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Laura Wille

Engelszwillinge


Für meine (chaotische) Familie

Prolog

Solange er sich erinnern konnte, war die Suche nach den beiden Mädchen alles, was seinem Leben einen Sinn gab. Doch sie zu finden, war, als suche man das Licht in endloser Finsternis.

Viele Jahre waren vergangen, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf ihren Aufenthalt. Dabei waren diese Mädchen keineswegs gewöhnlich. Sie waren etwas Besonderes. In ihnen schlummerte eine ungeheure Macht, die es zu erwecken galt. Eine Macht, von der sie aber nicht einmal selbst etwas wussten. Und doch würde es immer auf das Gleiche hinauslaufen – die beiden würden aufeinandertreffen und sterben.

Sie zu kontrollieren, um mit ihrer Macht alles wieder in Ordnung zu bringen, würde nie funktionieren. Im Grunde war diese Mission ein sinnloses Unterfangen. Lucien war sich dessen bewusst, als er mit langsamen Schritten durch den stockfinsteren Wald ging, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Es war so still um ihn herum, als würde selbst die Zeit stillstehen. Der Vollmond erhellte den sternenlosen Nachthimmel, und ein eiskalter Wind blies ihm durch das blonde Haar. Irgendwo im Geäst heulte eine Eule.

Manchmal fragte er sich, ob es nicht besser war, diese verdammte Mission abzubrechen. Sie dauerte schon viel zu lange an, und eine Garantie, dass sie in naher Zukunft erfolgreich sein würde, gab es nicht. Doch jedes Mal, wenn ihn solche Zweifel umtrieben, vernahm er in Gedanken die resolute Stimme seiner Königin. Ihr unausweichlicher Befehl, dem er nie widersprechen könnte. Er würde erst ruhen, wenn er die Mission beendet hatte. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Es musste einfach funktionieren – auch wenn die Chancen sehr gering waren, dass diesmal etwas anders sein würde. Und doch … es musste eine Möglichkeit geben, ihren Tod zu verhindern, sodass beide überleben und ihrer Bestimmung folgen konnten.

Es war kurz nach Mitternacht, als Lucien den Treffpunkt auf der Lichtung im dunklen Wald unter der alten Eiche erreichte. Oscuro erwartete ihn bereits.

Genau wie Lucien mochte man auch ihn für einen Menschenjungen von siebzehn Jahren halten – wenn sie denn Menschen wären. Doch die beiden Jungen hatten aufgehört zu altern, als die Königin sie mit dem äußeren Erscheinungsbild von Teenagern für die Mission zur Erde geschickt hatte. Oscuro und er teilten ein gemeinsames Geheimnis, das unter gar keinen Umständen gelüftet werden durfte: Sie waren als Menschen getarnte Engel.

Lucien zählte schon gar nicht mehr, wie oft er die Gegend hatte wechseln müssen, damit sein wahres Wesen nicht erkannt wurde, denn Menschen waren schlau. Oscuro hatte sich in der Vergangenheit darüber beschwert, wie armselig und erbärmlich es doch sei, zwischen ihnen unterzutauchen und nach zwei besonderen Mädchen zu suchen, die überall und nirgendwo in der Menschenwelt zu finden sein konnten. Früher hätte Lucien ihm niemals zustimmen wollen, doch allmählich kam auch er sich wie ein Idiot vor. Die lange Suche war nervenzerreißend und die Chancen standen nicht einmal fünfzig Prozent, dass es klappte und die Mission Erfolg haben würde.

Oscuro war einen halben Kopf größer als Lucien. Er trug ein schwarzes Shirt und darüber eine halb zugezogene dunkle Sweatshirt-Jacke. Seine rabenschwarzen Haare waren vom Wind zerzaust, und einige Strähnen hingen ihm wirr in die Stirn. Lässig lehnte er am Stamm eines Baumes, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. Mit seinen schwarzen Kampfstiefeln kickte er einen Stein aus dem Weg. Im Gegensatz zu Lucien, der eine weiße Kapuzenjacke trug und von dessen Körper ein sanftes Leuchten ausging, schien Oscuro beinahe mit seiner dunklen Umgebung zu verschmelzen.

Erst als Lucien vor ihm stand, blickte er auf. Sein ehemals bester Freund hatte sich nicht verändert. Die Farbe seiner Augen war noch immer von einem unglaublich intensiven Eisblau, das strahlender leuchtete als ein weiter, kristallklarer Ozean.

