Czytaj książkę: «Minarett», strona 3

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Vier

Es erstaunte meine Freunde nicht mehr, dass Anwar nach den Vorlesungen auf mich wartete. Wir gingen meist zur Cafeteria der naturwissenschaftlichen Fakultät, weil uns dort weniger Leute kannten, obwohl Anwar wegen seiner politischen Aktivitäten eine vertraute Erscheinung war. Er sprach nicht oft über Politik mit mir, aber manchmal fragte er mich seltsame Dinge.

»Wie viele Hausangestellte habt ihr?«

Ich begann nachzuzählen, was ich noch nie getan hatte. »Die Köchin, das äthiopische Mädchen, der Boy, der Wächter und Mûssa, der Chauffeur. Das sind alle. Nein, einen Gärtner haben wir noch, aber der kommt nicht jeden Tag.«

»Macht sechs.«

»Ja … sechs.«

»Und ihr seid zu viert?«

»Wir haben aber viele Gäste«, verteidigte ich mich. Der Campus war fast leer. Es war Mittagszeit, Siestazeit, und alle schützten sich drin vor der Sonne, aber es war immerhin Winter und die Sonne erträglich. Um vier oder fünf schien sie weniger grell, und dann würde sich der Campus für die Abendvorlesungen wieder füllen.

»Findest du es denn nicht ungerecht, dass es so krasse Unterschiede in den Lebensumständen gibt? Im Westsudan herrscht Hungersnot. Unser Land ist eines der ärmsten der Welt.«

Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und sagte: »Ich kann ja auch nichts machen.«

Seine Stimme wurde etwas sanfter, und so sah er mich auch an. »Aber das stimmt nicht. Wir müssen das System verändern. Es liegt immer an den Studenten und den Arbeitern, den Wandel zu bringen.«

Ich erzählte ihm, was ich im Time über die Iranische Revolution gelesen hatte. Es schien ihn zu belustigen, dass ich Time las. Vielleicht weil es auf Englisch geschrieben und mein Englisch sehr gut war, da ich eine Privatschule besucht hatte. Oder weil es eine amerikanische Zeitschrift war.

Ich wollte wissen, was er von der Revolution hielt. Er dozierte eine Weile darüber und begrüsste den Sturz des Schahs, war aber gegen einen islamischen Staat. Er sagte dasselbe wie Randa – »Wir müssen vorwärtsgehen und nicht zurück« – und sprach verächtlich von den schwarzen Tschadors.

»Dann hast du also ein sehr fortschrittliches Bild von der Rolle der Frau?« Ich lächelte erfreut über die Wendung, die das Gespräch nahm, denn jetzt konnte ich flirten und mir einmal mehr beweisen, dass ich ihm trotz meiner Herkunft gefiel.

Anwar schrieb für eine der Studentenzeitungen, die der Front. Die handschriftlichen Ausgaben wurden allwöchentlich ans Anschlagbrett der Cafeteria geheftet. Es gab jedes Mal einen Auflauf, die Studenten drängten sich davor und stellten sich auf die Zehenspitzen, um die obersten Seiten zu lesen, und hockten sich auf die Fersen für die unteren. Nach ein, zwei Tagen, wenn der Andrang nachgelassen hatte, riskierte ich auch einen Blick. Die meisten Artikel langweilten mich, aber seine las ich immer und versuchte ernsthaft, sie zu würdigen. Meist jedoch lenkten mich die Farben der Buchstaben und die Schönheit der Handschrift von der Bedeutung der Worte ab. Die Titel prangten in grossen, fliessenden Lettern und wirkten dreidimensional in ihrem kühnen Rot mit schwarzer Schattierung. Es gab auch einige Illustrationen: ein Blatt an einem Artikelende oder eine fliegende Taube. Auch Karikaturen, Glossen und ein zynischer Witz fehlten nicht. Innerhalb der Mauern der Universität herrschte Redefreiheit. Die Mauern der Universität waren heilig, und selbst die Polizei durfte nicht hinein. Aber alle wussten, dass es Spione gab. Stolz erzählte mir Anwar, dass die Geheimpolizei eine Akte über ihn hatte.

