Der Thron des Riesenkaisers

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Der Thron des Riesenkaisers
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Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers

Band 3 der Trilogie „Sehnsucht nach Rinland“

Roman


Zu diesem Buch

Der gefürchtete Riese Zukata hat sein Ziel erreicht und herrscht nun über das Kaiserreich. Doch seine Räuber und Kaisergänger missbrauchen die Macht, die er ihnen verliehen hat. Besonders das Ziehende Volk hat unter der Willkür der Tyrannen zu leiden.

Wutentbrannt macht Sorayn sich auf, um den Kaiser zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz seiner ungeheuren Stärke ist der junge Mann jedoch nicht so unbesiegbar, wie er dachte: Seine Gegner haben seine Schwachstelle gefunden, sein Herz …

In der Zwischenzeit entdeckt Blitz in den unterirdischen Gewölben eines Klosters eine geheimnisvolle Schriftrolle aus Rinland. Kann er mit Hilfe der uralten Briefe herausfinden, wieso das Meer über die Ufer tritt und wie man der Flut entgeht? Bald müssen die Helden sich entscheiden, ob der Kampf gegen Zukata wirklich das Wichtigste in ihrem Leben ist.

Fesselnd bis zur letzten Seite - Der Thron des Riesenkaisers ist der packende Abschluss der Trilogie Sehnsucht nach Rinland, in der es um die Sehnsucht nach Heilung und Geborgenheit in Gott geht, zwischen Pflicht und Ehrgeiz, Schuld und Hoffnung. Dazu bedient sich die Trilogie zahlreicher biblischer Motive.

Die weiße Möwe bildet den Auftakt; Der Erbe des Riesen ist der zweite Band der Fantasy-Trilogie Sehnsucht nach Rinland.

Leserstimmen zur Rinland-Trilogie

„Sprachlich wunderschön.“ Titus Müller

„Ein Fantasy-Schinken der außergewöhnlich guten Art!“

„Wunderbar fesselnd geschrieben.“

„Die Story ist absolut filmreif, nie vorhersehbar, super interessante Charaktere und unglaublich spannend bis zur letzten Seite.“

„Mit dieser weißen Möwe fliegt man direkt ins Land der Fantasie und möchte nie mehr weg von diesem Ort.“

Über die Autorin

Lena Klassen lebt leider nicht auf einer Insel, braucht aber das Meer. Oder wenigstens einen Sturm und ein gutes Buch. Sie hat Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie studiert und über phantastische Literatur promoviert. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kleinen Haus mit großem Garten im ländlichen Westfalen.

Lena Klassen hat bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Im Neufeld Verlag erschien neben der Rinland-Trilogie auch der Roman Caros Lächeln.

www.lenaklassen.de

Impressum

Dieses Buch als E-Book:

ISBN 978-3-86256-768-3

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-937896-82-3, Bestell-Nummer 588 782

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbilder: © ShutterStock® Satz: Neufeld Verlag

© 2009 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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Inhalt

Zu diesem Buch

Leserstimmen zur Rinland-Trilogie

Über die Autorin

Die Welt

Was bisher geschah

Die Personen dieser Geschichte

Drittes Buch: Der Thron des Riesenkaisers

1. Sorayns Boot

2. Der Silberne Krug und eine Kette aus Eisen

3. Tribut

4. Kein Entrinnen

5. Ein alter Bekannter

6. Schläge ins Gesicht

7. Die Last auf den Schultern

8. Das Herz der Königin

9. Schlafmut

10. Gefangen sein

11. Kalter Wind

12. Ein wichtiges Schriftstück

13. Mein Labyrinth

14. Mein Lied

15. Das Fest der Brücke

16. Briefe aus Rinland

17. Über die Brücke

18. Deinetwegen

19. Begraben

20. Die Macht deiner Stimme

21. Ketas Hände

22. Zukatas Frau

23. Die Falle

24. Gekrönt

25. Hinunter

26. Nach dem Winter

27. Der Thron des Riesenkaisers

28. Sorayns Schiff

Über den Verlag

Die Welt

Wir befinden uns im Kaiserreich Deret-Aif, einem Staatenbund aus vierundzwanzig Königreichen. In der Hauptstadt Kirifas sitzt der gefürchtete Riese Zukata auf dem Thron und herrscht über das große Reich, das er unter seinen Getreuen – Räubern und Betrügern – aufgeteilt hat. Jeder, der sein Brandmal trägt, darf sich »Kaisergänger« nennen und tun, was ihm beliebt. Von den Küsten her kommt weitere Bedrängnis; die Inseln versinken im Meer, das Wasser steigt.