»Oscuro«, sagte Lucien, und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Zorn. Seine smaragdgrünen Augen funkelten in der Dunkelheit, heller als der Mond am Himmel.

»Na sowas, du bist also doch gekommen.« Oscuro grinste.

»Hör auf mit dem Scheiß! Sag mir, warum du mich hierher bestellt hast. Ich denke, du willst allein arbeiten?«, fuhr Lucien ihn an.

Seit Jahren hatten sie sich nicht zu Gesicht bekommen – aus guten Gründen. Oscuro war ein Egoist und Einzelgänger geworden, der immer tat, was er allein für richtig hielt. Und das, obwohl sie doch eigentlich zusammenarbeiten mussten! Dennoch hatte Oscuro ihm den Rücken gekehrt. Er hatte sich verändert, seit sie hier auf die Erde gekommen waren. Die Menschen hatten seinen ehemaligen Freund verändert und das Leid, was er hier erlebt hatte. All das hatte ihn hart gemacht.

Lucien fühlte sich schlecht, wenn er an die Vergangenheit dachte. Vielleicht hätte er mehr tun müssen. Vielleicht hätte er Oscuro zwingen müssen, sich von ihm helfen zu lassen, nach dieser schrecklichen Sache damals. Doch dieser zornige Blick und das Entfalten seiner herrlichen Schwingen, die ihn in den Himmel hatten emporschießen lassen, waren alles, was Lucien zuletzt von ihm gesehen hatte. Er hatte ihm nachgeschaut und ihn nicht aufgehalten, denn Oscuro hatte seine Freundschaft nicht mehr gewollt.

Lange Zeit war Oscuro dann verschwunden gewesen, wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann hatte Lucien angefangen, doch nach ihm zu suchen, in der Hoffnung, es würde wieder wie früher zwischen ihnen. Er war sich sicher gewesen, Oscuro hin und wieder ganz nahe gewesen zu sein, doch er hatte sich ihm immer wieder um Haaresbreite entzogen, als wollte er nicht gefunden werden.

Kurz darauf hatte Lucien eine Nachricht von ihm erhalten, in der Oscuro schrieb, dass er in Zukunft allein arbeiten würde, um die Engelszwillinge aufzuspüren.

Jahre waren vergangen. Lucien hatte sein Leben bei den Menschen gelebt, dabei aber nie den wahren Grund seines Aufenthalts vergessen. Und dann hatte er von Oscuro überraschenderweise eine weitere Nachricht übermittelt bekommen. Und deshalb war Lucien nun hier. Er fragte sich, was Oscuro für einen Grund hatte, sich nach all der Zeit bei ihm zu melden, wo er ihm doch so verständlich gemacht hatte, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.

Oscuro lachte. »Warum so mies gelaunt, Lucien? Nach so langer Zeit sehen wir uns endlich wieder. Schon vergessen, dass wir uns bei der Mission aufteilen müssen? Soll die Chancen bei der Suche nach ihnen erhöhen. Das waren deine Worte vor … lass mich überlegen«, er tippte sich ans Kinn, »dreißig Jahren? Dabei bin ich nur gekommen, weil ich gute Neuigkeiten zu verkünden habe. Aber wenn du mich so böse anguckst, verrate ich dir nichts und diese Neuigkeiten werden für immer mein Geheimnis bleiben.« Er grinste Lucien höhnisch an.

Luciens Augen funkelten vor Wut. Früher waren sie Freunde gewesen, aber heute … Alles nur weil Oscuro beschlossen hatte, sich von seinem einstigen Freund zu entfernen und die Mission getrennt anzugehen. Seitdem schien sein Herz eiskalt geworden zu sein. Aber sie teilten beide nicht nur ein Geheimnis, sondern hatten auch eine gemeinsame Mission, die nur zu zweit zu bewältigen war. Deshalb mussten sie miteinander klarkommen, ob sie wollten oder nicht.

»Was für Neuigkeiten?«, hakte Lucien nach und blickte Oscuro misstrauisch an.

Sein Kollege stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Hier bei den Menschen ist es so langweilig. Noch zehn weitere Jahre in dieser beschissenen Welt und ich komme mir selbst wie einer von denen vor.« Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare, und seine Lippen kräuselten sich zu einem teuflischen Grinsen.