Wie er meinen Namen sagte. Wie er »Du lässt mich nicht kalt« sagte. Manchmal beleidigte er mich und nannte mich dumm, und manchmal brachte er mich zum Lachen.

Ich erzählte Mama von ihm. Sie sagte: »Setz deinen Ruf nicht aufs Spiel, und verschwende deine Zeit nicht mit einem, der nie ein passender Ehemann für dich sein wird.« Sie sah, dass ich nicht überzeugt war, und ihr Ton wurde schärfer: »Dein Vater würde nie einwilligen. Und mit deinem gewohnten Leben wäre es vorbei: keine Bediensteten und keine Reisen mehr. Glaub mir, du würdest dich schlecht fühlen vor deinen Freunden und der Familie. Es wäre eine solche Demütigung für dich und für uns.«

»Okay«, sagte ich allzu laut, »okay.«

Ihre Stimme wurde begütigend und wollte erklären. »Ich hab dich doch so erzogen, dass du in der Gesellschaft etwas gelten und einen gewissen Lebensstandard halten kannst.«

Ich stapfte hinaus und erhaschte den Blick echter Sorge in ihren Augen. Sie hatte Angst, ich könnte ungehorsam sein und etwas Überstürztes tun. Aber der Rhythmus des Studentenlebens lullte mich ein: Ich ging Tag für Tag an die Uni, und manchmal sah ich ihn und manchmal nicht. Ich wusste nicht, ob ich in seinen Zukunftsplänen vorkam; er liess sich nichts anmerken. Und meine Träume waren von Popsongs und amerikanischen Filmen geprägt. Bis ich mir kopfschüttelnd klarmachte, dass er ja genau diese Dinge verachtete.

Sein Englisch war gut, was Wortschatz und Grammatik betraf, aber er sprach es zugegebenermassen mit starkem Akzent. Seine Kleider waren sauber und hatten gefällige Farben – aber sie waren altmodisch, und statt Socken und Turnschuhen trug er Sandalen. Er war nicht an einer Privatschule gewesen und hatte keine Privatlehrer gehabt; er war einfach intelligent, er las und besuchte Vorträge und Debatten. Sein Vater arbeitete als technischer Leiter bei der Eisenbahn. Er hatte zwei Onkel, einer war studierter Architekt und wegen Mitgliedschaft bei der Kommunistischen Partei im Gefängnis gewesen. Er hatte fünf Geschwister: Die älteste Schwester war Polizistin, verheiratet und hatte ein Kind. Ein Bruder studierte in Moskau und einer an der Aussenstelle der Universität Kairo in Khartum. Dann kam Anwar, und zwei jüngere Schwestern besuchten noch die Grundschule. Eine der jüngeren Schwestern war krank, aber davon sprach er ungern. Seine Mutter war ausgebildete Krankenschwester, aber sie arbeitete nicht mehr. Er hatte eine Tante, die das grosse Los gezogen hatte und mit ihrem Mann nach Saudi-Arabien gegangen war. Er wohnte im Studentenheim und ging nur selten nach Hause, obwohl sein Elternhaus gleich hinter der Brücke in Sâfia lag. Er rauchte täglich, trank aber nur gelegentlich. Er rauchte bloss Zigaretten und betete nicht. Im Ramadan fastete er nie, er sah nicht ein, weshalb. Im Ausland war er noch nie gewesen, aber er hatte das Land bereist, war in Port Sudan und in den Nuba-Bergen, in al-Ubajjid und sogar in Dschuba ganz im Süden gewesen. Ich war noch nie aus Khartum herausgekommen.

»Warum reist du nach Europa und willst dir nicht lieber dein eigenes Land ansehen? Unser Land ist doch so schön«, sagte er, entfachte ein Streichholz und zündete sich eine Zigarette an. Wenn uns niemand sah, abends, wenn die Universität schwach beleuchtet war, hielten wir Händchen oder sassen so nahe beisammen, dass unsere Arme sich berührten.