Was bisher geschah

Nachdem Mino, das Albinomädchen von den Glücklichen Inseln, ihren Jugendfreund Blitz daran gehindert hat, mit ihrem Bruder und ein paar Freunden auf das kleine Segelboot Die Weiße Möwe zu gehen, um die sagenhafte Insel Rinland zu suchen, bleibt nichts mehr, wie es war. Blitz läuft von zu Hause fort und fällt in die Hände des Riesenprinzen Zukata, der ihn dazu zwingt, seiner Räuberbande beizutreten. Mino verliert in einem Sturm ihr Gedächtnis und wird vom Riesen Keta, dem Wanderheiler, aufgelesen. Beide Riesen sind Söhne des gütigen Kaisers Kanuna, der soeben zum zweiten Mal geheiratet hat. Als die Geburt der kleinen Prinzessin Manina verkündet wird, verlangt Zukata von seinem Vater den Segen, der ihn zum legitimen Erben macht. Doch diesen Segen hat Keta sich bereits erschlichen; ihm verdankt er seine heilenden Hände.

Wutentbrannt entführt Zukata die kleine Prinzessin. Während Keta zusammen mit Mino und einigen Gefährten aus dem Volk der Zintas nach ihnen sucht, kümmert Blitz sich in Zukatas Räuberlager um die Kleine und beschließt zu fliehen. Mit einem Pilgerschiff kehrt er zurück ins Kaiserreich, lernt auf dem Weg die junge Novizin Ilinias kennen und lieben und bringt Manina schließlich heil nach Hause zu ihren Eltern. Blitz und Ilinias bleiben am Kaiserhof. Als Mino ihn dort trifft, findet sie ihr Gedächtnis wieder, doch da er verheiratet ist, kehrt sie tiefunglücklich nach Hause zurück.

 

Um sich an Blitz zu rächen, zerstört Zukata das friedliche Leben auf den Glücklichen Inseln. Er entführt Erion, den Sohn des Weinfürsten der Insel Neiara, und zwingt dessen Eltern dadurch in seinen Dienst. Erion bewährt sich in Zukatas Bande und wächst zu seiner rechten Hand heran; ihm verdankt Zukata die Hochzeit mit Prinzessin Sidini von Yos, durch die der Räuberprinz seine Macht im Osten ausbauen kann.

Mino bekommt heimlich ein uneheliches Kind, doch sie muss die kleine Maja bei ihren Freunden aufwachsen lassen und den Gutsverwalter Norha heiraten, der sich immer tiefer in kriminelle Machenschaften verstrickt. Als ihr Leben ernsthaft bedroht ist, flieht sie mit Hilfe ihrer Freunde Jamai und Kroa.

Auch Blitz und Ilinias bekommen ein Kind, Sorayn, einen missgebildeten und unter fürchterlichen Schmerzen leidenden Jungen. Sein Körper kann sich nicht entscheiden, ob er ein Mensch ist oder – durch seine Mutter, Zukatas Tochter – ein Riese. Ilinias gibt ihn fort, lässt Blitz jedoch glauben, er sei ertrunken. Sorayn wächst auf der Insel Neiara auf; von Menschen verachtet, wendet er sich den Tieren und den Büchern zu. Seine Briefe verzaubern das Mädchen Maja, in das er sich verliebt hat, doch über sein schreckliches Äußeres kann sie nicht hinwegsehen. Verzweifelt steckt Sorayn seine Energie in den Kampf gegen den tyrannischen Inselherrn. Sein Vater Blitz, der endlich herausgefunden hat, dass er noch lebt, ermöglicht ihm die Flucht, gerät jedoch in Gefangenschaft. Alle seine Freunde halten ihn für tot.