»Lenk nicht vom Thema ab. Sag mir endlich, warum du mich herbestellt hast!« Lucien machte einen Schritt auf ihn zu und ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er Oscuro eine reingehauen, doch er unterdrückte diesen Drang. Es würde überhaupt nichts bringen, sie konnten sich nicht gegenseitig töten. Die Königin hatte so einige Regeln aufgestellt, bevor Lucien und Oscuro von ihr auf die Erde geschickt worden waren und die Mission angetreten hatten. Eine Regel besagte, dass die beiden jungen Engel sich nicht töten konnten. Verletzen ja, töten nein.

»Ich bin nicht allwissend, Lucien, aber ich kann dir verkünden, dass die Suche endlich vorbei ist. Sie sind hier.« Oscuro blickte Lucien herausfordernd an, und sein Grinsen wurde breiter.

Lucien riss die Augen auf. »Die Engelszwillinge? Du hast sie gesehen?« Er wurde hellhörig und stand wie erstarrt da. Endlich! Nach so langer Zeit des Suchens schien es einen Hoffnungsschimmer zu geben. Es sei denn, Oscuro log ihn an. Konnte es wirklich sein, dass er die beiden Mädchen gesehen hatte? »Oscuro, wenn das ein Scherz sein soll …«, setzte Lucien scharf nach.

»Denkst du ernsthaft, ich würde dich hierher bestellen, um dich anzulügen? Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.« Oscuro blickte auf seine Hand hinab, ballte sie zu einer Faust und öffnete sie wieder. »Ich habe sie gesehen. Allerdings nur eine der beiden. Jene des Lichts. Sie ist hier in der Stadt. Habe sie in der Nähe des Supermarkts gesehen. Ich warte noch auf eine günstige Gelegenheit, um sie anzusprechen. Sie trägt immerhin ungeahnte, mächtige Kräfte in sich. Ich muss vorsichtig sein. Sie könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, mein Leben beenden.« Sein Blick streifte Lucien kurz, ehe er wieder nach unten starrte und mit seinen Kampfstiefeln einen weiteren Stein wegkickte. »Aber sie sah so erbärmlich aus, als ob sie tatsächlich nur ein schwacher Mensch ist. Merkwürdig. Hatte sie mir anders vorgestellt. Stärker. Weniger zerbrechlich.«

»Und was ist mit der, die zur Finsternis gehört?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen, du Idiot«, brummte Oscuro genervt und zuckte die Achseln. »Hab sie nicht gesehen. Sie kann hier und dort und überall sein, wer weiß das schon.«

»Aber man braucht beide, damit …«

Oscuro brachte ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Ja, ja, ich weiß! Einzeln bringen sie uns nicht viel, aber die Zwillinge zusammen öffnen uns die Pforten zu einer Macht, die uns unbesiegbar macht.«

Lucien seufzte. »Du weißt, wie schwer es ist, sie zu erwecken. Selbst wenn wir sie tatsächlich finden sollten, die Mädchen sind tickende Zeitbomben. Sobald sie sich begegnen, werden sie …« Er schüttelte den Kopf.

»Jetzt halt mal die Luft an, Lucien. Damit das nicht passiert, dafür sind wir ja da.« Oscuro grinste. »Bist du dir ihrer Macht eigentlich bewusst oder was wir mit ihr alles erreichen können? Ist dir denn gar nicht klar, dass die Königin uns bloß ausnutzt? Wir erledigen die Drecksarbeit, während sie am Ende mit der Macht der Engelszwillinge praktisch alles erreichen könnte? Sie könnte über die Menschenwelt herrschen und uns dann wie Abfall beseitigen. Schon mal daran gedacht?«

»Was redest du da für einen Quatsch? Wir haben die Mission begonnen, wir werden sie auch beenden«, entgegnete Lucien. »Wenn du noch mehr solchen Unsinn redest, wird die Königin dich bestrafen. Ich kann das nicht zulassen. Nimm Vernunft an, und lass uns endlich vernünftig zusammenarbeiten, wie wir es schon die ganze Zeit hätten tun sollen.«

Oscuros Augen wurden schmal. »Du begreifst es einfach nicht, oder? Zusammen mit diesen beiden Mädchen liegt uns die Welt zu Füßen! Wäre es nicht schön, wenn die Menschen endlich ausgelöscht würden?«

