitz und Lexan ...

Blitz?

Mino begann zu rennen. Das würde El Jati niemals zulassen! Sie konnte ihren Bruder vielleicht nicht aufhalten, aber El Jati würde niemals erlauben, dass sein Bruder sich auf diese gefährliche Reise begab.

»He, wohin so schnell?« Sie war in Bajad hineingerannt, der mit einem großen Seesack in der Hand pfeifend den Pfad entlangkam. »Holst du noch schnell deine Sachen?« Einen Augenblick lang hielt er Mino fest, und in dieser kurzen Zeit schoss Mino durch den Kopf, wie es wohl wäre, wenn er sie einfach packen und mitnehmen würde.

»Du weißt, dass ich nicht mitkommen kann.«

»Du kannst nicht?« Bajad schüttelte den Kopf. »Das ist mir neu. Ich dachte bisher immer, du willst nicht.«

Bajad war der älteste der Freunde. Er hatte schon auf vielen Schiffen als Matrose gearbeitet und würde Lexan eine unschätzbare Hilfe sein. Aber dass ein Seemann wie er sich überhaupt auf dieses Abenteuer einließ, ging über Minos Verstand.

Sie schaute ihn an. In seinen braunen Augen lag all seine Zuneigung, die er nie vor ihr verborgen hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass sie sich darauf verlassen konnte, auf seine starken, ruhigen Gefühle, aber anscheinend war das ein Irrtum gewesen. Wie konnte er auf dieses Schiff gehen, wenn sie ihm etwas bedeutete?

»Bleib hier, Bajad«, drängte sie ihn. »Bajad ...«

Aber er blickte sie nur an, liebevoll und zugleich traurig. Ihre ganze Verzweiflung loderte in ihr hoch wie eine Stichflamme.

»Und Blitz? Seit wann kommt Blitz auch mit?«

Sein Zögern entging Mino nicht.

»Das kann doch nicht wahr sein! Er tut das gegen El Jatis Willen? Er reißt einfach aus?«

»Hör zu, Mino ...« Bajad versuchte, sie zurückzuhalten, aber Mino riss sich los und rannte weiter. Ihr Herz hämmerte. Blitz war ihr bester Freund und sie hatte immer Trost darin gefunden, dass er hier bleiben würde, mit ihr zusammen. Selbst wenn die anderen fortfuhren, würde Blitz ihr bleiben, und selbst wenn er immer nur den Menschen in ihr sah, mit dem man reden und Pläne schmieden konnte, auch wenn er nie sein Herz an sie verlor, würde sie immer getröstet sein, allein durch seine Gegenwart. Er durfte nicht einfach den Willen seiner Familie missachten und mitfahren! Lexan und Jußait und Bajad und auch noch Blitz verlieren, auf einen Schlag? Das war zu viel.

Keuchend erreichte Mino das Dorf. Das kleine Haus der Brüder El Jati und Blitz lag etwas abseits, inmitten eines gepflegten Gartens voller Rosen und Blumen. Alika hatte ein Händchen für alles, was grünte und blühte. Mino fand sie draußen, einen Korb über dem Arm.

»Wo ist El Jati? Wo ist Blitz?«

Alika trug ihr langes, schwarzes Haar immer offen, sie liebte es, wenn der Wind darin spielte. Ihre dunklen Augen erinnerten Mino an Jußait, obwohl die beiden nicht verwandt waren. So mussten Frauen aussehen, wie diese beiden: schwarzhaarig, dunkeläugig. Das war die Art Mädchen, die Blitz bewunderte; wie oft hatte er davon gesprochen, dass er eines Tages eine wie sie finden würde, wie El Jatis wunderbare blumenpflegende Kriegerin aus Salien. Allerdings war Blitz auch davon ausgegangen, dass Jußait sich eines Tages in ihn verlieben würde. Irgendwann wird sie mir gehören, hatte er gesagt, das schönste Mädchen der Insel, und damit hatte er bestimmt nicht Mino gemeint. Blitz, den sie alle liebten, diesen lebhaften Jungen mit dem frechen Grinsen. Er war der festen Überzeugung, dass er, wenn es soweit war, wählen konnte, wen er wollte – natürlich Jußait –, und bis dahin waren alle Mädchen sein.

»Alika! Wo sind sie? Wo ist Blitz?«

»El Jati ist in der Plantage. Blitz ist drinnen im Haus, glaube ich. Was ist denn los?«

»Hol El Jati her! Jetzt! Schnell! Ich werde versuchen, Blitz solange aufzuhalten! Beeil dich!«

Mino ließ die verwirrte Alika am Zaun stehen und stürmte durch die angelehnte Haustür nach drinnen.

Blitz’ Gepäck stand bereit. Er selbst saß am Tisch und trank; als er seine Freundin sah, stellte er das Glas ab und lachte.

»Mino! Ich wusste, dass du kommst! Ich wusste, dass wir uns noch sehen würden!«

Mino machte die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Sie atmete tief durch. Bis jetzt hatte sie gehofft, dass Jußait und Bajad sich irrten und Blitz nicht wirklich vorhatte, mitzukommen. Er sprach oft und viel davon, was er alles tun würde, und löste seine Versprechen selten ein. Es hätte zu ihm gepasst, wenn er diese Schiffsreise geplant hätte, im festen Glauben, dass sie das wichtigste Ereignis seines Lebens war, und im letzten Moment eine noch bessere Idee bekommen hätte.

»Ich fasse es nicht«, sagte Mino langsam.

»Das kann ich verstehen«, meinte Blitz heiter. »Mir kommt es auch noch ganz unwirklich vor. Bis jetzt war ich mir nicht sicher, ob ich es wirklich tun werde. Aber heute morgen bin ich aufgewacht und es war alles so klar ... Wir werden lossegeln und Rinland finden. Worüber machen sich eigentlich alle so große Sorgen? Es ist ganz einfach, nicht?«

»Du kannst nicht mitfahren«, sagte Mino. In ihren Ohren pochte das Blut.

Blitz hörte ihr nicht zu. »Ich habe gehofft, dass wir uns noch verabschieden können. Ich wusste ja nicht, ob du überhaupt zum Hafen kommen wirst. Lexan meinte, dass es dir vielleicht zu schwer fallen würde. Aber ...«

Mino unterbrach ihn. »Du verstehst nicht, Blitz. Du wirst nicht mitfahren. Du kannst nicht. Du darfst nicht. Dein Bruder hat es dir verboten, nicht? Du wirst nicht auf diesem Schiff sein.«