Sorayn gelangt ins Gebirge, wo er im Kampf mit den dort lebenden wilden Riesen sein wahres Wesen findet und sich zu ihrem König aufschwingt. Als Zukata nach dem Tod des Kaisers eine Armee aufstellt, um sich die Herrschaft über Deret-Aif zu sichern, macht sich auch Sorayn mit seinen Riesen auf nach Kirifas. Unterwegs findet er Maja wieder, die den nunmehr attraktiven Mann Hals über Kopf heiratet und ihn zu Keta führt, von dem Sorayn sich den Segen erzwingt. Es gelingt ihm auch, Manina dazu zu bewegen, den Thron für ihn freizumachen. Doch die Geschichte geht nicht so aus, wie Sorayn sich erhofft hat: Enttäuscht wendet Maja sich von ihm ab. Der Segen untermauert seinen Anspruch auf die Krone, macht es ihm aber unmöglich, den Tod von Menschen zu ertragen. Um einen blutigen Krieg zu vermeiden, überlässt Sorayn Zukata den Thron.

Die Personen dieser Geschichte

A I R E: eine Nonne, hat vor Jahren von ihrer Freundin Ilinias einen Eimer Waschwasser über den Kopf geschüttet bekommen

B L I T Z: Ausbruchskünstler, Träumer, Krieger und Seemann, ein Mann, den man nicht so schnell vergisst

D O G L A: Kapitän eines Frachtschiffs, muss auf seine Kajüte verzichten

D R E A: der Führer einer Gruppe Pilger

E D M O N D A: eine Prinzessin aus dem hohen Norden, die Kälte hasst

E R I O N: Zukatas rechte Hand, höflich und gut aussehend, hat viele fiese Ideen

F R I A: eine Riesin, ist schon lange nicht mehr mit Sorayn zusammen

I L I N I A S: Zukatas Tochter, eine verbitterte Amazone

J A M A I: ein Mann aus dem Ziehenden Volk, liebt Mino seit vielen Jahren

K A N I J A: eine Fürstin am Kaiserhof mit unfehlbarem Geschmack

K E T A: der Zwillingsbruder des Kaisers, ein Wanderheiler ohne Ehrgeiz, von den Ziehenden »Remanaine« genannt

K R O A: ein Zwerg, unzertrennlicher Freund von Mino und Jamai

L I A D E T T: Norhas Gemahlin, kommt nur am Rande vor und verdient auch nicht mehr

M A J A: ein hübsches Mädchen mit Herz und Musikalität, Sorayns Frau

M A N I N A: eine blonde Prinzessin, Zukatas Halbschwester, war früher Kaiserin

M I N O: auch »Möwe«, zieht mit ihren Freunden durchs Land und sehnt sich nach Ankunft

N O R H A: war früher, als er Mino heiratete, eigentlich noch ganz nett. Jetzt nicht mehr

O D A D: ein greiser Fürst in einer Burg

O K A: der König von Wenz, unterwirft sich nicht Zukata

O R I: ein kleines Mädchen mit einem schweren Leben

P I D O R: ein Fürst, der hohen Tribut verlangt

R I N: der größte aller Riesen, hat die Welt erschaffen

R O N A: eine einfache Frau, die dankbar ist

R U B A R: König von Salien, zieht den Kopf ein

R U F I N: ein Mönch, der ungern mit Frauen spricht

S C H A V I L A I: früher Ilinias’ Freundin, jetzt eine stolze Äbtissin

S E T T A N: als engster von Zukatas Vertrauten wurde er König von Laring

S I D I N I: Zukatas Frau, ein zartes Wesen, bringt ihn in Rage

S O R A Y N: Sohn von Blitz und Ilinias, ein Mann mit einzigartigen Talenten

S T O L L O: Wirt, beschäftigt zwei Prinzessinnen und weiß nichts davon

S U R E S C H: ein Piratenkapitän, der einen gefährlichen Mann aufgabelt

T A M A I T: Majas Bruder, treu und kampferprobt

T O R I S: ein Mann aus dem Ziehenden Volk, Majas Vater

U S E: ein kranker Riese

V A R I T I: Ketas Frau, weise und gütig

W I L U: Piratenkapitän, bekommt es mit der Angst

Z U K A T A: ein reizbarer Riese, der Kaiser von Deret-Aif

Drittes Buch: Der Thron des Riesenkaisers

1. Sorayns Boot

D A SG R A U EW A S S E Rleckte gierig an den Steinen. Mit unzähligen Fingern und Zungen streckte es sich nach ihnen aus und glitt dann wieder zurück, nur um im nächsten Moment einen neuen Angriff zu starten.

Der schwarzhaarige Mann, der in Ufernähe auf einem moosbewachsenen Balken saß und den Wellen bei ihrem Spiel zuschaute, wirkte in seiner durchnässten, zerlumpten Kleidung wie ein Schiffbrüchiger. In seinen Augen lag das ungläubige Staunen eines Menschen, der noch nicht recht begreift, dass er entkommen ist.