»Was sagst du da?«

Oscuro lachte. »Guck nicht so entsetzt! Ich meine, stell dir nur mal vor, wie es wäre, wenn die Menschen aufhörten zu existieren. Erbärmliche Versager, die sich für die Größten halten, würden einfach vernichtet. Man benötigt dazu nur die Hilfe der Engelszwillinge – und schon kann man über die Welt herrschen wie ein König, ohne die dummen Menschen.«

»Das wagst du nicht!« Luciens Hände schossen vor und packten Oscuro am Kragen. »Wir nutzen die beiden Mädchen nicht für so einen Schwachsinn aus! Die Königin würde das nicht tolerieren. Die Menschen bleiben am Leben. Wir werden mit der Hilfe der Engelszwillinge die Welt der Menschen verbessern. Wir werden den Hass, den Zorn und all die negativen Gedanken aus den Köpfen der Menschen verbannen. Nur so kann Frieden einkehren. Und deshalb sind wir hier. So lauten die Befehle unserer Königin. Hast du das vergessen?« Verzweiflung glitzerte in seinen Augen. Er konnte nicht glauben, was er aus dem Mund dieses Typen zu hören bekam. War das überhaupt noch der Oscuro, den er mal gekannt hatte, oder jemand ganz anderes?

Oscuros Augen wurden schmal. Härte trat auf sein schönes Gesicht. »Ich hätte dich für ein bisschen kooperativer gehalten, Lucien. Ich bin eigentlich hier, da ich es mir anders überlegt habe und dachte, wir könnten es vielleicht gemeinsam schaffen, nun, da endlich Zwilling Nummer eins aufgetaucht ist. Wir könnten die Mädchen gemeinsam erwecken und ihre ungeheure Macht für uns beide nutzen. Ich hätte die verdammte Mission ja gerne allein bewältigt, aber nein, die Königin meint, es ist nur zu zweit zu schaffen und stellt mir so einen Nichtsnutz wie dich an die Seite.«

Lucien erhöhte den Druck, mit dem er immer noch Oscuros Kragen gepackt hielt, und öffnete den Mund.

Doch sein ehemaliger Freund schlug seine Hände weg und fuhr fort: »Außerdem sind mir die Befehle der Königin scheißegal. Für so einen Schwachsinn werde ich die ungeheure Macht der Engelszwillinge nicht verschwenden. Wenn mir in den vielen Jahrzehnten in der Menschenwelt etwas klar geworden ist, dann das. Alles, was wir tun müssen, ist, darauf aufzupassen, dass keines der beiden Mädchen stirbt, ehe ihr wahres Wesen erwacht ist. Ich habe keine Lust, weitere fünfzig Jahre auf ihre Rückkehr zu warten und wieder Jahrzehnte nach ihnen zu suchen. Ist dir wirklich nicht klar, was wir mit ihrer Macht alles erreichen könnten?«

Lucien schüttelte den Kopf. »Die Königin hat uns einen Befehl gegeben, den wir ausführen werden. Der Hass in den Herzen der Menschen wird immer mächtiger! Irgendwann entstehen aus den negativen Gefühlen Dämonen, die eine ernsthafte Bedrohung für sie und uns darstellen. Wir müssen das verhindern, und nur die Engelszwillinge können uns dabei helfen. Also sei kein Dummkopf!«

»Sollen die Menschen sich doch gegenseitig ausrotten.«

Lucien spürte, wie ungeheure Wut in ihm hochstieg. Ehe er sich versah, hatte er mit der Faust ausgeholt, um Oscuro eine zu verpassen, doch Oscuro war schneller. Er packte Lucien am Halsausschnitt seiner weißen Kapuzenjacke und stieß ihn zu Boden. Lucien keuchte, als er rücklings auf die harte Erde fiel. Er stützte sich mit beiden Händen vom Boden ab und blickte empor.

»Wage es nicht, mich aufzuhalten, Lucien!« Oscuro sah ihn mit blitzenden Augen an. »Da draußen gibt es so viele Menschen, die den Tod verdienen.« Er grinste teuflisch, dann trat er einen Schritt zurück. »Ich werde mir jetzt den Zwilling des Lichts schnappen. Sobald ich ihn habe, wird mir jener der Finsternis folgen. Die beiden ziehen sich schließlich an wie Magnete. Lebwohl.« Mit diesen Worten drehte er sich um, und Lucien konnte nur noch seinen Rücken sehen, der sich mit jedem Schritt immer weiter von ihm entfernte und eins mit der Finsternis wurde.