Der Redner stand auf einer umgedrehten Plastikkiste unter einem Baum. Ein sanfter Wind blies, und die Sonne schien mild, aber ich hielt trotzdem mein Schreibheft über den Kopf und kniff die Augen zusammen. Um mich herum war ein Gedränge. Mädchen im weissen Tob waren da und auch einige wie ich, mit dem Notizheft über dem Kopf. Ein paar Jungs sassen im Gras und andere auf dem Sims, der die Wege vom Garten trennte. In der Ferne wirbelte ein Rasensprenger und warf Wasserfontänen über die Blumenbeete und das Gras. Heute funktionierte das Mikrofon, und das machte den Unterschied. Es zog mehr Menschen an, und das Echo von Anwars Stimme drang in die Cafeteria und bis in die Bibliothek.

Er sprach unaufgeregt zuerst, beinahe kühl, und dann mit kontrollierter Leidenschaft. Er hielt sich zurück und wartete die Herausforderungen und Provokationen ab, die mit den Fragen kommen würden. Erst dann lieferte er seine besten Formulierungen, die schärfsten Argumente, den Sarkasmus und die Pointe, nach der er grinsend die Brauen hochzog, wie um zu sagen: Ich schliesse mein Plädoyer ab. Ein Witz, der den Gegner vorführte, ein guter Witz, über den die im Gras glucksten und die in den hinteren Reihen lächelten. Ich war stolz auf ihn, und ihm zuzuschauen und zuzuhören war eine Wonne – wie ein Eis, als ich ein Kind war, ein Schokoladeneisbecher mit Sahne, der nie alle werden sollte. Aber dann verletzte er mich, und ich hätte darauf gefasst sein müssen. Ich hätte ihn kommen sehen sollen, den unvermeidlichen Seitenhieb auf die Bourgeoisie. Das war sein Lieblingswort. Aber diesmal war es noch schlimmer, er nahm kein Blatt vor den Mund und sprach den Namen meines Vaters aus – meinen Familiennamen, so vertraut und so nahe –, und es war wie ein Schlag in den Magen, in die Magengrube. Es verschlug mir den Atem, und mir wurde eiskalt, nur die Wangen brannten. Im Dröhnen in meinen Ohren – dem Gelächter ringsum – ging der Rest seines Satzes unter. Er sah mich kein einziges Mal an. Ich war unsichtbar, doch beim direkten Angriff auf meinen Vater fiel mein Name. Mein Name fiel, und alle lachten. Ich gehörte der Oberschicht an, ja, mütterlicherseits, mit einer langen Geschichte von Ländereien, Unterstützung der Briten, Hotels in der Hauptstadt und Bankkonten im Ausland. Und als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, wurde mein Vater der Korruption bezichtigt.

Ich drängelte mich aus der Menge, taub und blind für etwaige Blicke. Ich wusste, dass ich nicht weinen durfte und auf dem Weg zu meinem Auto Haltung bewahren musste. Ich liess mich auf dem heissen, klebrigen Plastiksitz nieder. Ich löste die Handbremse und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Als ich wegfahren wollte, klopfte es ans Fenster. Omar. Ein lächelnder, gutgelaunter Omar. Nicht der Omar der zwielichtigen Partys und dubiosen Gerüche, sondern ein strahlender Omar in weissem T-Shirt und Jeans. Ich kurbelte die Scheibe herunter.

»Was ist los, Nana?«

Wie konnte er es wissen? Vor langer Zeit hatten wir zusammen in Mutters Bauch geschlafen, einander zugewandt, strampelnd und zuckend. Ich würde gern wieder dorthin zurück. Jetzt fliessen die dummen Tränen.

»Was ist los, Nana?«

»Nichts.«

»Okay, lass mich fahren.«

»Aber du willst doch noch gar nicht nach Hause.«

»Ist schon gut, ich kann ja wiederkommen.«

»So dumm von mir.« Ich wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht und schniefte.

»Komm schon, mach Platz.«

Ich stieg aus und ging um den Wagen herum zum Beifahrersitz. Ich fühlte mich schlapp und mochte nicht reden.