Ein Windstoß peitschte ihm die Gischt entgegen; mit tausend kleinen Nadelstichen neckte und quälte sie ihn. Dennoch wandte er sich nicht ab, sondern hielt sein Gesicht dem Meer entgegen, hungrig nach der Berührung. Schließlich hob er den Blick. Über den Himmel rasten die Wolken, tief und dunkel, und wie zur Bestätigung dessen, was er längst hätte begreifen müssen, schnappte die erste Welle mit kalten Zähnen nach seinen Füßen.

Blitz stand auf. Er war müde bis in die Knochen, aber den Sturm hier abzuwarten, grenzte an Selbstmord. Lange genug war er in der schwarzen Burg, die sich über den Klippen erhob, eingesperrt gewesen; darauf, sein Leben zwischen finsteren Wassermassen zu beschließen, legte er es nicht an. Zu den schnellen, gewandten Bewegungen, die ihm sonst eigen waren, war er jetzt, nass, durchgefroren und erschöpft, nicht in der Lage. Wie ein uralter Mann fühlte er sich, während er steifbeinig über die Steine kletterte, landeinwärts. Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Die Hütten der Fischer, in denen er jetzt gerne Zuflucht gesucht hätte, standen schon lange nicht mehr. Das Meer holte sich die Insel zurück; hier oben, wo er sich jetzt umdrehte, um noch einmal auf die aufgewühlte See hinauszuschauen, hatten früher einmal eine Reihe Weinstöcke Frucht getragen. Stümpfe ragten ins hohe, vom Wind niedergepeitschte Gras. Auf dieser Seite Neiaras gab es wahrscheinlich erst einen Unterschlupf, wenn er dem Weg nach oben in die Hügel folgte. Besondere Ansprüche hatte er keine. Auf einer Insel, die augenscheinlich verlassen war, gab es keine Hoffnung auf einen warmen Platz am Kamin, einen Teller Suppe und ein weiches Bett. Als er dem Weg zwischen den Hügeln hindurch folgte, tauchte ein baufälliges Haus vor ihm auf. Durch die große Toröffnung wankte er in einen offenen, von Schutt überfüllten Hof. Der immer stärker werdende Regen trieb ihn in einen der leeren Räume. Es trommelte aufs Dach, als würde der Sturm mit aller Macht versuchen, ihm zu folgen, aber er fand eine trockene Ecke, rollte sich zusammen und schlief.

Das Unwetter tobte die ganze Nacht. Blitz bekam nicht viel davon mit. Kälte und Nässe und das Heulen des Windes – das alles hatte er als Gefangener im Schloss fast tagtäglich miterlebt. Doch immerhin hatte er dort, wenn er morgens aufwachte, fast immer etwas zu essen bekommen. Hier jedoch konnte er seinem knurrenden Magen keine befriedigende Antwort geben. Er durchstöberte das verfallene Haus. Groß war es, viel größer als die üblichen Häuser auf den Glücklichen Inseln. Was war das hier – der Besitz des Weinfürsten Wikant, bevor er auf die Idee verfallen war, sich ein Schloss zu bauen? Und nun gab es für die Gäste nichts als Regenwasser, das nach Salz und Meer schmeckte.

Er musste unbedingt von dieser Insel herunter. Am besten noch heute, solange er bei Kräften war. Dass der Hafen nicht mehr existierte, hatte er gewusst, doch es musste doch irgendwo noch ein Boot zu finden sein, wenigstens ein kleines! Besaßen Wikant und Tinek nicht wenigstens ein einziges Schiff, um fliehen zu können? Die Antwort gab er sich selber. Sie waren nicht geflohen und sie hatten nicht den winzigsten Kahn.

Tinek! Blitz sah hoch zur schwarzen Burg; von hier aus konnte er nur die Spitze einer Zinne erkennen. Er musste die Fürstin mitnehmen, wenn er ging, so unwahrscheinlich es auch war, dass er eine Möglichkeit fand, von hier zu verschwinden. Sie hatte keine Hoffnung gehabt, das wusste er, er hatte es gesehen, wenn sie ihm die kärglichen Mahlzeiten brachte, die sie irgendwie aus irgendetwas zusammenkratzte. Zuversicht, die Tag für Tag schwand …

Blitz schauderte, wenn er nur an dieses Schloss dachte, den Ort, an dem sie ihn wie ein seltenes Haustier eingesperrt hatten, doch er zwang sich dazu, den Weg zu wählen, der ihn darauf zuführte. Er musste Tinek sagen, dass sie nicht aufgeben durfte. Er würde einen Weg finden, ein Boot, ein Floß, irgendein Gefährt.

