Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue

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Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue
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Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue

Zugleich ein Beitrag zur gesetzlichen Bestimmtheit des § 266 StGB

von

Lasse Dinter


eine Marke der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH

www.cfmueller.de

Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue › Herausgeber

Schriften zum Wirtschaftsstrafrecht

Herausgegeben von

Prof. Dr. Mark Deiters, Münster

Prof. Dr. Thomas Rotsch, Gießen

Prof. Dr. Mark Zöller, Trier

Impressum

Erster Berichterstatter: Prof. Dr. Mark Deiters

Zweiter Berichterstatter: Prof. Dr. Michael Heghmanns

Dekan: Prof. Dr. Hans-Michael Wolffgang

Tag der mündlichen Prüfung: 10. Juni 2011

D 6

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8114-5709-6

E-Mail: kundenservice@hjr-verlag.de

Telefon: +49 6221/489-555

Telefax: +49 6221/489-410

(c) 2012 C.F. Müller, eine Marke der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH

Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg

Zugl.: Münster (Westf.), Univ., Diss. der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, 2011

www.hjr-verlag.de

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Vorwort

Die Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Sommersemester 2011 als Dissertation angenommen. Sie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2008 bis 2010 in Münster, insbesondere im Laufe meiner Tätigkeit als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, insb. Wirtschaftsstrafrecht (KR1).

Hervorragend betreut wurde ich von meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Mark Deiters, der sich wie selbstverständlich stets Zeit für Besprechungen nahm und dessen kluger und verlässlicher Rat mir so manchen Umweg ersparte; ihm sei von Herzen gedankt!

Als geduldige Gesprächspartner standen mir zudem meine Freunde und Kollegen zur Seite, die mir in unterschiedlicher Weise wertvolle Hilfe leisteten und so zum Gelingen der Arbeit beitrugen: Annette, Nicole, Marius und Nico – danke! Ganz besonders danken möchte ich Herrn Daniel David, mit dem ich in unzähligen Kaffeepausen beherzt diskutieren konnte und der meine zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse auf eine harte Probe stellte. Zu erwähnen ist auch Herr RA Thomas Holle, der als Strafverteidiger mein Interesse für die Juristerei überhaupt erst weckte.

Zu danken habe ich ferner Herrn Prof. Dr. Michael Heghmanns für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Im Übrigen freue ich mich über die Aufnahme in die neue Schriftenreihe des C.F. Müller Verlags „Schriften zum Wirtschaftsstrafrecht“ und bedanke mich bei den Herausgebern Prof. Dr. Thomas Rotsch, Prof. Dr. Mark Deiters und Prof. Dr. Mark Zöller.

Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, Christa Maria und Hans-Joachim Dinter, die zu jeder Zeit liebevoll hinter mir stehen und deren Vertrauen mich schon so weit getragen hat.

November 2011

Bremen Lasse Dinter

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1 Einführung in die Problematik

A.Einleitung

B.Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

I.§ 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

II.§ 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)

C.Grundlagen

I.Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1

II.Begriffsbestimmung

1.Blankettmerkmale

2.Normative Tatbestandsmerkmale

3.Gesamttatbewertende Merkmale

D.Verlauf der Untersuchung

Teil 2 Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum

A.Die Vorsatzmodelle beim Pflichtwidrigkeitsmerkmal

I.Formale Abgrenzung der Vorsatzmodelle

1.Kompetenzsprung als Abgrenzungskriterium

2.Ort der Rechtsquelle

a)Die reichsgerichtliche Irrtumsrechtsprechung

b)Die Substituierbarkeitsthese

3.Art der Verweisung

a)Ausdrückliche und konkludente Verweisungen

b)Statische und dynamische Verweisungen

4.Zwischenergebnis

II.Materielle Abgrenzung der Vorsatzmodelle

1.Die Lehre vom Regelungseffekt

2.Die verhaltensnormenvermittelnde Eigenschaft des Verweisungsmerkmals

a)Die Auswahl des Vorsatzmodelles als rechtspolitische Entscheidung

b)Das Irrtumskonzept der Schuldtheorie

c)„Schutzrichtungsidentität“ der Ausfüllungsvorschrift

 