Auf dem Heimweg beobachteten wir einen Unfall. Wir hörten das Glas splittern, als die beiden Autos zusammenstiessen, eins war ein Taxi und das andere ein blauer Datsun. Eine gaffende Menge versammelte sich, und der Verkehr kam zum Erliegen. Omar bog in eine Seitenstrasse ab, um dem Stau zu entkommen. Die Seitenstrasse hatte einen Graben und wurde von Häusern mit Metalltüren flankiert. An einer Tür war ein Muster aus Pik, Karo, Herz und Kreuz zu sehen. Omar legte Bob Marley in den Kassettenspieler und sang zu Misty Morning.

Fünf

Ich sprang in den Pool, und das Januarwasser war ein Schock. Ich tauchte hustend und atemlos wieder auf. »Eiskalt«, prustete ich.

»Du bist verrückt«, rief Randa unter dem Schirm eines Tischchens am Pool hervor. Sie trug eine glamouröse Sonnenbrille und ass ein überbackenes Käsesandwich. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu schwimmen und zu schwimmen, bis mir warm wurde. An der Oberfläche, die die Sonne den ganzen Morgen beschienen hatte, war das Wasser noch warm. Darunter war es viel kälter, darum schwamm ich nicht unter Wasser. Ich erreichte das flache Ende, stiess mich mit den Füssen an der Mauer ab und wendete, um im Bruststil zum tiefen Ende zurückzukehren. Ein paar Ausländer aalten sich dick mit Ambre Solaire eingeschmiert auf Liegestühlen in der Sonne und lasen Sidney Sheldon,9 aber ich hatte den ganzen Pool für mich.

Es dauerte drei Längen, bis ich nicht mehr steif vor Kälte war und es zu geniessen begann. Meine Augen brannten vom Chlor, und ich spürte seinen vertrauten Geschmack im Mund. Meine Arme und Beine teilten das Wasser und schafften mir Raum, um vorwärtszukommen. Gestern war ich an Anwar vorbeigelaufen, ohne hallo zu sagen – er hatte mit ein paar Freunden die neusten Wandzeitungen angeschlagen. Es hatte mir gutgetan, ihn zu ignorieren. Er wartete auf mich, als ich aus der Buchhaltungsvorlesung kam, und lächelte freundlich, als ob nichts gewesen wäre. Er dachte, ich würde mit ihm spazieren gehen, aber ich bog mit ein paar Mädchen einfach zur Cafeteria ab. Ich fühlte beim Schwimmen immer noch einen dumpfen Groll auf ihn.

Als ich aus dem Pool stieg, schlang ich ein Tuch um meine Mitte und setzte mich neben Randa.

»Der Bademeister konnte kein Auge von dir lassen«, sagte sie.

»Sehr lustig.« Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er trug ein gelbes Poloshirt über der Badehose. Er war Eritreer.

Ich nahm meinen Kamm aus der Tasche und begann damit an meinem Haar zu ziehen. Ich hatte kein so schönes und glattes Haar wie Mama.

»Willst du es dir nicht unter der Dusche waschen?«

»Nein.« Nach dem, was sie mir von dem Bademeister erzählt hatte, mochte ich mich nicht unter die Duschen stellen, die gleich neben ihm waren.

»Dann hat er dich gut im Blick«, kicherte sie.

»Genau.« Ich fühlte mich unbehaglich, ganz ohne Grund. Mama hatte nichts dagegen, dass ich schwimmen ging, solange ich keinen Bikini trug, aber seitdem ich an der Uni war, fühlte ich mich unwohl dabei, selbst in meinem schwarzen Einteiler.

»Mein Dad hat mir heute mein Flugticket gekauft«, sagte Randa.

»Nein!«

»Doch. Nächsten Samstag fliege ich ab. Und am Montag beginnt das Semester.«

Ich zählte die Tage: Es blieben noch zehn.

»Wir geben eine Abschiedsparty für dich«, sagte ich.