»Tinek!« Seine Stimme war heiser, sein Hals brannte. Da stand er, vor sich eine unüberwindbare Schlucht. Steil ging es hinunter in eine finstere Tiefe, aus der das Wasser zu ihm hinaufrauschte. Der Sturm hatte die Zugbrücke weggerissen – niemand würde diese Burg je wieder betreten. »Tinek!« Er schrie, so laut er konnte, aber keine Hand zerrte die Bretter fort, kein Gesicht, bleich und ausgezehrt, erschien an einem der zugenagelten Fenster. Schließlich gab er es auf. Er wandte der Burg den Rücken zu und ging – und drehte sich noch einmal um, rasch, falls sie sich doch entschlossen hatte, sich zu zeigen – aber niemand rief ihn zurück. Alles blieb still. Nur das Meer, niemals müde, niemals still, lockte ihn hinaus ins Ungewisse.

Was brauchte man, um ein Floß zu bauen? Bretter gab es hier genug; das Dorf schien vor seinen Augen zu zerfallen. Doch Werkzeug gab es hier keins. Am Ende würde ihm nichts übrig bleiben, als sich mit einer Holzbohle allein aufs offene Meer hinauszuwagen und dort jämmerlich unterzugehen. War er dazu aus der Gefangenschaft entkommen – um auf einer verlassenen Insel zu sterben?

»Nicht dafür«, sagte er laut, sagte es trotzig, rief es den Wolken zu, als könnte dahinter, seinen Blicken verborgen, ein Riese stehen, der ihm zuhörte – der nur die Hände auszustrecken brauchte, um sein Schicksal zu wenden. »Nicht dafür! Um hier zu sterben? Ist das deine Gnade, Rin? Erst Freiheit und dann Tod? Nie und nimmer!« Es musste irgendwo einen Ausweg geben, eine Möglichkeit zur Rettung. »Es gibt sie!«, rief er dem unsichtbaren Riesen zu. »Ich werde sie finden, irgendwo hier … Ich gebe nicht auf! Du hattest so viele Gelegenheiten, mich nach Rinland zu holen. Du hast sie alle nicht genutzt. Hundert Mal wäre ich fast gestorben … und du hast mich noch nicht gerufen. Es gibt eine Möglichkeit. Zeig sie mir!«

Er durchsuchte die Häuser, erfüllt von einer Hoffnung, die so wie er einfach nicht sterben wollte, eine Hoffnung, immer ein Stück lebendiger als er selbst, ihm immer einen Schritt voraus. Die Bewohner hatten alles mitgenommen, was sich nur mitnehmen ließ. Wo waren sie hingezogen? Nach Drian, zum nächstgelegenen Festland? Oder hatten sie sich verstreut, übers ganze Kaiserreich, jeder dorthin, wohin das Schicksal ihn verschlug?

Wo Ilinias wohl war? Und Sorayn. Er setzte sich, den Rücken gegen eine Hauswand gelehnt, und dachte an seinen Sohn, an jenen unvergleichlichen Moment, in dem er den Jungen gefunden und im Arm gehalten hatte.

 

Rin ließ niemanden gehen, dessen Zeit noch nicht gekommen war. Wahrscheinlich war es vermessen zu glauben, dass der größte aller Riesen dieses Kind nur dafür am Leben gehalten hatte, dass Blitz es einmal umarmen konnte. Und doch war diese Erinnerung ein Schatz in seinem Herzen. Wie Gläser voller Eingemachtem bewahrte er sie in seinem Herzen auf, ein Keller, in den er hinuntersteigen konnte, um nach Belieben zu genießen. Den Duft vergangener Tage. Die Stunden, in denen er mit Mino ihr Baumversteck eingerichtet hatte … das waghalsige Klettern an der Steinküste, dieses unvergleichliche Gefühl, das Leben selbst bezwungen zu haben … Ilinias, wie sie vor ihm herlief, das flatternde weiße Haar … Manchmal war er kurz davor gewesen, gerade dieses Glas auf dem Boden zu zerschmettern und alle Erinnerungen an das Mädchen, das er aus dem Kloster entführt hatte, zu vernichten, nachdem der Geschmack der Bitterkeit alles Gewesene nachträglich durchdrungen hatte. Aber da war es noch, dieses Bild, wie sie lief und wie sie lachte, und dass er geglaubt hatte, in ihr all das gefunden zu haben, wonach er sich sehnte. Er hätte mit Mino fliehen können – und war doch bei Ilinias geblieben, die den gemeinsamen Sohn weggeworfen hatte wie einen zerbrochenen Teller.