»Hör auf damit! Das schaffst du nicht! Sie bringen dich um, noch bevor du in ihre Nähe kommst!«, brüllte er ihm nach, doch Oscuro war bereits in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.

Lucien konnte sich nicht mehr bremsen. Zorn benebelte seine Sinne, und seine Flügel, der eine glänzend schwarz, der andere in einem strahlenden Weiß, brachen aus seinen Schulterblättern hervor, zerrissen seine Kapuzenjacke und breiteten sich zu beiden Seiten aus. Vereinzelte Federn wurden vom Wind davongetragen. Doch Lucien unterdrückte den überwältigenden Drang, Oscuro hinterherzufliegen und ihn zu verprügeln. Es würde nichts nützen, wenn sie wie von Sinnen aufeinander einschlugen, denn sich gegenseitig töten konnten sie ja nicht, dafür hatte die Königin gesorgt. Selbst wenn sie sich bekämpften, sich gegenseitig grün und blau schlugen, sämtliche Knochen brachen und jede noch so lebensgefährliche Verletzung zufügten, würde jede davon nach kurzer Zeit wieder verheilen.

Davon abgesehen war Streit das Letzte, was Lucien jetzt gebrauchen konnte. Oscuro konnte nicht so dumm sein und tatsächlich glauben, damit durchzukommen. Warum tat er das? Was sollten diese Alleingänge? Warum ließ er Lucien im Stich? Waren die Mächte der Engelszwillinge das alles wert? Er würde sich nur sein eigenes Grab schaufeln. Außerdem würde die Königin ihn vernichten, sollte sie von seinen egoistischen Plänen erfahren. Und Lucien wollte nicht, dass man ihm etwas antat. Er war sein einziger und bester Freund, der auf einem finsteren Pfad wandelte, aber Lucien würde alles tut, um ihn wieder ins Licht zurückzuholen. Auch wenn er Oscuro nichts mehr zu bedeuten schien und der ihn offenbar lieber tot als lebendig sehen wollte – für Lucien blieb er sein Freund, der sich unwissend in große Gefahr begab.

Luciens aufkommender Zorn wandelte sich in Trauer. Er bohrte seine Finger in die Erde und stieß einen erschöpften Laut aus. Das Brennen in seinen Flügeln verschlimmerte seine seelischen Schmerzen nur noch mehr. Hilflosigkeit und Verzweiflung ließen sein Herz erstarren. Bei dem bloßen Gedanken daran, Oscuro gelänge es, beide Mädchen in seine Gewalt zu bringen, erbebten seine Flügel. Dann wäre er in der Lage, einfach alles zu tun. Würde er es etwa auch wagen, Lucien, seinen einzigen und besten Freund, zu töten?

Tränen brannten in seinen Augen, die er verzweifelt niederzukämpfen versuchte.

Kapitel 1

Das Mädchen in Schwarz

Ciel wurde wach, als ihr Wecker klingelte.

Sie schaltete ihn aus, seufzte tief, setzte sich auf ihrer schäbigen Matratze auf dem Fußboden auf und blickte sich in ihrem ebenso schäbigen kleinen Zimmer um. Da war ein großer Wasserfleck an der Wand, die Tapete schälte sich an manchen Stellen bereits ab. Und sie fror bis auf die Knochen, denn sie hatte nur eine dünne Decke über sich ausgebreitet. Ihre Heizung funktionierte nicht mehr, und ihr Chef hatte ihr erklärt, sie erst dann reparieren zu lassen, wenn Ciel alle ihre Aufgaben erledigt hatte – allerdings war diese Zusage nun auch schon seit Wochen überfällig.

Ciel wohnte in einer winzigen Einzimmerwohnung und arbeitete als Kellnerin in einer kleinen Pizzeria, deren unfreundlicher Chef Henry sie tagtäglich anbrüllte. Es gefiel ihr nicht, dass der Chef so gemein zu ihr war, aber sie brauchte diesen Job.

Merkwürdigerweise war er nur zu ihr so fies, denn täglich riefen unzählige seiner Freunde an, und auch seine Kunden schätzten seine Freundlichkeit sehr. Ciel wusste nicht, warum er sie so hasste. Vermutlich bereute er einfach, damals eine Waise ohne Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufgenommen zu haben und sich nun um sie kümmern zu müssen.