III.Zwischenergebnis

B.Bestimmung der untreueerheblichen Verhaltensnorm

I.Verhaltensnorm und Verhaltenspflicht

II.Bestimmung der Verhaltensnorm nach Binding und Puppe

III.Teleologische Bestimmung der Verhaltensnorm

1.Das allgemeine Schädigungsverbot als Verhaltensnorm

2.Folgerungen für den Pflichtwidrigkeitsvorsatz

IV.Zur Akzessorietät des § 266

V.Zwischenergebnis

Teil 3 Der Vorsatzgegenstand der Pflichtwidrigkeit

A.Der Vorsatzgegenstand bei verhaltensnormenvermittelnden Merkmalen

I.Legitimität der Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes

II.Der „Experte“ als Maßstabsfigur des Unrechtsappells

B.Vorsatzgegenstand der Verweisungsobjekte in § 266

I.Verweisung auf gesetzliche Vermögensbetreuungspflichten

II.Verweisung auf rechtsgeschäftliche Vermögensbetreuungspflichten

1.Unkenntnis von Existenz und Inhalt der rechtsgeschäftlichen Pflicht

2.Wiederholung gesetzlicher Pflichten durch Rechtsgeschäft

3.Wiederholung elementarer gesellschaftlicher Pflichten

III.Verweisung auf Vermögensbetreuungspflichten aus behördlichem Auftrag und Treueverhältnis

C.Zwischenergebnis

Teil 4 Verfassungsrechtliche Probleme des Pflichtwidrigkeitsmerkmals

A.Verweisungen im verfassungsrechtlichen Sachzusammenhang

B.Der Verweis auf Vermögensbetreuungspflichten anderer Instanzen

I.Vorüberlegungen

II.Rechtsgeschäftliche Vermögensbetreuungspflichten

III.Vermögensbetreuungspflichten aus ausländischen Gesetzen

IV.Zwischenergebnis

C.Der Verweis auf unbestimmte Vermögensbetreuungspflichten

I.Vorüberlegungen

1.Die Schwierigkeit einer „optimalen“ Tatbestandsfassung des § 266

2.Die Blanketteigenschaft des § 266 als legislatorischer Kompromiss

II.Folgerungen für den Tatbestand des § 266

1.Sicherstellung der gesetzlichen Bestimmtheit auf objektiver Tatbestandsseite

a)Erfordernis einer gravierenden Pflichtverletzung

b)Kriterium der Vertretbarkeit und Evidenz

aa)Problem der Auslegungskompetenz des Strafrichters

bb)Probleme bei der Feststellung objektiv-„evidenter“ Pflichtverstöße

2.Sicherstellung der gesetzlichen Bestimmtheit auf subjektiver Tatbestandsseite

a)Viktimodogmatische Betrachtung unbestimmter Verhaltensgebote

b)Unbestimmte Verhaltensgebote als tatbewertende Merkmale

c)Sichere Kenntnis vom Pflichtverstoß

d)Einwände gegen das Erfordernis sicherer Kenntnis vom Pflichtverstoß

3.Schutzniveau des subjektiven Restriktionsansatzes

III.Zwischenergebnis

IV.Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Teil 1 Einführung in die Problematik

Teil 1 Einführung in die Problematik › A. Einleitung

A. Einleitung

1

Die Irrtumslehre wird in der Strafrechtswissenschaft seit jeher als wichtiges, aber auch reichlich umstrittenes Problemfeld wahrgenommen. Schon Binding resümierte im Jahre 1913, dass „kein Gebiet so voll von Streit, größter Unsicherheit und verkannter oder dissimulierter Ungerechtigkeit [ist], als gerade die Lehre vom Irrtum bei Delikten.“[1] Betrachtet man die Gegenwart, wird nicht ohne Berechtigung festzustellen sein, dass die Lehre vom Irrtum der Wissenschaft und Praxis auch heute noch erhebliche Probleme bereitet.[2] Dies gilt im Besonderen für den Irrtum über die Unerlaubtheit der Handlung. Die Einführung der §§ 16, 17 im Jahre 1975 in das StGB und die damit verbundene Entscheidung des Gesetzgebers für die sog. Schuldtheorie führten mitnichten dazu, dass fortan jeder Rechtsirrtum lediglich die Schuldebene berührt. Nach wie vor wird um die Antwort gerungen, in welchen Fällen der Irrtum über die Unerlaubtheit der Handlung bereits einen „Umstand“ im Sinne des § 16 Abs. 1 betrifft und somit Tatbestands- und nicht lediglich Verbotsirrtum ist.