Mino. Oh nein, denk nicht an Mino. Denk nicht an dieses andere blonde Mädchen, tu dir das nicht an. Aber auch das war einer der Augenblicke, die er in seinem Vorratskeller aufbewahrte, ein Glas, in dem der Geschmack lieblicher Pfirsiche und Aprikosen sich mit der Schärfe von Pfefferschoten mischte und ihm die Zunge verbrannte. Denk nicht daran, wie du ihre Hand gehalten hast. Denk nicht an die Umarmung, an dieses Gefühl innigster Nähe, das du bei Ilinias nicht einmal dann gefunden hast, wenn ihr zusammen im Bett wart. Denk nicht an Mino. Aber er konnte nicht anders. Hier, entkommen und doch dem Tod näher als je zuvor, konnte er nicht anders, als jeden Moment hervorzuholen und noch einmal auszukosten, einmal und ein zweites Mal und immer wieder. Mino im Schlossgarten, die auf ihn zulief, seinen Namen auf den Lippen. Mino, erwachsener geworden, fraulicher, genauso gebunden wie er … Ahinehl.

Was er auf dieser Welt am allermeisten liebte. Mino. Und Sorayn. Und beide hatte er nur kurz im Arm gehalten. Viel zu kurz. Liravah war es gewesen, die sich um seinen Sohn gekümmert hatte. All die Jahre war Sorayn bei ihr gewesen. Ganz in der Nähe musste ihre Hütte sein. Von dieser Seite war Blitz nie über die Insel gewandert, aber wenn er es sich recht überlegte, hatte das Häuschen seiner ehemaligen Lehrerin in jenem Waldstück gestanden. Man musste nur den Hügel herabsteigen, zwischen den Bäumen hindurch …

Sein Herz schlug hoch auf, als er die Hütte hell durch die Stämme schimmern sah. Der Wald hatte es vor den Stürmen beschützt, die über die Dörfer der Insel hinweggefegt waren. Genauso wie damals sah es aus, als er und Ilinias hergekommen waren. Ihr Kuss brannte immer noch auf seinen Lippen. Und Sorayn, damals noch zu klein zum Laufen, hatte in Liravahs weise Augen geblickt.

Das kleine Haus war schon lange verlassen. Die Tiere hatten es für sich in Anspruch genommen, und der Wald erdrückte es fast mit seiner innigen grünen Umarmung. In den kostbaren Büchern der alten Lehrerin hatten kleine Tiere ihre Schlafstätten gebaut, in den Winkeln unter dem Dach klebten Nester. Durchs Fenster sah Blitz auf den Tümpel hinaus. Wild zugewachsen reichte der Teich beinahe bis an die Außenmauer. Die Blumen, in ein altes Boot gepflanzt, wucherten wild, vom Gestrüpp noch nicht ganz verdrängt.

Ein Boot.

Blitz starrte eine Weile auf das, was er da vor sich hatte.

Ein Teich. Blumen, die sich nicht hatten unterkriegen lassen. Ein Boot.

Er nahm sich nicht die Zeit, aus dem Haus zu laufen. Die Glasscheibe war längst geborsten; er sprang durch die Fensteröffnung und kniete mit zitternden Händen vor dem ungewöhnlichen Pflanztrog. Die größtenteils abgeblätterte Farbe war immer noch zu erkennen. Blassblau. Ein blau gestrichenes kleines Ruderboot.

Er riss die Blumen und das Kraut aus, griff mit bloßen Händen in die Erde, hob eine Handvoll nach der anderen hinaus.