Auch die Wohnung gehörte ihm, und solange sie bei ihm arbeitete, durfte sie dort schlafen. So schäbig und ranzig die Unterkunft auch sein mochte, alles war besser, als auf der Straße oder in einem Heim zu leben.

Ciel konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Weder an ihre Gesichter noch an ihre Namen, geschweige denn an ein Zuhause. Sie hatte keinerlei Erinnerungen an ihr früheres Leben vor dem trostlosen Waisenheim, in dem sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr gelebt hatte.

Mit zehn war sie dann in eine Pflegefamilie gekommen. Doch bei ihrer neuen Familie war es ihr auch nicht besser ergangen. Ihre Pflegemutter war früh gestorben, und ihr Pflegevater hatte daraufhin angefangen zu trinken. Bald schon war er aggressiv und gewalttätig geworden. Er hatte Ciel geschlagen, wann immer sie es gewagt hatte, den Mund aufzumachen. Irgendwann hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als davonzulaufen. Einige Monate hatte sie auf der Straße verbracht, bis ihr Chef, Henry, sie gefunden und bei sich aufgenommen hatte. Er hatte versprochen, sich um sie zu kümmern, solange sie für ihn arbeitete, und so war ihr schreckliches Leben weitergegangen.

Als sie damals zu Henry gekommen war, hatte er sie natürlich über ihre Vergangenheit ausgefragt. »Wo kommst du eigentlich her? Was ist mit deinen Eltern passiert? Wieso hast du nicht einen einzigen Verwandten?«

Ciel hätte ihm so gerne Antworten gegeben, doch sie wusste gar nichts. Nichts über ihre Eltern, woher sie kam oder wann sie Geburtstag hatte. Gar nichts. Da war nur Leere in ihrem Kopf. Manchmal fragte sie sich, ob sie in der Vergangenheit vielleicht einen furchtbaren Unfall gehabt und deshalb ihr Gedächtnis verloren hatte. Es war zum Verrücktwerden – je mehr Ciel nachdachte und sich zu erinnern versuchte, desto schlimmer wurden jedes Mal ihre Kopfschmerzen. Einmal waren sie sogar so heftig gewesen, dass sie zusammengebrochen war.

Da war nichts als Nebel. Es kam ihr vor, als wollte ihre Vergangenheit nicht gelüftet werden, unter gar keinen Umständen. Oder als wäre da irgendjemand oder irgendetwas, das sie zu einem Leben voller Leid verdammte, an dem sie irgendwann zerbrechen würde. Ihr Chef hatte sie jedenfalls schon als psychisch krank abgestempelt. Ciel hoffte innigst, dass das nicht wahr war.

Gähnend stand sie auf, um sich an dem kleinen Waschbecken zu waschen. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und warf dann einen Blick in den zersprungenen Spiegel. Ihr blondes, hüftlanges Haar war zerzaust, matt und glanzlos, trotzdem strahlten ihre smaragdgrünen Augen Wärme aus. Ihr Gesicht war schmal, die Haut sehr blass. Genauso blass wie der Rest ihres mageren Körpers.

Schnell schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich ein hellblaues T-Shirt an und darüber eine weiße Strickjacke. Ihr Magen knurrte, doch es gab in der ganzen Wohnung nichts zu essen.

Heute würde sie erst abends arbeiten müssen. Ein langer, einsamer Tag erwartete sie, der nur durch ihren einzigen tierischen besten Freund erträglich wurde. Menschliche Freunde besaß sie keine. Niemand interessierte sich für sie oder wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ciel hatte sogar einmal mitbekommen, wie ihr Chef einer Gruppe von Mädchen erzählte, Ciel verdiene keine Freunde, und sie sollten sich alle von ihr fernhalten. Als sie versucht hatte, ihn darauf anzusprechen, hatte er sie nur zu noch mehr Arbeit verdonnert.

Henry kümmerte sich ohne jegliche Zuneigung um sie, seine Bedingungen waren hart und die Regeln streng. Trotzdem war er die einzige Sicherheit, die sie hatte. Darum blieb sie bei ihm. Und so sehr Ciel auch wollte, sie konnte ihren Chef nicht hassen. Jemanden zu hassen oder auch nur lange wütend zu sein, lag nicht in ihrem Wesen. Es gab Tage, da fürchtete sie sich sogar selbst vor ihrem extrem gütigen Charakter.