Manches Rechtsproblem braucht sein zeitgeschichtliches Ereignis, um im wissenschaftlichen Diskurs hinreichende Beachtung zu finden. Veranlasste etwa die Parteispendenaffäre um Flick in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts strafrechtliche Literatur zum Irrtum über steuerrechtliche Rechtsfragen im Kontext des § 370 AO,[3] darf heute das Mannesmann-Urteil für den bis dahin nicht näher problematisierten Irrtum über die Pflichtwidrigkeit gem. § 266 stehen. Schünemann moniert in seiner 1998 erschienenen Kommentierung des § 266 mit Recht die fehlende Behandlung dieses – „eine Reihe schwierigster dogmatischer Fragen“[4] aufwerfenden – Problems in der Lehrbuch- und Kommentarliteratur.[5]

2

Dem Mannesmann-Urteil[6] des BGH lag das Urteil[7] des Landgerichts Düsseldorf zugrunde. Nach dessen Feststellungen übernahm das Mobilfunkunternehmen Vodafone plc. Anfang des Jahres 2000 nach längerem Übernahmekampf einvernehmlich die Anteile des Industrieunternehmens Mannesmann AG. Kurze Zeit nach der Einigung beschlossen drei Angeklagte in ihrer Funktion als Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der Mannesmann AG mit Zustimmung der Geschäftsleitung der Vodafone plc. und auf Vorschlag eines Großaktionärs freiwillige Anerkennungsprämien in Millionenhöhe u. a. an den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG. Sie wollten dadurch die Verdienste des Vorstandsvorsitzenden etwa im Hinblick auf die Steigerung des Unternehmenswertes unter seiner Leitung honorieren. Auf Wunsch eines am Beschluss beteiligten Angeklagten wurde auch ihm eine Anerkennungsprämie gewährt. Die Angeklagten gingen davon aus, dass die Entscheidungen aufgrund ihres unternehmerischen Ermessenspielraums erlaubt seien.

Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf warf den Angeklagten vor, sich durch die Gewährung der Anerkennungsprämien der Untreue zu Lasten der Mannesmann AG schuldig gemacht zu haben. Das Landgericht Düsseldorf sprach die Angeklagten hingegen frei. Die Gewährung der Anerkennungsprämien sei zwar aktienrechtlich unzulässig gewesen, den Angeklagten könne jedoch nur im Hinblick auf die finanzielle Zuwendung gegenüber dem Präsidiumsmitglied der Mannesmann AG eine „gravierende“ Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Eine „gravierende“ Pflichtverletzung sei im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung zur Verwirklichung des § 266 indes erforderlich. Die Angeklagten haben nach Auffassung des Landgerichts insoweit allerdings in einem schuldausschließenden Verbotsirrtum gehandelt.[8]

3

Der 3. Strafsenat des BGH hob das Urteil mit der Begründung auf, § 266 setze im Kontext unternehmerischer Entscheidungen keine „gravierende“ Pflichtverletzung voraus. Durch die dienstvertraglich nicht geschuldete Gewährung einer Anerkennungsprämie ohne künftigen Nutzen für das Unternehmen werde überdies die Vermögensbetreuungspflicht der Präsidiumsmitglieder verletzt.[9]

 

Der 3. Strafsenat des BGH behandelt zudem die Frage, ob die irrtümliche Annahme der Angeklagten, ihr Handeln sei erlaubt, Tatbestands- oder Verbotsirrtum ist. Der Senat enthielt sich einer konkreten Antwort mit dem Hinweis darauf, dass „[e]ine sachgerechte Einordnung etwaiger Fehlvorstellungen oder -bewertungen der Angeklagten […] sich nicht durch schlichte Anwendung einfacher Formeln ohne Rückgriff auf wertende Kriterien und differenzierende Betrachtungen erreichen lassen [wird].“[10] Welche wertenden Kriterien zur Beurteilung hinzugezogen werden sollen, ließ der Senat offen.

4

Eine klare Antwort auf die Vorsatzfrage könnte sich aus der dogmatischen Ausgestaltung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ergeben. Nicht nur das Mannesmann-Urteil, auch die im Zuge der EuGH-Rechtsprechung in Sachen Inspire Art[11], Centros[12] und Überseering[13] immer häufiger gestellte Frage nach den Grenzen zulässiger Fremdrechtsanwendung auch im Rahmen der Untreue, etwa im Fall des Geschäftsleiters einer EU-Auslandsgesellschaft,[14] haben das Problem der dogmatischen Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 inzwischen erheblich an Aktualität gewinnen lassen. Es erstaunt nicht, dass sich in jüngster Zeit vermehrt Äußerungen zu dessen Rechtsnatur finden lassen.[15] Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal der Untreue wird im Kontext verschiedener Sachfragen als normatives Tatbestandsmerkmal[16], als Blankett- bzw. „blankettartiges“ Merkmal[17] oder als gesamttatbewertendes Merkmal[18] eingestuft[19] – freilich nicht selten ohne nähere Begründung.