»Wunderbar!«

Ich versuchte mir vorzustellen, wohin sie gehen würde. Sie ging nicht nach London, sondern nach Wales. »Mein Cousin Samîr ist auch dort«, sagte ich, »am Atlantic College. Weisst du was, er hat gesagt, sie müssen klettern und anderen Sport draussen betreiben. Es gehört zum Lehrplan. Er kann dir alles erzählen; er ist gerade in seinen Weihnachtsferien hier.«

Ich zog meinen Stuhl unter dem Schirm hervor, damit die Sonne mein Haar trocknen konnte: meine Strähnen voll Chlor. Ich musste schnell nach Hause und es waschen und legen, denn ich hatte noch einen Abendkurs.

Ich trug meinen Jeansrock an dem Abend. Es war mein Lieblingsteil, eng und mittellang und hinten geschlitzt. Er hatte zwei Seitentaschen und einen Reissverschluss vorn, wie eine Hose. Dazu trug ich meine rote Kurzarmbluse mit den blauen Blümchen am Kragen. Die Frisur war mir ausnahmsweise geraten: Mein Haar war wellig, statt sich wild zu locken. Mein Aussehen war mir an dem Tag wichtiger als sonst. Als wollte ich gut aussehen, um Anwar zu ärgern oder um ihm zu zeigen, dass er mir egal war.

Er war nicht da, als ich um fünf an der Uni war. Ich war spät dran für meine Vorlesung, weil Omar mit Samîr ausgegangen war und ich den Fehler gemacht hatte, auf ihn zu warten. Eine Brise wehte um die Bäume, als ich die Abkürzung über den Rasen nahm. Der Küchengehilfe der Mensa breitete eine grosse Palmfasermatte im Gras aus. Er rollte sie aus und zupfte daran, um sie im genau richtigen Winkel hinzulegen.

Die Wirtschaftsvorlesung war gut an dem Abend – Rostows Modell,10 das ich begriff und das mir völlig einleuchtend schien. Unser Land sollte eines Tages abheben wie ein Flugzeug, und wir müssten bloss laufen und unsere Entwicklung beschleunigen, und dann gehe es vorwärts, langsam zuerst, aber dann immer schneller, weg von unserer Rückständigkeit und schneller und schneller, bis zum lift-off, take-off. Wir würden gross werden, normal wie all die anderen reichen Länder im Westen, wir würden sie einholen. All das schien mir kristallklar, und ich schrieb es in mein Notizheft und wünschte, Omar wäre hier, denn ich wusste, Rostow hätte ihm auch gefallen. Aber dann schob der Professor seine Brille über die Nase und sagte: »Und jetzt die marxistische Kritik an Rostows These der Unterentwicklung.« Also war das alles nicht wahr. Wir würden nicht abheben. Rundum begannen die Studenten mit den Füssen zu scharren, zu zappeln und zu murren, es sei Gebetszeit. Der Professor ignorierte sie. »Wie die Geschichte zeigt, sind nicht alle entwickelten Nationen Rostows Modell gefolgt …« Das Murren wurde lauter, zwei mutige Jungs gingen einfach hinaus, und ein paar Mädchen begannen zu kichern. Der Professor gab nach und sagte: »Zehn Minuten Pause.«

Alle drängten zur Tür. »Er ist eben Kommunist, darum sind ihm die Gebete egal«, sagte meine Banknachbarin, das hübsche Mädchen mit den Wangengrübchen, lächelnd. Sie eilte an mir vorbei und rief nach ihren Freundinnen, ihre hochhackigen Schlupfschuhe schlugen gegen ihre Fersen. Sie trug heute einen blauen Tob und sah darin noch einnehmender aus. Alle Mädchen trugen weisse Tobs am Morgen und farbige am Abend. Ich sah sie gerne sich verwandeln vom einfachen morgendlichen Weiss zu blauen und rosa Blumen und lebhaften Mustern in kühnen Farben.