Doch ihr einziger Freund Toivo, ein kleiner Labradorwelpe, liebte sie. Er war ihr zugelaufen, ohne Halsband oder einen Hinweis auf seinen Besitzer. Kurzerhand hatte Ciel beschlossen, ihn Toivo zu nennen und bei sich aufzunehmen.

Henry war keineswegs begeistert, dass sie einen Hundewelpen anschleppte, erlaubte ihr aber gnädigerweise, ihn zu behalten. Falls er aber Ärger machte, würde ihr Chef sie allerdings zwingen, Toivo in ein Tierheim zu stecken, damit hatte er schon gedroht.

In die Wohnung durfte er auch nicht, sondern musste draußen in der kleinen Gasse vor ihrem Fenster schlafen, egal bei welchem Wetter. Es schmerzte sie, ihren geliebten Hund leiden zu sehen, doch sie versuchte ihr Bestes, um ihm trotzdem ein schönes Leben zu ermöglichen.

Sie öffnete die Haustür. An der Klinke war eine Plastiktüte befestigt, samt einer Notiz in kaum leserlicher Schrift von ihrem Chef:

Hier hast Du etwas Futter für Deinen Hund. Für Dich habe ich auch etwas eingepackt. Sobald Du nachher zu mir in den Laden kommst, bekommst Du eine bessere Mahlzeit.

Und wage es bloß nicht, zu spät zu kommen!!!!!!

Sie seufzte, aber es war besser als nichts.

Der Lohn, den sie von Henry bekam, war gering, und so konnte sie sich nicht viel leisten. Schon gar keine Schul- oder Ausbildung. Neben ihrem Job hätte sie das sowieso nicht geschafft, dazu war sie tagsüber immer viel zu müde.

Sie verließ mit der Plastiktüte ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.

Draußen war es ein wenig bewölkt und windig. Der Himmel trug eine graue Farbe, und die Sonnenstrahlen brachen kaum durch die Trübheit des Tages hindurch.

Sie holte Toivo, der vor Aufregung laut zu bellen begann, von seinem Schlafplatz ab, nahm ihn an die Leine und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Das war eine Bank gegenüber eines Supermarktes, von wo aus sie immer die Leute beobachtete, die den Laden betraten und verließen. Es war keine besonders tolle Freizeitbeschäftigung, aber für etwas anderes hatte sie kein Geld. Außerdem war sie so an der frischen Luft, konnte mit Toivo zusammen sein und fühlte sich nicht ganz so einsam.

Unterwegs hielt sie an einem Kiosk an. Die Titelseite der Zeitung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

ERNEUT SUCHEN DUTZENDE MYSTERIÖSE TODESFÄLLE UNSERE STADT HEIM – OPFER BRECHEN EINFACH ZUSAMMEN. TODESURSACHEN NOCH UNKLAR.

POLIZEI STEHT VOR EINEM RÄTSEL UND RÄT DEN EINWOHNERN, VORSICHTIG ZU SEIN UND VERDÄCHTIGES SOFORT ZU MELDEN.

Ciel bekam mit, wie ein Passant die Zeitung aufklappte und kopfschüttelnd zu dem Kioskbesitzer sagte: »Schlimm sowas. Nicht mal hier ist man noch sicher. Es geht das Gerücht um, dass jedes Mal ein Mädchen in Schwarz am Tatort gesehen worden sein soll. Dabei kann sie unmöglich etwas damit zu tun haben. Immerhin sind die Opfer von ganz allein tot umgefallen.«

»Sehr mysteriös das Ganze«, murmelte der Verkäufer, der nebenbei Schokoriegel in ein Regal einräumte. »Vielleicht eine neue Krankheit oder …«

Ciel lief schnell weiter. Von so schrecklichen Dingen wollte sie nichts hören. Es passierte schon genug Grausames auf dieser Welt.

Schließlich hatte sie ihren Lieblingsplatz auf der mit Graffiti beschmierten Bank erreicht. Sie setzte sich und nahm Toivo auf den Schoß, der ihr vor Freude mit seiner feuchten Zunge so lange übers Gesicht leckte, bis Ciel kichern musste.