Auch in der Rechtsprechung lässt sich bislang keine einheitliche Antwort verzeichnen. Das OLG Stuttgart identifiziert § 266 im Hinblick auf die zeitliche Geltung von Strafgesetzen (§ 2 Abs. 3) „eindeutig“[20] als Blankettstrafgesetz, der 5. Strafsenat des BGH[21] und das BVerfG ordnen das Pflichtwidrigkeitsmerkmal im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG demgegenüber als ein („komplexes“[22]) normatives Tatbestandsmerkmal ein. Bezüglich des gesetzlichen Tatbestandes gem. § 16 Abs. 1 stehen nach wie vor kategorisierende Stellungnahmen in der Rechtsprechung aus.

Teil 1 Einführung in die Problematik › B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

5

Die Rechtsnatur des Pflichtwidrigkeitsmerkmals aus § 266 Abs. 1 wird in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorsatzes („gesetzlicher Tatbestand“, § 16 Abs. 1 S. 1) erörtert. Durch den verweisenden Charakter des Pflichtwidrigkeitsmerkmals auf Vermögensbetreuungspflichten, die ihrerseits von unterschiedlichem Bestimmtheitsgrad geprägt und von verschiedenen Rechtssubjekten begründet (Private) bzw. erlassen (nationaler oder ausländischer Gesetzgeber) sein können, erfährt seine dogmatische Kategorisierung jedoch auch unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG („Garantietatbestand“) Relevanz.[23]

Teil 1 Einführung in die Problematik › B › I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

6

Die dogmatische Erfassung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist für die Funktion des Tatbestandes relevant, diejenigen Merkmale zu beschreiben, deren Unkenntnis vorsatzausschließend ist.[24] Die Pflichtwidrigkeit der untreuerelevanten Handlung muss nach § 15 vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Unbeantwortet bleibt insoweit allerdings, was der vorsatzrechtliche Bezugspunkt – der Gegenstand – des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist. Im Unterschied zum normativen Tatbestandsmerkmal, bei dem der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes – hier die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht – nach Laienart richtig erfassen muss,[25] sind im Fall der Qualifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals als Blankett nach h.M. geringere Anforderungen an den Vorsatz zu stellen. Ausreichend ist es, dass der Täter Kenntnis von den strafbarkeitsbegründenden bzw. pflichtwidrigkeitsbegründenden Tatsachen hat.[26] Dem entspricht nach überwiegender Ansicht die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als ein tatbewertendes Merkmal: Der Täter muss zwar das rechtlich missbilligte Risiko, nicht aber dessen rechtliche Missbilligung erkannt haben.[27]

7

In der Rechtsprechung wurde im vorsatzrechtlichen Zusammenhang auf eine dogmatische Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals bislang verzichtet. Lediglich als Indiz kann die rechtliche Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit der Untreue seitens der Gerichte gewertet werden. Wird ein solcher Irrtum als Tatbestandsirrtum[28] eingestuft, spricht dies für die Einordnung als normatives Tatbestandsmerkmal. Wird auf ihn hingegen die Rechtsfolge des § 17 angewendet,[29] liegt die Kategorisierung als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal nahe.

Näher hat sich der 3. Strafsenat des BGH im Mannesmann-Urteil zur Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit geäußert. Dort führt er aus:

„Je nach dem Stand ihrer (Un-)Kenntnis von den Tatsachen und der eigenen (Fehl-) Bewertung ihres Verhaltens könnten [die Angeklagten] in einem den Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) oder in einem vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gehandelt haben. Die Abgrenzung im Einzelnen dürfte sich als schwierig erweisen, wie dies bei Tatbeständen mit stark normativ geprägten objektiven Tatbestandsmerkmalen (hier in § 266 Abs. 1 StGB die Verletzung der Pflicht, die Vermögensinteressen wahrzunehmen) häufig der Fall ist und gerade für den zu beurteilenden Sachverhalt auch durch entgegen gesetzte Stellungnahmen in der Literatur belegt wird.“[30]

8

Die Pflichtverletzung des § 266 stellt laut BGH ein „stark normativ geprägt[es] objektives Tatbestandsmerkmal“[31] dar. Prima vista fasst der BGH damit die Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal auf. Allerdings sagt die Normativität eines Tatbestandsmerkmals noch wenig über den Charakter des Merkmals aus. Auch Blankett- bzw. tatbewertende Merkmale sind insofern „normativ“, als sie durch die Hinzunahme einer außertatbestandlichen Wertung auszufüllen sind. Zudem stimmt die Einordnung der Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal nicht mit den Ausführungen des BGH zum Irrtum über die Pflichtverletzung überein:

„Die Annahme etwa, dass jede (worin auch immer begründete) fehlerhafte Wertung, nicht pflichtwidrig zu handeln, stets zum Vorsatzausschluss führt, weil zum Vorsatz bei der Untreue auch das Bewusstsein des Täters gehöre, die ihm obliegende Vermögensfürsorgepflicht zu verletzen, kann nicht überzeugen. Umgekehrt könnte der Senat auch der Auffassung nicht folgen, dass es für die Bejahung vorsätzlichen Handelns ausreicht, wenn der Täter alle die objektive Pflichtwidrigkeit seines Handelns begründenden tatsächlichen Umstände kennt und dass seine in Kenntnis dieser Umstände aufgrund unzutreffender Bewertung gewonnene fehlerhafte Überzeugung, seine Vermögensbetreuungspflichten nicht zu verletzen, stets nur als Verbotsirrtum zu werten ist.“[32]

Der Irrtum darüber, nicht pflichtgemäß zu handeln, führt nach Auffassung des 3. Strafsenats also keineswegs stets zu einem Tatbestandsirrtum. Dies wäre hingegen die zwingende Folge des Irrtums über ein normatives Tatbestandsmerkmal. Der BGH ist vielmehr geneigt, diesen Irrtum als Verbotsirrtum zu bewerten:[33]

„War den Präsidiumsmitgliedern – was allerdings kaum anders vorstellbar sein dürfte – bewusst, dass die Sonderzahlungen für die Mannesmann AG in der gegebenen Situation (Übernahme des Unternehmens durch Vodafone und Ausscheiden von Dr. Esser) ohne jeden Nutzen war, so dürfte ihre irrige Annahme, zur Bewilligung der Prämien gleichwohl berechtigt gewesen zu sein, den Vorsatz unberührt lassen und lediglich einen Verbotsirrtum begründen.“[34]

Deutet man die Kenntnis von der Nutzlosigkeit der Sonderzahlung als ausreichende, „laienhafte“ Bewertung des Tatbestandsmerkmals „Pflichtverletzung“,[35] entspräche das Vorstellungsbild der Täter nicht nur den vorsatzrechtlichen Voraussetzungen eines Blankett- bzw. tatbewertenden Merkmals, sondern zugleich denen eines normativen Tatbestandsmerkmals. Zu dieser Sachverhaltsinterpretation – ohne dies als Revisionsinstanz feststellen zu müssen[36] – neigt der 3. Strafsenat:

„Wer als Verwalter fremden Vermögens in Kenntnis seiner Vermögensfürsorgepflicht eine Maßnahme trifft, die dem Inhaber des betreuten Vermögens keinen Vorteil bringen kann und deswegen einen sicheren Vermögensverlust bedeutet, kennt nicht nur die Tatsachen, die rechtlich als Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht zu bewerten sind. Er weiß, weil das Verbot, alles das Vermögen sicher und ausnahmslos Schädigende zu unterlassen, zentraler Bestandteil der Vermögensfürsorgepflicht ist, vielmehr zugleich auch, dass er diese seine Pflicht verletzt.“[37]

Die Vorstellung der Täter, gleichwohl zur Gewährung von Anerkennungsprämien in genanntem Umfang berechtigt zu sein, fiele dann – wie der 3. Strafsenat zutreffend anmerkt[38] – in den Anwendungsbereich des § 17 und wäre Verbotsirrtum.

9

Der Rückschluss von der Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit in der Rechtsprechung auf die zutreffende Begriffskategorie des Pflichtwidrigkeitsmerkmals kann aber im Allgemeinen nur ein schwaches Indiz darstellen. Nicht sonderlich aussagekräftig ist er deshalb, weil zum einen nicht unerhebliche Unterschiede im Begriffsverständnis normativ geprägter Tatbestandsmerkmale bestehen können[39] und zum anderen die gängigen Irrtumsregeln der entsprechenden Tatbestandsmerkmale von der Rechtsprechung nicht konsequent angewendet werden. So wird § 370 AO zwar als Blankettstrafgesetz identifiziert („Steuerstrafrecht ist Blankettstrafrecht“[40]), Anwendung finden jedoch die Irrtumsfolgen eines normativen Tatbestandsmerkmals.[41]

Da sich der 3. Strafsenat des BGH ohnedies eines Rückgriffs auf „einfache“ Formeln ausdrücklich verschließen möchte, wird man aus der Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit keinen zulässigen Schluss auf die möglicherweise zugrunde liegende dogmatische Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ziehen dürfen. Im Gegenteil, eine solche Handhabung könnte der vom Senat eingeforderten „differenzierenden“ Betrachtung widersprechen.

Teil 1 Einführung in die Problematik › B › II. § 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)