»Lass es nicht beschädigt sein … Ein Boot! Lass es heile sein, bitte! Oh Rin, bitte!«

Hunger und Müdigkeit waren vergessen, während er mit bloßen Händen die Erde hinausschaufelte und einen immer größer werdenden Haufen neben sich auftürmte. Es war tatsächlich ein Boot, das er aus dem Erdreich zog. Klein, eine Nussschale wie für ein Kind, und natürlich nicht unbeschädigt. Eine der Bohlen war zersplittert, aber das restliche Holz fühlte sich gut an und würde dem Wasser und seinem Gewicht standhalten. Zum Reparieren würde er ein paar Bretter benötigen, irgendetwas Passendes würde sich schon finden. Und etwas zum Verkleben – Pech vielleicht oder Harz? Es musste nicht lange halten. Nur eine Fahrt, eine einzige Fahrt.

Die See lag erstaunlich ruhig vor ihm, als hätte sie sich langsam vom letzten Sturm erholt und atmete tief durch, bevor das nächste Unwetter heraufzog. Noch ließen sich am Himmel keine Wolken blicken und der Wind war zwar frisch, aber nicht sehr stark. Das Meer, das er seit seiner Kindheit kannte, war unberechenbarer geworden und blieb doch vertraut. Als Blitz ins Boot stieg, wusste er, dass sich die Wetterlage innerhalb kürzester Zeit ändern konnte, doch er zögerte keinen Moment. Dies war seine einzige Gelegenheit zur Flucht. Eine zweite Chance würde es nicht geben.

Das Festland war nicht weit, aber ohne die Strömung, auf die er sich stets verlassen hatte, war nicht gewiss, wo er ankommen würde. Die Flut sollte ihn in Küstennähe tragen. Doch auf dieses unruhige, unwillige Meer war kein Verlass. Wie friedlich es tat, seine wilde, unbezähmbare Freundin! Launisch, mutwillig, vielleicht in der Stimmung, ihn zu verschlingen, vielleicht willens, ihm zu helfen. Wer konnte das wissen? Aber hier war das Boot. Hier war er, bereit, dem Tod erneut ein Schnippchen zu schlagen. Alles andere ging ihn nichts an; es würde kommen, wie es kommen musste.

Wieder einmal gab er sich ganz in die Hände des Riesen.

Glänzende Tropfen perlten von dem behelfsmäßigen Paddel. Die Sonne küsste seine trockenen Lippen. Als er um die Insel herumruderte, sah er noch einmal hoch zu Tineks und Wikants schwarzem Schloss auf der Spitze der Felsnadel. Dort, über dem Donnern der Brandung, war sein Gefängnis gewesen. Bitterkeit über die verlorenen Jahre wollte ihn erfüllen, stand schon bereit wie ein grimmiger Soldat in voller Rüstung, um in der Kammer seines Herzens wild mit der Lanze um sich zu stechen.

»Nicht verloren«, stieß er hervor, »nein, das nicht. Dort habe ich gelebt wie ein Prinz in einem Schloss. Wie ein Matrose auf seinem Schiff. Wie ein Einsiedler im Wald. Ich habe kein einziges Jahr verloren.« Und zugleich kam der Ruf aus seinem Mund: »Hilf mir. Oh Rin, bitte, hör mich an. Ich fürchte mich davor, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Lass mich nicht verloren sein. Ich wünsche mir, dass kein Tag meines Lebens vergeudet war.«

Konnte er nicht einmal einen Gedanken denken, ohne dabei um Hilfe zu bitten? Er schloss für einen Moment die Augen, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, den Wind, das Meer.

Lass mich nicht verloren sein …

Glück füllte sein Herz. Er war frei. Was brauchte er mehr als das – frei zu sein und ein Boot zu besitzen? Was scherten ihn der Hunger, die Nadelstiche der Kälte, die nassen Füße?

Erschrocken blickte er nach unten, wo eine Pfütze sich um seine Füße ausbreitete. Ein Leck! Die Reparatur hatte nur kurz gehalten. Immer schneller drang das Wasser durch den Riss. Und dabei war das Land schon zu sehen! Dort hinten – fern und noch leicht verschwommen, die sanften Erhebungen der Küste von Drian. Es durfte nicht wahr sein!

»Was machst du, Rin?«, fuhr er auf, während er verzweifelt Wasser schöpfte, hastig, mit bloßen Händen, ein Kampf gegen einen übermächtigen Feind. »Was tust du denn? Warum nimmst du mir dieses Wunder wieder weg? Rin! Rin!«

Rin antwortete nicht. Er antwortete nie, immer blieb er unsichtbar, immer einen Schritt hinter ihm oder vor ihm, immer lag dieses wissende Lächeln in der Luft.