Ich verliess als Letzte den Saal. Draussen sah ich Anwar angeregt mit dem Professor plaudern wie mit einem alten Freund. Ich ging an ihnen vorbei zum Garten und setzte mich auf die Eingangsstufen, um den Betenden zuzuschauen. Nicht alle beteten. Mädchen wie ich ohne Tob oder Hidschab beteten nicht, und wer von den jungen Männern Mitglied der Front war, wusste man gleich, weil sie auch nicht beteten. Die anderen versammelten sich auf der Palmfasermatte, aber es war zu wenig Platz darauf für alle. Wer zu spät kam, musste sich mit dem Gras begnügen. Unser Mathematikdozent, ein Muslimbruder, breitete sein weisses Taschentuch auf dem Rasen aus. Er stand neben dem Gärtner, und ihre Schultern berührten sich. Der Student, der als Vorbeter amtete, rezitierte den Koran mühelos und in lebhaftem Ton. Ich bestaunte die Tobs der Mädchen, das bunte Meer, das von vereinzelten Windstössen aufgewühlt wurde. Und als sie sich niederbeugten, raschelte der Polyester im Gras.

»Warum ignorierst du mich?« Das war Anwars Stimme neben mir. Ich fühlte mich gestört – wobei, wusste ich nicht. Ich stand auf und ging wieder Richtung Hörsaal zurück. Jetzt sah ich die betenden Studenten nicht mehr, und auf einmal war ich von Neid erfüllt. Es war eine urplötzliche, irrationale Aufwallung. Was gab es da zu beneiden?

Anwar folgte mir. Wir standen allein vor dem Hörsaal. Er packte mich am Oberarm. »Spiel nicht mit mir.«

»Wenn hier jemand wütend ist, dann bin ich es.« Ich wollte ihm meinen Arm entziehen, aber er hielt ihn immer noch fest.

»Ist es wegen dem, was ich neulich in dieser Rede gesagt habe?«

»Ja, es ist wegen dem, was du neulich in der Rede gesagt hast.«

Er liess meinen Arm los. »Das hat doch mit dir nichts zu tun …«

»Es ist mein Name. Es ist mein Vater.«

»Du nimmst es persönlich. Sieh doch das grosse Ganze an.«

»Ich will nicht das grosse Ganze sehen.«

»Weisst du, wie die Leute über ihn reden?«

»Ich will es gar nicht wissen.«

»Sie nennen ihn Mister Zehn Prozent. Und weisst du, warum?«

»Hör auf.«

»Du kannst nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Du musst erfahren, was er treibt. Er missbraucht seine Stellung in der Regierung. Er kassiert eine Provision für jedes Geschäft, das die Regierung mit einer ausländischen Firma abschliesst.«

Anwar benutzte ein Wort, »Provision«, das in meinen Ohren förmlich und harmlos klang. »Und wennschon!«, höhnte ich.

Er senkte die Stimme, aber sein Ton war schärfer. »Er veruntreut Geld. Euer Lebenswandel – dein neues Auto, euer neues Haus. Deine Familie wird von Tag zu Tag reicher … Siehst du nicht, wie korrupt das ist?«

Mein Zorn war wie ein Vorhang zwischen uns. »Wie kannst du es wagen, solche Lügen über meinen Vater zu verbreiten! Mein Vater, das bin ich. Meine Familie, das bin ich.«

»Versuch doch zu begreifen. Meine Gefühle für dich und meine politische Einstellung sind zwei verschiedene Dinge. Es ist schon schlimm genug, dass man mich auslacht, weil ich mit dir gehe.«

»Dann lass mich doch in Ruhe. Lass mich einfach in Ruhe, und niemand lacht dich aus.«

Er schnaubte verärgert, drehte sich um und ging. Ich betrat den Hörsaal, doch er war nicht leer. Ein Mädchen im Hidschab sass darin und feilte an ihren Nägeln. Vermutlich hatte sie das ganze Gespräch zwischen mir und Anwar gehört. Was tat sie hier, statt draussen mit den andern zu beten? Sie hatte vermutlich ihre Tage. Ich setzte mich und begann, um mir meine Gelassenheit zu beweisen, eine Einladungsliste für Randas Abschiedsparty zusammenzustellen.

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