Sie holte aus dem kleinen Plastikbeutel eine Dose Hundefutter heraus, riss sie am Verschluss auf und hielt sie dem Hund hin. Toivo fraß gierig, während sie noch einen Blick in die Plastiktüte warf. Drinnen befanden sich eine große Wasserflasche und eine Brottüte.

Als Ciel sie öffnete, seufzte sie enttäuscht. Etwas hartes Pizzabrot, außerdem zwei Sandwiches, die mit einem undefinierbaren Aufschnitt belegt waren – Ciel vermutete, dass es sich um Käse oder Ei handelte. Nicht sehr appetitlich oder gesund, aber das hier war immer noch besser, als zu hungern.

Sie teilte sich das Wasser mit ihrem Hund, kaute auf einem der trocknen Sandwiches herum und seufzte, als sie Toivo über den Kopf streichelte. »Ich wünschte, ich könnte wenigstens dir ein besseres Leben bieten«, murmelte sie traurig und lächelte, als der Kleine ihre Hand beschnupperte, um noch mehr zu fressen zu bekommen.

Leises Vogelgezwitscher ließ sie aufblicken. Hinter einem geparkten Auto konnte sie einen kleinen Spatzen erkennen, der um einen weiteren Spatz herumhüpfte und dabei aufgebracht zwitscherte. Doch der Vogel, der auf dem Boden lag, regte sich nicht. Vermutlich war er angefahren worden oder gegen eine Scheibe geflogen.

Ciel erhob sich und ging zu dem toten Vogel hinüber. Der aufgeregt piepsende Spatz flog davon, als sie sich bückte.

»Armer kleiner Vogel.« Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie allein war und niemand sie bei dem beobachtete, was sie gleich tun würde.

Sie wartete, bis eine Mutter mit ihrem nörgelnden Kind im Supermarkt verschwand, dann nahm sie den toten Vogel in die Hände. Die Flügel waren verdreht, der Schnabel stand offen, und die kleinen Beine zeigten starr nach oben. Ciel schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihre Hände warm wurden, als würde sie einen Becher heißen Tee halten.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel lebendig, hüpfte laut zwitschernd auf ihrer Hand, als wollte er sich bedanken, ehe er die Flügel ausbreitete und davonflog.

Ciel lächelte glücklich und blickte ihm nach. »Alles Gute, kleiner Vogel«, flüsterte sie und ging zurück zu ihrem Hund, der brav auf der Bank saß und auf sie wartete. Toivo sprang ihr auf den Schoß, kaum dass sie sich setzte. Sie streichelte ihn, während sie gedankenverloren sagte: »Ist es sehr komisch, Toivo, dass ich Tiere heilen und sie ins Leben zurückholen kann? Ich weiß auch nicht, warum ich das kann.«

Es war ihr größtes Geheimnis. Sie hatte nie jemandem von ihren Fähigkeiten erzählt. Wem auch?

Außerdem würde ihr niemand glauben.

»Ob das auch bei Menschen funktioniert?« Sie zuckte die Achseln und seufzte. »Jedes Mal fürchte ich mich dabei vor mir selbst.« Sie blickte hinüber zu einem Auto, auf dessen glänzendem Lack sich ihr Gesicht spiegelte. »Wer oder was bin ich?«

Toivo wedelte mit dem Schwanz und bellte, ehe er ihr erneut mit der feuchten Zunge über die Wange fuhr, als würde er ihren Kummer spüren und wollte sie trösten.

Ciel lachte. »Mein lieber, süßer Toivo, du darfst mich niemals verlassen, versprich mir das, ja?«

Sie saß noch lange auf der Bank, beobachtete die vielen Leute, die den Supermarkt besuchten – junge und alte, Familien, Jugendliche, Kinder. Menschen, die normal waren und einfach ihr Leben lebten. Wie gerne sie mit ihnen tauschen wollte!

Irgendwann schlief Ciel vor lauter Erschöpfung ein. Als sie nach einiger Zeit wieder aufwachte, war der Himmel in ein orangefarbenes Licht getaucht. Die Sonne ging bereits unter. Vögel zwitscherten in den Bäumen und sangen ihre Abendlieder.

Sie gähnte, rieb sich die Augen und blickte Toivo entschuldigend an, der vor ihr auf dem Boden saß und mit seinen großen Hundeaugen zu ihr hochblickte.

»Wie spät ist es? Ich muss wohl eingeschlafen sein.«

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