»Tu das nicht! Oh nein, nicht jetzt, nicht jetzt!«

So schnell, wie das Wasser stieg, konnte er nicht schöpfen. Hier, mitten im Wasser, hier versagte der Kahn, hier, zwischen der Insel und dem Kaiserreich, musste er untergehen? Blitz konnte nur noch zusehen, wie das Meer sich lachend über das winzige Gefährt hermachte und es mit gierigen Zähnen herunterschluckte. Ihn ließ es übrig, als sei er eine Gräte, ungenießbar. Oder als sei er ein besonderer Leckerbissen, den es sich noch aufsparte. Denn entkommen lassen würde es ihn nicht. Von hier aus war es unmöglich, das Land schwimmend zu erreichen, er wusste das, und doch schwamm er los.

So lange ich kann. Ein Schwimmstoß und noch einer. Langsamer. Während das finstere Wasser meine Kleidung tränkt und die Tiefe mich ruft. Ist es dein Ruf, Rin, zu dir? Hältst du deine Hände unter mir, ausgebreitet, um mich zu dir zu holen?

»Noch nicht!«, rief er, doch eine große Woge schwappte über ihn und erstickte seinen Ruf.

Zu dir. Er konnte es fühlen, Rin war da. Ein Riese, größer als alles, ein Riese mit einem Lächeln. Fast konnte er es sehen. Fast konnte er seinen Atem auf der Stirn spüren und die großen warmen Hände.

Hab keine Angst.

Fast hätte Blitz gelacht. Während er mit den Wellen kämpfte und keinen Augenblick nachließ, war es doch so, als würde er nicht im kalten Wasser um sein Leben ringen, sondern als würden ihn die Hände des Riesen über die Untiefen hinwegtragen. Er atmete Wasser ein, hustete und spuckte und würgte, und doch glaubte er dieser Stimme, die zu ihm sagte: Gib nicht auf. Hab Mut. Sei stark. Fürchte dich nicht.

Wie war es möglich, sich gleichzeitig der Kraft des Riesen zu überlassen und weiterzumachen? Trotz Kälte und Schwere unermüdlich Arme und Beine zu bewegen? Wie konnte er einverstanden sein mit dem, was ihn erwartete, und doch immerzu weiterschwimmen, mit einer Ausdauer, die der eines Riesen gleichkam?

»Ich hab ihn! Na los. Und hepp!«

Arme um seine Schultern. Blitz brauchte eine Weile, bis er begriff, dass die Hände, die ihn gepackt hatten, nicht dem Riesen gehörten, der ihn begleitete, sondern einem Mann, und dass auch die anderen Hände zu fremden Menschen gehörten. Dass das Boot, in das sie ihn zogen, echt war. Und dass das Schiff, zu dem sie ruderten, schon eine ganze Weile in der Nähe gewesen sein musste. Er hatte es nur nicht gesehen.

Erst als sie ihm an Bord geholfen hatten, als er an Deck saß, ein grobes Tuch um die Schultern, und einige Schlucke eines sehr starken und sehr übelschmeckenden Getränks hinuntergekippt hatte, wurde ihm allmählich bewusst, wo er gelandet war. Etwas Vertrautes war an den Gestalten, die ihn umringten, an der Art, wie sie redeten, wie sie aussahen, wie sie lachten. Seeleute hatten immer eine raue Sprache, aber diese hier waren fast zu gut gekleidet für ein solches Schiff, das nicht nach einem Handelsfrachter aussah. Schöne Hemden mit großen Knöpfen, geflochtene Ledergürtel, gefärbte Tücher. Wenn dies ein reiches Kaufmannsschiff gewesen wäre, das gerade besonders gute Geschäfte gemacht hatte, hätte der Kapitän darauf geachtet, dass an Bord alles sauber war, die Galionsfigur neu gestrichen, die Segel geflickt. Doch dieses Schiff wurde schlampig geführt, von Leuten, die lieber tranken, als die Bohlen zu schrubben. Kein nüchterner Kapitän hätte so etwas geduldet. Diese Leute hier waren nicht stolz auf ihr Schiff, und wenn sie es doch waren, dann liebten sie es nicht. Lange genug hatte er unter Räubern gelebt, um zu erkennen, zu welchem Schlag ein Mensch gehörte. Das hier waren unzweifelhaft Piraten. Er musste sich nicht einmal umwenden und zu der schwarzen Flagge hinaufsehen.